Russische Literatur - Russische Revolution (eBook)

Puschkin - Tolstoi - Dostojewskij - Fadejew - Makarenko - Scholochow - Solschenizyn
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2018 | 1. Auflage
328 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10962-3 (ISBN)

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Russische Literatur - Russische Revolution -  Georg Lukács
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? Puschkin Puschkins Platz in der Weltliteratur ?Boris Godunow? ? Tolstoi Tolstoi und die Probleme des Realismus Tolstoi und die westliche Literatur ? Dostojewskij ? Der große Oktober 1917 und die heutige Literatur ? Fadejew ?Die Neunzehn? ? Makarenko ?Der Weg ins Leben? ? Scholochow ?Der stille Don? ?Neuland unterm Pflug? ? Solschenizyn ?Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch? ? Enzyklopädisches Stichwort: Auch Literaturrevolution ist politische Praxis ? Quellennachweis ? Personen- und Sachregister ? Verzeichnis der erwähnten Werke

Georg Lukács (1885-1971) war ein ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker.

Georg Lukács (1885–1971) war ein ungarischer Philosoph, Literaturwissenschaftler und -kritiker.

2. ‹Boris Godunow›


Puschkin ist einer der volkstümlichsten russischen Dichter. Durch Jahrzehnte hindurch war sein ‹Eugen Onegin› eines der meist gelesenen Bücher, und es gab kaum ein zweites russisches Werk, das von so großem Einfluß auf die künstlerisch verfeinerte Literatur gewesen wäre. Dennoch existiert auch heute noch außerhalb der Grenzen der Sowjetunion kein wahres, vollkommenes Bild von Puschkin. Und das hauptsächlich deshalb, weil Puschkin für das Publikum der Dichter des ‹Eugen Onegin› blieb, weil seine Lyrik und Prosa-Epik, seine Dramen und literarischen Gedanken kaum irgend jemandem bekannt waren. Teilweise auch deshalb, weil selbst ‹Eugen Onegin› meist in falscher Beleuchtung, als eine Byroniade vor dem Publikum steht. Dies entspricht aber keineswegs dem Wesen des Werkes. Der überwiegende Teil der Leser sieht nicht die Objektivität des großen Romans, die Belinskij mit Recht dazu veranlaßte, ‹Eugen Onegin› die Enzyklopädie des russischen Lebens zu nennen; ein großer Teil des Publikums sieht weder die Volkstümlichkeit der Gestalten, geschweige die des Dichters, die hinter der blasierten Ironie der Haupthelden steht.

Deshalb ist es nützlich und wichtig, wenn auch die anderen außerordentlich bedeutenden Werke Puschkins übersetzt werden.

‹Boris Godunow› ist Puschkins bedeutendstes Drama. Den Platz des Dramas in des Dichters Lebenslauf zu bestimmen, ist nicht schwer. Es ist bekannt, daß Puschkin wegen seiner scharf kritischen Gedichte vom Zarismus aus der Hauptstadt verbannt wurde. Puschkin verbrachte sehr wichtige Jahre seiner Entwicklung im Kaukasus, in der Moldau, später auf dem väterlichen Gut in Michailowskoje. Hier, in seinem Heimatort, lebte Puschkin vom Jahre 1824 an, und hier schrieb er den ‹Boris Godunow›. Die Tragödie wurde also kurze Zeit vor dem Ausbruch des Dekabristenaufstandes begonnen und beendet. Die Reaktion, die auf die Niederschlagung der Revolution folgte, verhinderte das Erscheinen von ‹Boris Godunow›, die Tragödie erschien erst 1831 in stark zensurierter Form. Eine Aufführung konnte Puschkin nicht mehr erleben.

