»Lieber Freund, uns haben sie falsch geboren« -  Kurt Tucholsky

»Lieber Freund, uns haben sie falsch geboren« (eBook)

Kurt Tucholskys Briefe an Walter Hasenclever

(Autor)

Dieter Mayer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
281 Seiten
Verlag Ille & Riemer
978-3-95420-126-6 (ISBN)
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Der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890-1935) und der expressionistische Schriftsteller Walter Hasenclever (1890-1940) gehören zu den prägenden Figuren des kulturellen Lebens der Weimarer Republik. Beide verband eine langjährige Freundschaft Walter Hasenclever wurde einer der der wichtigsten literarischen Briefpartner Tucholskys seit dessen Entschluss im September 1932, künftig alle journalistischen Aktivitäten einzustellen. Aus den Briefen an Hasenclever können wir erfahren, worüber und wie Tucholsky in seinen drei letzten Lebensjahren nachgedacht, was er erwartet und befürchtet, wie sich seine Stimmungslage eingetrübt hat, und wir erfahren auch, dass der Kreis jener Personen, mit denen er sich fortan noch austauschen wollte, deutlich kleiner geworden war. Diese Ausgabe aller Briefe Tucholskys an Walter und Marita Hasenclever wird durch Hinweise zur Briefpartnerschaft und Angaben zu Schreibanlass und -absicht des jeweiligen Briefes ergänzt. Die Anmerkungen gehen weiterhin auf Themen, Ansichten und Urteile ein, die Tucholsky vor allem von 1933 an beschäftigt haben. Dies ist vor allem deshalb sehr hilfreich, weil zu Tucholskys gedanken- und oft umfangreichen Briefen an Hasenclever die Gegenbriefe nicht erhalten sind, weil Hasenclever immer wieder darauf gedrungen hat, seine Schreiben nach ihrer Lektüre umgehend zu vernichten - woran sich sein Briefpartner strikt hielt. Gerade in der Zeit seines öffentlichen Verstummens zeigen die Briefe Tucholskys eindrucksvoll, dass sein wacher Blick auf die deutschen Verhältnisse nichts von seiner Scharfsinnigkeit verloren hat. Und die Briefe an Hasenclever lassen eine Bedeutung des Briefpartners für Tucholsky erkennen, die viel zu oft unterschätzt wird.

Einleitung


Kurt Tucholsky hatte sich, wie in einigen Briefen an Mary Gerold nachzulesen ist, in den ersten Monaten nach seiner Rückkehr aus dem Polizeidienst in Rumänien am 20. November 1918 in Berlin politisch wie beruflich weitgehend orientierungslos gefühlt. Seine Geburtsstadt bezeichnete er zunächst als ‚Wartesaal vierter Klasse‘2. Das Berliner Tageblatt des Mosse Verlags, in dem er seit Mitte August 1918 einige Artikel untergebracht hatte, bot ihm die Chefredaktion der Wochenzeitung Ulk an, die er nun übernahm. Seine eigentliche journalistische Heimat blieb jedoch auch in den Jahren nach der Revolution Jacobsohns Weltbühne, in der neben zahlreichen Artikeln vom 9. Januar 1919 bis zum 22 Januar 1921 seine umfangreiche achtteilige Serie Militaria erschien, eine gründliche Abrechnung mit der Gesamtsituation im Heer des Kaiserreichs. Friedrich Ebert, seit dem 10. November 1918 Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten, hatte, um die Gefahr einer Revolution der radikalen Linken zu verhindern, mit Groener, dem Generalstabschef der Truppen nach der Kapitulation, eine Übereinkunft getroffen, die sich als verhängnisvoll für die sich formende Weimarer Republik erwies. Groener gab darin als Chef des Heeres eine Legalitätserklärung für eine von Ebert geführte Regierung ab. Als Gegenleistung verlangte er die Zusicherung, dass im Heer des neuen Staates das bisherige Offizierskorps die Kommandogewalt behielt, um eine disziplinierte Rückführung des Heeres nach Deutschland zu ermöglichen. Auf diese Weise sicherte Groener die Aufnahme vieler Offiziere des Kaiserreichs in das künftige Heer ab.

