Das Winterbuch (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
223 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7325-4959-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Winterbuch -  Tove Jansson
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Nach dem wunderbaren SOMMERBUCH liegt nun ein weiterer liebevoll gestalteter Erzählband der finnischen Autorin Tove Jansson vor. Hierin versammelt sind viele ihre beliebtesten Novellen - allesamt wunderschöne und zurückhaltende Prosa, die den Leser durch die dunkle Jahreszeit trägt.

Die Geschichten sind voller Humor und gleichzeitig mit einem guten Maß an Melancholie geschrieben. Sie zeichnen vibrierende Bilder vom Kindsein, Erwachsenwerden und den Freuden und Mühen des Alters. Ein großes Lesevergnügen!


Kapitel I – Das Flüstern des Schnees


Vorschlag für eine Einleitung


SIE NAHM DEN ÜBERWURF AB, faltete ihn zusammen und legte ihn auf einen Stuhl, machte die Nachttischlampe an und löschte das Deckenlicht. Dann öffnete sie das Innenfenster und nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, schloss das Fenster wieder, ersetzte den Flaschendeckel mit einem Gummikorken und stellte die Flasche auf den Nachttisch, dazu kamen zwei Schlaftabletten, die Brille und drei Bücher. Danach schloss sie die Vorhänge und zog sich aus, von unten anfangend, legte die Kleider auf einen Stuhl und zog Nachthemd und Hausschuhe an. Die Zähne putzte sie über dem Ausguss, dann stellte sie die Uhr und sah, dass es elf war, legte die Uhr auf den Nachttisch, schaltete das Radio ein und machte es wieder aus, blieb zehn Minuten auf dem Bett sitzen, streifte die Hausschuhe ab und ging zu Bett. Sie setzte die Brille auf und begann mit dem ersten Kapitel des Buches, das zuoberst lag. Nach vier Seiten nahm sie das zweite Buch und las eine Weile in der Mitte, legte es auf die Seite und schlug das dritte Buch auf. Manchmal las sie einen Satz ein paarmal hintereinander, und manchmal übersprang sie eine Seite oder zwei. Es war sehr still, nur ab und zu ein schwaches Klappern in den Heizkörpern. Um halb eins ermüdeten die Augen, und der Schlaf näherte sich, von den Beinen her; schnell legte sie die Brille und das Buch auf den Nachttisch, löschte die Nachttischlampe und drehte sich zur Wand. Sofort begann sie, das erste Mal in dieser Nacht, alles durchzugehen, was sie gesagt und was sie ungesagt gelassen hatte, dann alles, was sie getan und was sie nicht getan hatte. Sie knipste die Nachttischlampe an und nahm eine der Tabletten, öffnete die Flasche und schluckte die Tablette mit Mineralwasser, löschte das Licht und legte sich mit dem Gesicht zur Wand hin. Nach einer halben Stunde machte sie wieder Licht, setzte die Brille auf, schlug das Buch auf und las das Schlusskapitel. Dann legte sie Buch und Brille auf den Fußboden, löschte die Lampe und zog sich die Decke über den Kopf. Zwanzig Minuten später machte sie Licht und stand auf, öffnete das Innenfenster, holte etwas in Butterbrotpapier Eingewickeltes heraus und packte Brot, Wurst und Käse aus. Sie aß stehend am Fenster. Der Schnee lag ziemlich hoch an den Scheiben, draußen schneite es. Nachdem sie gegessen hatte, schluckte sie die zweite Tablette mit Mineralwasser, das Innenfenster schloss sie jedoch nicht, da es im Zimmer sehr heiß war. Sie legte sich hin und machte die Nachttischlampe aus. Eine Stunde später machte sie wieder Licht, zog das Nachthemd aus und begann im Zimmer hin und her zu wandern. Sie ging zum Ausguss, füllte eine emaillierte Kanne mit Wasser und goss ihre Topfpflanzen, nahm einen Schwamm, wischte das Wasser auf, das aufs Fensterbrett geflossen war, und ließ den Schwamm im Fenster liegen. Dann legte sie sich hin und löschte das Licht. Ungefähr eine Stunde später stand sie auf, ohne Licht zu machen, und schaltete das Radio ein und wieder aus, sie hörte den Aufzug, und kurz darauf kam die Zeitung durch den Schlitz in der Flurtür. Sie machte Licht, zog die oberste Kommodenschublade heraus, holte Briefpapier und einen Stift hervor und setzte sich aufs Bett. Nach zehn Minuten legte sie Papier und Stift auf den Boden, trat ans Fenster und sah, dass es nicht mehr schneite. Sie löschte das Licht und legte sich hin. Der Aufzug fuhr, aber in den Heizkörpern klapperte es nicht mehr. Der Schlaf stieg ihr entgegen, ihr Körper wurde schwer und schwerer und sank, sie hörte auf zu denken und schlief. Eine halbe Stunde später knipste sie die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Sie stand auf, ging zum Ausguss und putzte die Zähne, zog sich an, oben anfangend, und stellte das Teewasser auf, danach sah sie auf die Uhr und stellte fest, dass sie nicht richtig geschaut hatte, weil sie die Brille nicht aufgehabt hatte. Sie stellte das Teewasser ab, ging zum Ausguss, füllte die emaillierte Kanne und erinnerte sich, dass sie die Topfpflanzen bereits gegossen hatte. Draußen war es dunkel, sie zog den Mantel an und Mütze und Handschuhe, nahm ihre Tasche und steckte die Schlüssel in die Manteltasche. Danach öffnete sie die Flurtür, ging hinaus, schloss die Tür sachte hinter sich, stieg die Treppe nach unten, öffnete die Haustür und sah, dass es angefangen hatte zu schneien. Sie umrundete den Block, und als sie bei der Haustür angekommen war, ging sie noch einmal um den Block, dann trat sie ins Haus und stieg die Treppe hinauf, damit alles wieder von vorne beginnen konnte.