Die Entstehung von Puschkins größtem dramatischen Werk fällt nicht zufällig mit dem Dekabristenaufstand zusammen, dem ersten Versuch, das feudal-absolutistische Joch abzuwerfen. Die Mitglieder der Verschwörung stammten, wie Puschkin, vorwiegend aus dem fortschrittlichsten, europäischen, radikalsten Teil des russischen Adels. Puschkin selbst gehörte nicht der illegalen Organisation der Dekabristen an; deshalb konnte er ihrem Schicksal entgehen: dem Galgen oder der Hölle der sibirischen Gruben. Aber, wenn Puschkin auch keine organisatorische Bindung zu den Dekabristen hatte, so waren seine ideellen Verbindungen zu ihnen um so inniger. Als die zaristische Polizei nach der Niederwerfung des Aufstandes die Schriften der Dekabristen durchsuchte, gab es fast keinen führenden Kopf, bei dem sich nicht Kopien zahlreicher, nur im Manuskript verbreiteter Gedichte von Puschkin vorgefunden hätten. Außerdem war es allbekannt, daß Puschkin zu den meisten führenden Dekabristen in intimer freundschaftlicher Beziehung stand. Diese Verbindungen leugnete Puschkin nie. 1826 berief Zar Nikolaus den Dichter zu sich und stellte ihm offen die Frage: was er getan hätte, wenn er am 14. Dezember (dem Tage des Aufstandes) in Sankt Petersburg gewesen wäre? Auf die entschiedene Frage antwortete Puschkin ebenso entschieden: daß er sich bestimmt in den Reihen der Aufständischen befunden hätte. Der Zar, der sich vor der öffentlichen Meinung fürchtete und nicht wagte, gegen den größten und volkstümlichsten Dichter des Landes polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen, preßte Puschkin in diesem Gespräch das Versprechen ab, in Zukunft seinen Standpunkt zu ändern.

Dieses erzwungene Versprechen löste Puschkin so ein, wie der Zar es verdiente. Unter den Schranken der brutalen Unterdrückung, der strengen Zensur setzte sich Puschkin – in einer durch die Verhältnisse diktierten Form – ebenso mutig für die Ideen der Freiheit, der nationalen Befreiung ein, wie er es vor dem Aufstand getan hatte.

Indessen, so eng die Fäden auch gewesen sein mögen, die Puschkin mit der ersten modernen russischen Befreiungsbewegung verbanden, man kann ihn doch nicht einfach und unbedingt mit den Dekabristen identifizieren. Der große Dichter verhielt sich zu allen Fragen viel freier, er hatte eine viel weitere Perspektive als die meisten seiner adlig-revolutionären Kampfgenossen. Als Lenin die Gründe untersuchte, weshalb der Dekabrismus zusammenbrechen mußte, betonte er in erster Linie das vollkommene Fehlen einer engen Verbindung mit dem Volke selbst, obwohl das Ziel der Bewegung darauf gerichtet war, den Interessen des Volkes zu dienen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist Puschkins Dichtung nicht einfach die des Dekabrismus, sondern geht weit darüber hinaus: in der Form, in der Sprache, in den Motiven und Gestalten hängt sie auf das engste mit dem Volksleben zusammen, ihr Geist ist ein wirklicher, tief im Volksleben verwurzelter Demokratismus.

Dieser Geist gibt den Schlüssel zum Verständnis der gesamten Puschkinschen Dichtung. Wir denken hier freilich nicht nur an die Gestalt Pugatschows, sondern an die ganze Hauptrichtung Puschkins. Namentlich das Hinausgehen über den Byronismus schöpft seine Kraft gerade aus dieser Volkstümlichkeit. Puschkin identifiziert sich nicht mit seinen «Byronschen» Gestalten, wie dies der englische Dichter getan hatte, sondern kritisiert sie im Gegenteil sehr scharf, gerade von einem aus dem Volksleben geschöpften moralischen Standpunkt aus; denken wir an die Gestalt des Aleko in ‹Zigeuner›, an das Verhältnis Onegins zu Tatjana usw. Dieser volkstümliche Geist bestimmt Puschkins Kritik am Feudalismus und feudalen Absolutismus besonders in seiner reifen Zeit. Diese tiefe Verbundenheit mit dem Volksleben ist auch der Grund dafür, daß Puschkin selbst in der düstersten Epoche, nach der Niederwerfung des Dekabrismus, nie pessimistisch wird.

