Weltreligion im Umbruch

Transnationale Perspektiven auf das Christentum in der Globalisierung
Buch | Softcover
507 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-50858-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weltreligion im Umbruch -
49,00 inkl. MwSt
Das Christentum befand sich im 19. Jahrhundert im Umbruch. In einer globaler werdenden Umwelt taten sich neue Handlungsspielräume und Herausforderungen auf, etwa durch die Erkenntnis, dass es andere Weltreligionen - und nicht nur zu missionierende Heiden - gab. Während bis heute in der Katholizismus- und Protestantismusforschung der methodologische Nationalismus dominiert, fragt dieser Band, ob transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven neue Erklärungen für den fundamentalen Wandel des Christentums seit dem 19. Jahrhundert bieten können.
Das Christentum befand sich im 19. Jahrhundert im Umbruch. In einer zunehmend globaler werdenden Umwelt sah es sich durch den Imperialismus herausgefordert, aber auch durch die aufkommende Erkenntnis, dass es andere Weltreligionen - und nicht nur zu missionierende Heiden - gab. In der Katholizismus- und Protestantismusforschung dominiert bis heute dennoch der methodologische Nationalismus. Dieser Band fragt erstmals, ob transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven neue Erklärungen für den fundamentalen Wandel des Christentums seit dem 19. Jahrhundert bieten können. Außerdem diskutiert er die Geschichte der Globalisierung selbst: Hat sich das Christentum globalisiert? Wie haben Christen die damaligen grenzüberschreitenden Veränderungen wahrgenommen, wie sind sie mit ihnen umgegangen?

Olaf Blaschke ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Francisco Javier Ramón Solans ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Juan de la Cierva-Incorporación) am Departamento de Historia Moderna y Contemporánea der Universität Zaragoza.

Inhalt
Einleitung: Katholizismus- und Protestantismusforschung vor der Herausforderung der Globalgeschichte 9
Olaf Blaschke
I. Transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven auf das Christentum
Transnationale und komparative Zugriffe auf die Religionsgeschichte 59
Thies Schulze

Transfer, Interaktion, Transformation: Globalhistorische Blicke auf Missionsgeschichte 79
Reinhard Wendt

Amerikanismus, Modernismus und Antimodernismus um 1900: Transnationale Perspektiven auf die katholische Ideengeschichte 103
David Rüschenschmidt

Zwischen Internationaler Politik und Religionstourismus: Palästina im Internationalisierungsprozess des 19. Jahrhunderts 129
Hannah Müller-Sommerfeld

The Long Nineteenth Century, Christianity, and the Global Religious System: Differentiation, Reconstruction, Revitalization 159
Peter Beyer

Kommentar: Was kann Globalgeschichte von der Modernisierungstheorie lernen? 179
Detlef Pollack
II. Das Christentum in Zeiten der Globalisierung
1. Globalisierung des Christentums: Diffusion oder Aneignung, Uniformierung oder Partikularisierung?
Christliche Internationalismen um 1910: Transkontinentale Netzwerke protestantischer Missionare und indigen-christlicher Akteure aus Asien 195
Klaus Koschorke

Protestantism in Latin America and Latin Europe: The Religious Field and its Transformations 219
Jean Pierre Bastian

Formierung und Entgrenzung: Der deutsche Katholizismus und seine globalen Verbindungen im 19. Jahrhundert 241
Bernhard Schneider

Belgium since 1831: A Model for the Ultramontane Movement in Europe or Model Student o the Black International? 273
Jan De Maeyer

Verflechtungen und Entflechtungen: Die katholische Kirche und die Unabhängigkeit Lateinamerikas 295
Silke Hensel

Bis ans Ende der Welt: Transatlantische ultramontane Netzwerke zwischen Lateinamerika und Europa 313
Francisco Javier Ramón Solans

Tantra und Katholizismus im Kontext einer globalen Religionsgeschichte 341
Julian Strube

Kommentar: Das Christentum als Agent der Globalisierung? 365
Thomas Großbölting
2. Christentum und Globalisierung: Reaktionen, Grenzen und Abwehr Zwischen Selbstbewusstsein und Angst: Deutscher Protestantismus als globale Diaspora am Beispiel Brasiliens 377
Frederik Schulze

Diakonie ohne Grenzen? Vom transnationalen Ideal in Johann Wicherns Zeit bis zu dessen Scheitern 403
Sven Henner Stieghorst