Das Dunkel


HINTER DER RUSSISCHEN KIRCHE GIBT ES EINEN ABGRUND. Das Moos und die Abfälle sind glitschig, tief unten leuchten gezackte Konservendosen. Im Laufe von Jahrhunderten sind sie in immer höheren Stapeln an der Wand eines dunkelroten langen Gebäudes ohne Fenster hochgewachsen. Das rote Gebäude kriecht um den Berg herum, und die Tatsache, dass es keine Fenster hat, ist sehr bedeutungsvoll. Hinter diesem Haus liegt der Hafen, ein stiller Hafen ohne Schiffe. Die kleine Holztür im Fels unterhalb der Kirche ist stets verschlossen.

»Du musst die Luft anhalten, wenn du an der Tür vorbeirennst«, sagte ich zu Poju. »Sonst kommt die Fäulnis heraus und holt dich.« Poju hat andauernd Schnupfen. Er kann Klavier spielen und hält immer die Hände vor sich ausgestreckt, als fürchtete er sich davor, angegriffen zu werden, oder als wollte er sich entschuldigen. Ich mache ihm Angst, und er läuft stets hinter mir her, damit ich ihm Angst machen kann.

Bei Einbruch der Dämmerung beginnt ein großes graues Wesen vom Meer hinterm Hafen heranzukriechen. Das Wesen hat kein Gesicht, dafür aber sehr deutliche Hände, mit denen es eine Insel nach der anderen bedeckt, während es vorankriecht. Wenn keine Inseln mehr da sind, streckt es den Arm übers Wasser, einen sehr langen Arm, der leicht zittert, und beginnt nach Skatudden zu tasten. Die Finger erreichen die russische Kirche und berühren den Berg – oh! Eine große graue Hand!

Ich weiß genau, was das Unheimlichste von allem ist. Das ist die Schlittschuhbahn. An meinem Pullover ist ein sechseckiges Schlittschuhabzeichen festgenäht. Der Schlittschuhschlüssel hängt mir an einem Schnürsenkel um den Hals. Wenn man sich aufs Eis hinunterbegibt, merkt man, dass die Eisbahn nur ein kleines Armband aus Licht weit draußen in der Dunkelheit ist. Der Hafen ist ein Meer aus blauem Schnee, Einsamkeit und melancholischer frischer Luft.

