Reisender Stillstand (eBook)

Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum
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2017 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490760-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Reisender Stillstand -  Bernd Stiegler
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Dies kein Buch für Stubenhocker, Agoraphobe oder Reisemuffel. Und dennoch geht es um eine besondere Art von Stubenhockern: um Zimmerreisende. Das sind Menschen, die einen oder mehrere Tage lang ihr Zimmer regelrecht bereisen, sowie ihre Verwandten, die es immerhin bis hinaus auf die Straße bringen. Unendliche Weiten der Nähe tun sich auf, die mit einem Blick erforscht werden, als hätte man die vertrauten Räume nie zuvor gesehen. Das Buch ist ein reich illustrierter historischer Reiseführer durch einen Topos der Literatur mit Gefährten wie de Maistre, Kierkegaard, Baudelaire, Robbe-Grillet, Handke, Borges, Cortázar und gibt Einblick in die über zweihundertjährige Geschichte einer Fortbewegungsart, die, ohne vom Fleck zu kommen, vieles in Bewegung setzt. »stilistisch souverän und mit umfassender Bildung« Ronald Düker, Die Zeit »Eine geistreiche, höchst anregende Lektüre, die ganze Regale von Reiseführern ersetzt.« Marion Lühe, Die Welt »eine wunderbare Kulturgeschichte, eine kurzweilige Räume erschließende Erkundungsfahrt durch einen Topos der Literatur« Ulrich Rüdenauer, Der Tagesspiegel »ein gescheites und kurzweiliges Sachbuch« Karl-Markus Gauß, Die Presse

Bernd Stiegler,geboren 1964, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München, Paris, Berlin, Freiburg und Mannheim. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Seit Herbst 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20.¿Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Zuletzt sind von ihm im S.Fischer Verlag erschienen ?Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum? (2010) sowie ?Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina? (2012).

Bernd Stiegler,geboren 1964, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München, Paris, Berlin, Freiburg und Mannheim. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Seit Herbst 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20.¿Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Zuletzt sind von ihm im S.Fischer Verlag erschienen ›Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum‹ (2010) sowie ›Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina‹ (2012).

Erste Etappe Die Reise um das Zimmer


»Nirgendwo anders als bei sich selbst nach dem Geheimnis des Glücks suchen«

Abbé Gresset, Vert-Vert (1733), Motto der ersten Ausgabe von de Maistres Voyage autour de ma chambre

»Wie viele Menschen sind schon gereist ohne jemals ihr Zimmer verlassen zu haben«

Perin, Frontispiz

»Bei manchem zutiefst wissenschaftlichen Autoren hab ich gelesen, daß wer zuviel reist, der geht verloren«

Journal de Paris, 977 und Jaquet, 43

Im Frühjahr 1790 macht Xavier de Maistre, der Bruder des konservativen Staatstheoretikers Joseph de Maistre, aus einem Hausarrest das Beste und unternimmt eine 42tägige Zimmerreise, von der er in einem detaillierten Reisebericht Auskunft gibt, der zu einem überaus erfolgreichen Text der französischen Literatur werden sollte und zugleich ein eigenes Genre der Literatur begründete. De Maistre war jedoch keineswegs so reisescheu, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Er war kein Stubenhocker, sondern im Gegenteil welt-gewandt und auch technischen Innovationen gegenüber auf-geschlossen. Zusammen mit seinem Bruder Joseph unternahm er einen Aufstieg in einer Montgolfière, berichtete darüber in zwei Artikeln und war zudem Zeit seines Lebens viel unterwegs – nicht selten jedoch aus politischen Gründen.