Gender, Religion und Globalgeschichte: Perspektiven auf Mission und Konfession im Zeitalter der Moderne 429
Yvonne Maria Werner und Katharina Kunter

Grenzen der Ultramontanisierung: Unabhängige katholische Bewegungen in Asien um 1900 451
Adrian Hermann

Kommentar: Globalisierung, Weltgesellschaft und Differenzierung 475
Volkhard Krech

Autorinnen und Autoren 503

»[...] die Globalgeschichte des Christentums [befindet sich], wie Blaschke nachdrücklich betont, erst am Beginn [des] Forschungsprozesses. Dafür bietet der Band eine hervorragende Ausgangsbasis.« Martin Lutz, Neue Politische Literatur (66), 111-113, 05.01.2021

»[…] die Globalgeschichte des Christentums [befindet sich], wie Blaschke nachdrücklich betont, erst am Beginn [des] Forschungsprozesses. Dafür bietet der Band eine hervorragende Ausgangsbasis.« Martin Lutz, Neue Politische Literatur (66), 111–113, 05.01.2021

Einleitung: Katholizismus- und Protestantismusforschung vor der Herausforderung der Globalgeschichte Olaf Blaschke Die sogenannte Globalisierung gibt es nicht erst seit gestern, sondern seit bald 200 Jahren. Gesprochen freilich wird über »Globalisierung« vermehrt erst seit den 1990er Jahren. Vielleicht deshalb sind viele ihrer Kommentatoren, Anhänger und Gegner davon überzeugt, dass dieses undurchsichtige Phänomen erst in den letzten Jahrzehnten über uns kam, ob mit guten oder schlechten Auswirkungen. Und noch etwas anderes scheint neu zu sein: die gegenwärtigen Umwälzungen im Feld der Religion. Auch die Bewertung dieser rapiden Veränderung bleibt zweigeteilt. Welche Richtung schlägt dieser Wandel ein? Manche finden, die vermeintlich hergebrachte, seit Jahrhunderten befolgte Religiosität schmelze vor unseren Augen unter der Sonne der Moderne rasch dahin, andere meinen, in jüngster Zeit gebe es eine Wiederkehr der Religion oder deren zunehmende Pluralisierung. Wie auch immer die Bewertung ausfällt – in jedem Fall scheinen wir das Privileg der direkten Zeitzeugenschaft der Globalisierung und des religiösen Wandels zu haben. Gerne werden die beiden Neuerungen auch miteinander kombiniert und in ihrem kausalen Wechselverhältnis zueinander gesehen. Die Globalisierung berühre auch die Weltreligionen, die »in den letzten Jahrzehnten in einem bisher nie gegebenen Maß einander näher gerückt« seien. Die aktuell erfahrene Globalisierung dient dazu, den religiösen Wandel zu erklären. Typisch sind dann solche Sätze: »Eine Welle religiöser Gewalt verunsichert die Welt« seit dem 11. September 2001. Der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg »macht deutlich, dass die Globalisierung eine neue – unfriedliche – Epoche der Religionsgeschichte einläutet«. Warum hat »die Globalisierung« aber fast 200 Jahre mit dem Einläuten dieser Neuerung gewartet? Oder solche Sätze: »In den vergangenen Jahrzehnten erlebte Religion, insbesondere das Christentum, eine Revitalisierung, weil die Globalisierung durchlässige transnationale Netzwerke schuf, die halfen, religiöse Botschaften vom lokalen ins globale Publikum zu transportieren« Genau dies aber ist doch schon im 19. Jahrhundert möglich gewesen und geschehen. Soll Globalisierung damals keine Wirkung gezeigt haben? Anscheinend leben wir erst jetzt in einer Zeit massiver globaler und religiöser Umwälzungen. Oder leben wir eher in Zeiten sinkenden Geschichtsbewusstseins? Beide Gegenwartsdiagnosen jedenfalls und ihre Kombination, wenn Globalisierung als schlichtes Explanans für das Explanandum Religion herhalten muss, argumentieren aus dem jeweiligen eigenen begrenzten Erfahrungsraum heraus. Beide täuschen in ihrer Kurzsichtigkeit darüber hinweg, wie sehr schon das 19. Jahrhundert von der beschleunigten Globalisierung geprägt und wie radikal das religiöse Feld schon damals umgepflügt wurde. Um sich diesem Thema zu stellen, erste Einsichten zusammenzutragen und sie zu diskutieren, fand