Welche Folgen für die Einstellung und auch Handlungsweise der aus dem kaiserlichen Heer übernommenen Offiziere in der weimarer Republik hatte, schilderte und beurteilte Tucholsky bei Besuchen von Prozessen der Jahre 1919 und 1920, so etwa bei der Verhandlung eines Kriegsgerichts gegen Oberleutnant Otto Marloh im Dezember 1919. Dieser hatte eine größere Zahl von Mitgliedern der Volksmarinedivision, die in Kiel im November 1918 gegründet worden war und keine Offiziere aufnahm, auf Rat seiner Vorgesetzten erschießen lassen, wurde aber von der Anklage des Totschlags freigesprochen und aus der Haft entlassen. Tucholsky berichtete zunächst am 5.12.1919 in der Berliner Volks-Zeitung kritisch über den Ablauf des Prozesses und dann am 18.12. ausführlich In der Weltbühne. Er verwies hierbei auf seine mehrteilige Artikelserie Militaria, die zwischen Januar und August 1919 erschienen war und eine heftige Diskussion in der Presse ausgelöst hatte. Im Bericht Prozeß Marloh nach dem Urteil schrieb Tucholksy3

Die Beurteilung dieses Mordes kann nur erfolgen, wenn man die Welt, aus der er hervorgegangen ist, genau kennt. Diese Welt ist skrupellos, tief unwahrhaftig und von einem großen Teil des deutschen Volkes heute noch verehrt und geschätzt. (…)4
Das deutsche Volk, in einer beispiellosen Katastrophe zusammengebrochen, die es zur guten Hälfte selbst verschuldet hat, befindet sich heute in schwerem wirtschaftlichen Niedergang5 (…) Und hier möchte ich aufnehmen, was ich anfangs andeutete: Es scheint aussichtslos. Wir kämpfen hier gegen das innerste Mark des Volkes, und das geht nicht. Es hat keinen Sinn, die Berichte Punkt um Punkt durchzugehen, hier WiderSprüche nachzuweisen und da Lügen, Roheiten und Minderwertigkeiten. (…)
Ich resigniere. Ich kämpfe weiter, aber ich resigniere. Wir Stehen hier fast ganz allein in Deutschland – fast ganz allein.

Dennoch war Tucholsky gewillt, diesen Prozess nicht grundsätzlich hinzunehmen und künftig zu schweigen:

Trotz alledem: wir wollen doch sehen daß man ihn als Abbruch verkauft. Das Ziel ist fern. Aber es gibt eins.6

Auch kritisierte Tucholsky die weitgehende Übernahme der kaiserlichen Verwaltung, vieler Lehrer, Universitätsprofessoren und vor allem der bisherigen Justiz in den jungen Staat. Immer wieder forderte er bis zum Beginn der dreißiger Jahre in einer Vielzahl von journalistischen Arbeiten und auch bei seiner Mitarbeit in pazifistischen Organisationen eine umgehende Korrektur der die Demokratie massiv belastenden Gründungsfehler. Dies trug ihm zahlreiche Angriffe konservativer, nationalistischer und später auch nationalsozialistischer Gruppen ein. Wiederholt musste Tucholsky aus diesem Grund juristische Verfahren durchstehen. Bereits in seinem frühen Aufsatz Wir Negativen7 antwortete er seinen Kritikern:

(…) damit wir in der Welt geachtet werden, müssen wir zunächst zu Haus gründlich rein machen .Beschmutzen wir unser eigenes Nest? Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen8
(…) Blut und Elend und Wunden und zertretenes Menschentum – es soll wenigstens nicht umsonst gewesen sein. Laßt uns auch weiterhin Nein sagen, wenn es not tut.9

Bis zu seinem späten Resümee in der Schrift Deutschland, Deutschland, über alles10 hat Tucholsky für die Demokratisierung der ersten deutschen Republik gekämpft; er legte – zusammen mit Ossietzky – in der Weltbühne eine Reihe von Verstößen gegen den Versailler Vertrag offen und setzte sich in seinen Jahren als Korrespondent in Frankreich für die Aussöhnung der benachbarten Staaten auf vielfältige Weise ein.