Poju kann nicht Schlittschuh laufen, seine Füße knicken nämlich unter ihm ein, ich dagegen muss aufs Eis. Hinter der Bahn lauert das graue kriechende Wesen, und die ganze Bahn ist von einem Ring aus schwarzem Wasser eingefasst. Manchmal beginnt das Wasser am Eisrand zu atmen, es bewegt sich sacht, ab und zu steigt es in einem Seufzer hoch und überflutet das Eis. Wenn man sich erst einmal auf die Schlittschuhbahn hineingerettet hat, ist es nicht mehr gefährlich, aber melancholisch wird man trotzdem.

Hunderte von schwarzen Menschen fahren im Kreis herum, alle in dieselbe Richtung, entschlossen und sinnlos, und in der Mitte sitzen zwei frierende Männer unter einer Plane und machen Musik. Sie spielen »Ramona« und »Wenn meine Alte da ist, bleib ich weg«. Es ist kalt. Die Nase läuft, und wenn man sie abwischt, entstehen Eiszapfen an den Handschuhen. Die Schlittschuhe müssen am Absatz festgemacht werden. Im Absatz ist eine Mulde aus Eisen, und die ist jedes Mal voller Steinchen, die ich mit dem Schlittschuhschlüssel herauspule. Dann sind da die steifen Riemen, die in ihre Löcher hineinsollen. Und dann fahre ich mit den anderen im Kreis herum, weil es gesund ist, an der frischen Luft zu sein, und weil das Schlittschuhabzeichen sehr teuer war. Hier ist niemand, dem man Angst machen kann, alle fahren schneller, knirschend und quietschend fahren fremde Schatten an einem vorbei.

Die Lampen schaukeln im Wind. Wenn sie ausgingen, würden wir im Dunkeln weiterfahren, immer im Kreis herum, und die Musik würde weiterspielen, und allmählich würde die Eisrinne ringsum breiter werden, sie würde heftiger klaffen und atmen, und der ganze Hafen würde zu einem schwarzen Wasser werden mit einer einsamen Insel aus Eis in der Mitte, auf der wir weiterfahren würden, in alle Ewigkeit, Amen.

Ramona ist bildschön, bleich wie die Donnerbraut und hat Jugendverbot. Aber die Donnerbraut habe ich im Wachsfigurenkabinett gesehen. Papa und ich, wir lieben Wachsfigurenkabinette. Die Donnerbraut wurde ausgerechnet in dem Augenblick vom Blitz erschlagen, als sie heiraten sollte. Der Blitz schlug in ihren Myrtenkranz ein und fuhr zu ihren Füßen wieder hinaus. Daher steht die Donnerbraut auch barfuß da, an ihren Fußsohlen kann man deutlich eine Menge gezackter Linien erkennen, wo der Blitz wieder hinausfuhr.

In einem Wachsfigurenkabinett wird einem vor Augen geführt, wie leicht es ist, Menschen kaputt zu machen. Sie können zermalmt, auseinandergerissen und in Stücke gesägt werden. Davor ist niemand sicher, und daher ist es auch so wichtig, dass man rechtzeitig ein Versteck findet.

Ich sang Poju immer wieder das Trauerlied vor. Er hielt sich die Ohren zu, hörte es aber dennoch. Das Leben ist eine Insel der Trauer, mitten im Leben berührt uns der Todesschauer, und übrig bleibt nur Staub! Die Schlittschuhbahn war die Insel der Trauer. Wir lagen unterm Esstisch und zeichneten sie auf. Poju nahm zum Zeichnen ein Lineal und einen zu harten Bleistift, er zeichnete jedes einzelne Brett im Bretterzaun und sämtliche Lampen. Ich selbst zeichnete immer mit einem 4B und ausschließlich schwarz – die Dunkelheit auf...

Erscheint lt. Verlag 24.11.2017
Übersetzer Birgitta Kicherer
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Original-Titel Ein Winterbuch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 20. - 21. Jahrhundert • Alter • Altsein • Biographie • Bücher • dunkle jahreszeit • Erzählungen • Familie • Film • Finnland • Geschenkbuch • Geschichtensammlung • Gschenk • Helsinki • interessant • Kindheit • Kino • Klassiker • Kurze Geschichten • literarische Unterhaltung • Literatur • Moomin • Mumins • Novellen • Skandinavien • Sonstige Belletristik • Suomi • tove • Tove Film • Verfilmung • Winter
ISBN-10 3-7325-4959-3 / 3732549593
ISBN-13 978-3-7325-4959-7 / 9783732549597
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