vom 7. bis 9. Oktober 2016 die Tagung »Weltreligion im Umbruch. Transnationale Perspektiven auf das Christentum in der Globalisierung des 19. Jahrhunderts« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Rahmen des Exzellenzclusters »Religion und Politik« statt – ein internationaler, aber auch ein interdisziplinärer Kreis von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Religionswissenschaft und Theologie. »Weltreligion im Umbruch«: Bei Kundigen dürfte dieser Titel Erinnerungen auslösen. Er ist eine Anspielung auf Thomas Nipperdeys Buch »Religion im Umbruch«. Es löste 1988 große Wirkung aus und gilt als In-dikator für den »religious turn« in der deutschsprachigen Geschichtswis-senschaft. Nipperdey behandelte den Katholizismus, den Protestantismus und die »Unkirchlichen« in Deutschland, indes nicht die Juden. Das Buch hat eine ganze Generation von Katholizismus- und Protestantismusforschern mitgeprägt. Der Titel »Weltreligion im Umbruch« versteht sich als eine Art Verbeugung vor Nipperdeys Pionierleistung. Heute, drei Jahr-zehnte später, soll jedoch das Ziel gesetzt werden, für die Frage der Neu-konfiguration des Christentums den nationalgeschichtlichen Rahmen zu erweitern, in dem Nipperdey sich noch bewegte. Der internationale Hori-zont hat sich vergrößert. Es sollen transnationale und globalgeschichtliche Fragen an das katholische und evangelische (nicht jedoch orthodoxe, kop-tische etc.) Christentum angelegt werden. Auch der Untertitel kann ausbuchstabiert werden. Es sollen transnationale, aber auch globalgeschichtliche Perspektiven auf Katholizismus und Protestantismus in der ersten Globalisierung seit dem frühen 19. Jahrhundert geworfen werden. Beide Konfessionen werden als Teil ein und derselben Weltreligion verstanden, anders als es im Überschwang des Lutherjahres 2017 »zum 500-jährigen Bestehen einer Weltreligion [!]« (des Protestantismus) schon zu hören war. Hier ist nicht zu diskutieren, was eine Weltreligion von einer Landesreligion unterscheidet oder welche globalen Perspektiven sich für den Buddhismus, die islamische Umma und andere Weltreligionen, gar Religion allgemein ergeben könnten. Es geht allein um das Christentum, das sich im 19. Jahrhundert zunehmend als »Weltreligion« zu verstehen begann, befreit von nationalstaatlichen Regalien. Damit kreist das Projekt um zwei Kernfragen. Erstens: Was bringt die Globalgeschichte für das Thema Religion? Warum sollte man diesen neuen Zugang nutzen? Die zweite Frage legt das Augenmerk auf ein anderes Thema, nämlich auf Globalisierungsprozesse. War das Christentum Akteur oder Leidtragender der Globalisierung, Gewinner oder Verlierer? Wie ging es mit der Zumutung der Globalisierung um? Mit diesen zwei Teilfragen, nach denen das Buch strukturiert ist, stellt sich die Herausforderung, die Globalgeschichte in Teil I und die Globalisierungsgeschichte in Teil II nicht allzu sehr miteinander zu vermengen. In der Praxis geraten beide Fragen oft durcheinander, zumal Globalgeschichte in den 1990er Jahren die Bühne als Globalisierungsgeschichte betrat, bevor sich ihr Repertoire erweiterte. Sogar dem »unbestrittene(n) Doyen der Welt- oder Globalgeschichte« ist es passiert, dass er an einer Stelle schreibt »›Globalgeschichte‹ [...] ist die Geschichte der Globalisierung«, an anderer Stelle jedoch: »Globalgeschichte ist nicht dasselbe wie die Geschichte der Globalisie-rung«. Tatsächlich ist es hilfreich, den keineswegs linearen Prozess der Globalisierung als ein »Unterproblem« von Globalgeschichte anzusehen, die sich auch mit Verbindungen und Problemen beschäftigt, die vor oder neben der Globalisierung bestanden. Die Globalgeschichte erlaubt, viel weiter zurück in die Geschichte zu gehen als bei der in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Globalisierung. »Global History« muss nicht in eine große Erzählung münden. Darin