Bereits im Jahr 1922 publizierte Tucholsky in der Weltbühne und der Welt am Montag eine dichte Folge von Forderungen, welche die Weimarer Republik von gravierenden Fehlentwicklungen befreien sollten; diese hatten in den vier Jahren seit ihrer Gründung eine durchgreifende Demokratisierung verhindert. Am 2. Januar erschien sein Aufsatz Wehrpflicht – hintenrum11, in dem er den Reichstag aufforderte, eine Gesetzesvorlage, ausgearbeitet vom Reichsausschuß für deutsche Leibesübungen, abzulehnen, weil damit alle Deutschen bis zur Volljährigkeit zu körperlichen Übungen verpflichtet werden sollten:

Was hier, ganz leise und heimlich heranschleicht, ist nichts mehr oder weniger als ein neues Wehrpflichtgesetz.12

Er forderte: Zu seinem Wiederaufbau braucht Deutschland vor allem einmal viele Generationen, die gar nicht wissen, was eine Dienstpflicht ist. Wir haben genug von ‚gedienten Leuten‘. Das Gesetz muß – im Namen der Freiheit – verschwinden..13

Zum gleichen Problem äußerte er sich erneut nach einigen Monaten:

Wir wollen keine neue Wehrpflicht! Wir wollen keine neuen Kasernenhöfe! Wir wollen keine neue Generalität! Wir wollen Arbeit, Stetigkeit und Frieden! Ab mit Ludendorff und Konsorten! Und dann sehen wir uns um und fragen:
Was tut die Republik für die Republik-?14

In gleicher Weise kritisierte Tucholsky Einstellung und Verhalten der vom Kaiserreich übernommenen Beamtenschaft:

Daß der Beamte aber auch ein Teil der Nation ist, daß er ein Symptom und kein Urphänomen ist, und daß jeder Beamte den andern Beamten gegenüber wiederum Bürger ist: das hat sich noch nicht herumgesprochen (…) Er ist also nichts als jeder andre Deutsche auch (…) Die Wollust, regieren zu dürfen und das Äquivalent für die gebotene Nachgiebigkeit dem ‚Vorgesetzten‘ gegenüber hundert Petenten in den Rücken treten zu dürfen, bringt einen eigenen Geisteszustand hervor, der jene Mischung zum Nero und einem Zigarrenhändler in die Welt gesetzt hat.15

Mit besonderer Schärfe wandte sich Tucholsky nach der Ermordung Erzbergers (26.8.1921) und Rathenaus (24.6.1922) durch nationalistische Täter, und wenig später nach dem Attentat auf Harden in einem umfangreichen Bericht über den mehrtägigen Prozess im Dezember 1922 vor einem Berliner Schwurgericht gegen die Denkweise, Verhandlungsführung und Urteilsfindung jener Richter, die offen nationalkonservativ agierten:

Das muß man gesehen haben. Da muß man hineingetreten sein. Diese Schmach muß man drei Tage an sich vorüberziehen lassen: dieses Land, diese Mörder, diese Justiz.(…)
Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr.16

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist Tucholsky gelegentlich vorgeworfen worden, er habe mit seinen journalistischen Artikeln der Weimarer Republik mehr geschadet als genützt und zu ihrem Untergang beigetragen, er sei ein ‚Nestbeschmutzer‘, wie etwa auch Karl Kraus. Einer mit dieser Ansicht ist Golo Mann gewesen.17 Auch habe Tucholsky viel kritisiert, aber keine praktikablen Vorschläge unterbreitet, auf welche Weise die Gründungsfehler des Nachkriegsstaates zu beseitigen wären. Dass diese Ansicht den Tatsachen nicht entsprochen hat, beweist der Aufsatz. Die zufällige Republik, veröffentlicht in der Weltbühne kurz nach der Ermordung Rathenaus und dem Attentat auf Harden im Juli 1922. Ein Ausschnitt mag das belegen:

Die Republik wird entweder anders sein als heute, oder sie wird nicht sein. Die Minimaltemperatur, bei der sie gerade noch leben kann, ist erreicht(…)18

Und dann formuliert Tucholsky seine Forderungen:

1. Umwandlung der Reichswehr in eine Volksmiliz (…)

2. Entmilitarisierung der Schutzpolizei (…)

3. Reformierung der Justiz – ganz besonders der Staatsanwaltschaften (…)

4. Demokratisierung der Verwaltung (…)

5. Stärkung des Reichs den Ländern gegenüber (…)

6. Völlige Umformung der Lehrkörper auf Schulen und Hochschulen (…)

7. Sofortige Amnestie für die politischen Häftlinge aller Art, soweit sie republikanisch sind (….)

(….)

8. Vor...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-95420-126-7 / 3954201267
ISBN-13 978-3-95420-126-6 / 9783954201266
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