Noch heute findet sich seine Voyage autour de ma chambre in -diversen Ausgaben und Übersetzungen und dient sogar als Gegenstand von Interpretationen im schriftlichen Abitur: ein klassischer Text, dessen Erfolg rasch, aber zumindest für den Autor unerwartet einsetzte, und der sich auch darin zeigt, daß viele Texte die Idee aufnahmen und weiterspannen. Bereits am 16. 2. 1803 wurde eine erste Vaudeville-Komödie von René Perin im Théâtre de l’Ambigu Comique in Paris aufgeführt, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts gleich mehrere folgen sollten, und schon wenige Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe finden sich zahlreiche Bücher und Reiseberichte nach ihrem Vorbild. Selbst de Maistre war ein wenig überrascht von dem Erfolg seines Buches. Am 31. 12. 1799, also zum Jahrhundertwechsel, schreibt er an seinen Bruder Joseph über seinen kolossalen Erfolg: »Ich habe es überall gefunden: es ist ins Deutsche übersetzt. Daraus wurde ein anderes Buch mit dem Titel Zweite Reise um, usw. ebenfalls übersetzt. Das ist sehr schön, und ein drittes nach diesem Vorbild: Reise durch meine Taschen, mittelmäßig« (de Maistre, Lettres, Bd. 1, 60). Viele Jahre später wird er selber eine Art Fortsetzung schreiben: eine Expédition nocturne autour de ma chambre, die aber nun nur noch eine Nacht dauert. Auch Charles Nodier kommentiert süffisant den Erfolg dieser neuen Reiseliteratur: »Seit langer Zeit wird nichts anderes mehr gedruckt als Bücher über Reisen oder für Kinder. Haben Sie Voyage autour de ma chambre, Le Voyage autour de vingt-quatre heures, Le Voyage au Palais-Royal, Le Voyage dans le boudoir de Pauline, Le Voyage dans mes poches […] gelesen? Es ist eine regelrechte Manie.« (Nodier, zit. nach Sangsue, 166)

De Maistres schlankes Buch Voyage autour de ma chambre, das kaum hundert Seiten umfaßt, ist voller Anspielungen auf die Tradition des Reiseberichts, aber auch der Literatur. Einer-seits setzt er sich ironisch von seinerzeit überaus erfolgreichen Berichten von implizit wie explizit zitierten Entdeckungsreisenden ab, indem er sich andererseits auf die durch Laurence Sternes Sentimental Voyage unternommene Neuakzentuierung des Reiseberichts bezieht, dem es nun weniger um aufsehenerregende Entdeckungen und Erkundungen fremder Menschen, Tiere, Sensationen als vielmehr um die sensations des Reisenden selbst geht. Doch auch ihre Schilderungen sind in seinem Reisebericht nicht frei von Ironie. Eine jede Entdeckung – und von diesen ist viel die Rede – ist, ob sie sich nun auf das Objekt oder das Subjekt bezieht, immer auch ironisch gebrochen, ist immer auch eine Entdeckung dessen, was schon entdeckt worden ist. De Maistres Reise erkundet die längst bekannte Welt, indem er sie mit den Mitteln der reisenden und der ironischen Distanzierung erneut in den Blick nimmt.

Der Neuausgabe seines Buches im Jahr 1812 stellte er ein Vorwort voran, das explizit auf den Topos der Entdeckungsreise ironisch Bezug nahm: »Es ist keineswegs unsere Absicht, die Verdienste derjenigen Reisenden zu schmälern, die vor jener Reise die Welt umrundet haben, deren Entdeckungen und interessante Abenteuer wir nun abermals veröffentlichen. Magellan, Drake, Anson, Cook, usw., waren zweifelsohne bemerkenswerte Männer: jedoch ist es uns erlaubt und, wenn wir uns nicht sehr getäuscht haben, ist es gar unsere Pflicht, auf ein besonderes Verdienst der Voyage autour de ma chambre hinzuweisen, das dieses Buch über alle jene, die ihm vorangegangen sind, erhebt. Die berühmtesten Reisen können wiederholt werden: eine feine gestrichelte Linie zeigt uns die Route auf allen Weltkarten an; und es sei jedem freigestellt, sich auf die Spuren -dieser kühnen Männer, die die Reisen einmal selbst angetreten sind, zu begeben. Anders verhält es sich mit der Voyage autour de ma chambre. Sie ist ein für alle Mal gemacht und kein Sterblicher kann sich dessen rühmen, sie noch einmal anzutreten; umso mehr als die Welt, in der sie sich abspielte, nicht mehr vor-handen ist.« (de Maistre 1984, 27) Während, so suggeriert de Maistre in ironischer Zuspitzung, die Schiffspassagen der Entdeckungsreisenden wiederholt werden können, ist die Reise um das Zimmer nolens volens passagerer Natur, ist notwendig singulär und zugleich nicht wiederholbar. Die Erfahrungen der Zimmerreise sind nicht nur an den Ort, sondern auch an die Zeit gebunden, sind Erkundungen eines Raums, die darauf zielen, Geschichten und Erfahrungen wieder zu holen, ohne ihrerseits wiederholbar zu sein. Auch wenn de Maistres Zimmerreise bis hin zur Gegenwart zum Modell von sehr zahlreichen ähnlichen Reisen werden sollte, sind die Entdeckungen, die ein jeder dieser Reisenden macht, von dem jeweiligen Erfahrungsraum des Zimmers abhängig. Zimmerreisen erkunden Erfahrungsräume und machen diese zum Gegenstand eines Reise-berichts.