Dieser Geist lenkt somit auch Puschkins dichterische Entwicklung. Die Weltanschauung seiner Jugendzeit wird durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts bestimmt. Die im 19. Jahrhundert eng gewordenen Grenzen dieser Weltanschauung durchbricht Puschkin bald, aber auch dieser Durchbruch versucht, den Weg vom höfischen und formalen Aristokratismus der Aufklärung zum tieferen Verständnis des Volkes zu finden, zu jener Dichtung, die aus dem Volksleben hervorquillt. Auf diesem Wege war Byrons mutige Gesellschaftskritik für Puschkin eine große Hilfe. Dies konnte jedoch nur der Übergang zu einer neuen Epoche sein, zu einer Dichtung, die dem tieferen Verständnis jener neuen Periode entsprang, welche auf den Sieg der Französischen Revolution folgte. Es ist kein Zufall, daß unter den Dichtern der Übergangszeit Byron die tiefste Wirkung auf Puschkin hatte. Es ist schon deshalb kein Zufall, weil Byron zu jenen gehört, die nie mit der Aufklärung gebrochen haben, deren Stellungnahme gegen die eigene Zeit in keinerlei Zusammenhang mit irgendwelchen romantischen Restaurationsströmungen steht. Und für Puschkin ist charakteristisch, daß er – ebenso wie seine älteren großen Zeitgenossen Goethe und Hegel – dieser Strömung nie Konzessionen gemacht hat. So wie Goethe und Hegel ging er über die Ideen der Aufklärung hinaus, verwarf sie aber nie, wie es die romantische Reaktion dieser Zeit in Mode brachte.

Die Wirkung Byrons auf Puschkin konnte nur vorübergehend sein. Wir haben schon auf die Volkstümlichkeit als wichtigstes Moment für diese Trennung hingewiesen. Damit steht Puschkins leidenschaftliches Bestreben im engen Zusammenhang, im dichterischen Werk nicht nur den historischen Geist widerzuspiegeln, sondern gleichzeitig auch die objektive Schönheit. Literarisch sind Walter Scott und Shakespeare die Initiatoren und Schutzpatrone dieses Bestrebens.

Das Auftreten Walter Scotts bedeutet eine Wendung in der Weltliteratur: die welthistorische Grundlage und das Vorspiel seines bewußten Historismus und auch all seiner dichterischen Schöpfungen ist das literarisch zusammengefaßte Erlebnis der Französischen Revolution und der Napoleonischen Zeit. Walter Scotts Weltwirkung beruht gerade darauf, daß er der erste war, der diese Erlebnisse beispielgebend gestaltete. Hier fehlt uns der Raum, diese Wirkung auch nur annähernd zu umschreiben. Sicher ist aber, daß dieses entscheidende Erlebnis in der Epoche nach Walter Scott bei Manzoni, Balzac und Puschkin den intensivsten und adäquatesten Ausdruck fand. Bei Balzac wächst auf dem Boden dieses neuen historischen Geistes die ‹Menschliche Komödie›. Puschkin hat Balzac nie geliebt. Was bei Balzac neu und großartig war, hatte in Puschkins Schaffen keinen Raum. (Balzacs Einwirkung beginnt in Rußland erst, als die kapitalistische Entwicklung die alte «patriarchalische» Gesellschaft zu zersetzen beginnt, also bei Tolstoi und Dostojewskij.) Manzoni und Puschkin sind schon eher Parallelerscheinungen: sie poetisieren den Historismus Walter Scotts, verbinden ihn mit der vertieften Zeichnung des individuellen Lebens, ohne dabei die geschichtliche Objektivität abzuschwächen. Freilich ist die italienische Geschichte der russischen ganz entgegengesetzt. Die Geschichte Italiens ist die ständige Verhinderung des Zusammenschlusses zu einer Nation, das ununterbrochene Ersticken jeden Aufwärtsstrebens durch kleinliche partikulare Kämpfe, ausländische Einmischungen, das Unterworfen-Werden unter Fremdherrschaften. Dieser Charakter der italienischen Geschichte setzt Manzonis dichterischem Historismus eine Schranke. Im Gegensatz hierzu ist die russische Geschichte, auch in ihren finstersten Zeiten, die Geschichte der Nationwerdung eines Volkes. Der Strom dieser Geschichte trägt Puschkin und...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2018
Reihe/Serie Lukács: Ausgewählte Schriften
Lukács: Ausgewählte Schriften
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Slavistik
Schlagworte Oktoberrevolution • Schriftsteller • Sowjetunion
ISBN-10 3-688-10962-7 / 3688109627
ISBN-13 978-3-688-10962-3 / 9783688109623
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