Der von de Maistre beginnt in klassischer Manier mit einer Ortsbestimmung: »Mein Zimmer liegt nach den Messungen von Padre Beccaria unter dem fünfundvierzigsten Breiten-grad; seine Lage zeigt von Osten nach Westen; es bildet ein Rechteck, das ganz nah der Wand sechsunddreißig Schritt im Umfang hat. Meine Reise«, so de Maistre weiter, »wird jedoch -deren mehr enthalten; denn ich werde in ihm oft ohne Plan und ohne Ziel hin und her und diagonal wandern.« (de Maistre, 11) Sein Reisebericht wird 42 Kapitel enthalten, die manchmal nur wenige Zeilen und in einem Fall sogar nur zwei Worte um-fassen, fast so als entspräche jedes Kapitel auch -einem Tag seiner Reise und einem Tageseintrag in seinem Logbuch. Die Kürze der Kapitel, die fehlenden Datierungen und die eigentümlich sprunghafte »Handlungsfolge« (wenn man überhaupt von einer solchen reden kann), die sich auf wenige Stunden raffen läßt, machen jedoch deutlich, daß es dem Reisetagebuch um einen anderen Typ von Erfahrung geht, der nicht einer chronologischen und rekonstruierbaren Folge bedarf, um nachvollziehbar zu sein. So wie sein Freund Rodolphe -Toepffer in seinen ebenfalls sehr erfolgreichen Voyages en zig-zag größere Entfernungen durchmißt und dabei aus dem fehlenden Reiseplan den größten Profit zieht, durchquert de Maistre sein Zimmer: einmal hin, einmal her, rundherum das ist nicht schwer.

de Maistre, Voyage autour de ma chambre

Auf seinen Wanderungen entdeckt der »seßhafte Reisende« (de Maistre, 46) nicht nur die zweckmäßige Schönheit der Alltagsgegenstände – lauter gewöhnliche Dinge eines gewöhn-lichen Haushalts, wie etwa ein Bett und ein Lehnstuhl –, sondern berichtet auch von der Geschichte der im Zimmer aufgehängten Bilder und von seinen Entdeckungen in der kleinen Bibliothek. Vor allem aber erzählt de Maistre in loser Folge von Geschichten des Alltags – berichtet von seinem Diener, seinem Hund und seiner Geliebten –, Geschichten, in denen durch die aufgrund der Reisehaltung besonderen Rezeptivität wie Sensibilität die »Dichotomie von ›langweiligem Alltagsleben‹ und ›wunderbarer Welt‹« in eigentümlicher Weise suspendiert sind. (de Botton, 271) Das Alltägliche verwandelt sich in der spezifischen Perspektive der Zimmerreise in besondere Geschichten, denen es doch nur um die Macht der Gewohnheit geht, die hier für die kurze Zeit der Reise ihre Macht verliert.

Xavier de Maistre beschränkt sich bei seiner Reise ausschließlich auf den Raum seines Zimmers: Der Blick aus dem Fenster, der kurz darauf zum Topos der Literatur werden sollte (vgl. die fünfte Etappe), spielt ebensowenig eine Rolle wie die Umgebung des Gebäudes, die komplett ausgeblendet wird. Es geht einzig und allein um den Innenraum des Zimmers und auch um den Erfahrungsinnenraum des »Ringsherum-Rei-senden«. (de Maistre 1984, 28) Diese werden gerade dadurch, daß sie aus der Welt herausgenommen sind, zu Entdeckungsräumen.

Das eigene Zimmer ist eine...

Erscheint lt. Verlag 6.12.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Schlagworte Agoraphobe • Balkonien • Baudelaire • Borges • Cortázar • Daheim-Bleiben • Daheim-Bleiben, • Fernweh • Handke • Jules Verne • Kierkegaard • Reisemuffel • Reisen durch die Hosentasche • Reisen über meinen Schreibtisch • Reisen zu meinem Fenster • Robbe-Grillet • stubenhocker • Xavier de Maistre
ISBN-10 3-10-490760-9 / 3104907609
ISBN-13 978-3-10-490760-4 / 9783104907604
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