unterscheidet sie sich stärker von der früheren Universalgeschichte, deren Erbfolge sie angetreten hat, als die Globalisierungstheorien von ihrem Vorgänger, der Modernisierungstheorie. »Globalisierung« hat die »Modernisierung« semantisch abgelöst. Aber beide, und das wird kritisiert, vernachlässigen Weltregionen wie Lateinamerika und Afrika als vermeintlich rückständig. Globalgeschichte ist nicht mehr als eine durchaus auch europakritische Perspektive, die der Idee des Ganzen in der Untersuchung eines Teils nachgeht, sei es einer Region, eines Produkts oder eines Ereignisses. Sie braucht nicht zur Weltgeschichte oder Geschichte der Globalisierung auszuwachsen. Als weiten Sammelbegriff definierte Jürgen Osterhammel Globalgeschichte 2011 schlicht als »eine Erkenntnishaltung [...], die erlernt werden könne.« Es wäre daher einen Versuch wert, beides – Perspektive und Prozess – so weit wie möglich voneinander zu unterscheiden. Im einzelnen wird das schwierig sein. Wechselseitige Verflechtungen von Religionen, Bezüge und Abgrenzungen voneinander hat es immer gegeben. Sie sind nicht identisch mit Globalisierungsprozessen, aber spätestens im 19. Jahrhundert ihnen doch nahe. Die globalhistorische Perspektive betrachtet verschieden geartete, manifeste globale Verbindungen. Die Beitragenden versuchen, die globale Beobachterperspektive und den Beobachtungsgegenstand Globalisierung so weit wie möglich voneinander zu trennen. In beiden Fragen weist der Band über die deutsche Geschichte hinaus. Indem wir den Titel von Nipperdeys »Religion im Umbruch« als »Weltreligion im Umbruch« aufgreifen, soll auch ein Signal gesetzt werden, dass es für die Katholizismus- und Protestantismusforschung Zeit ist, weiter als bis zur kleindeutschen Grenze zu sehen, und zwar in besagter doppelter Weise: in globalgeschichtlicher wie globalisierungsgeschichtlicher Hinsicht. I. Transnationale und globalgeschichtliche Perspektiven auf das Christentum Man kann sich jeden scholastischen Streit darüber schenken, was nun besser ist: transnational oder global. Margrit Pernau würdigt in ihrem Buch über transnationale Geschichte ausführlich die Globalgeschichte. Umgekehrt widmet Sebastian Conrad in seiner Einführung in die Globalgeschichte einen Abschnitt der transnationalen Geschichte. Bei solchen Kategoriebildungen und bei allen Unterschieden in Raumbezug und Methode darf man sicher nicht ganz aus den Augen verlieren, dass es im Wissenschaftsfeld stets auch um Deutungsmachtkämpfe geht. Wer prägt den hegemonialen Oberbegriff, der sich durchsetzt und dem sich andere unterordnen müssen? Ein weiteres neueres Deutungsangebot, die »transkulturelle Geschichte«, vermochte sich bislang nicht als veritabler Konkurrent zu etablieren. Jedenfalls fühlen sich die National- und Sozialgeschichte wie auch die bewährte komparative Methode herausgefordert, seit transnationale und Globalgeschichte auf dem Vormarsch sind. Die neue »Mode«, die »globalhistorische Wende« oder wenigstens »Konjunktur« hat auch die klassische Weltgeschichte und insbesondere die »Area Studies« in arge Rückzugsgefechte verwickelt. Ihre Vertreter betonen, sie hätten das, was jetzt als neu ausgeflaggt würde, immer schon gemacht. Nicht global, aber schon transnational operiert, wer das Elsaß und den Saar-Lor-Lux Raum behandelt. Gleichwohl können auch transatlantische Beziehungen transnational analysiert werden, was bereits in die Nähe der Globalgeschichte rückt, für die nicht alle Kontinente, aber doch wenigstens andere Weltregionen in den Blick kommen. Beide betreffen also unterschiedliche Räume, obgleich der Unterschied in der Praxis kaum Beachtung findet, zumal auch einzelne Nationen oder Orte in ihrer globalgeschichtlichen Verflechtung inspiziert werden. Mehr Gewicht kommt einer anderen Differenz zu. Die Globalgeschichte ist politisierter in ihrem postkolonialen Anspruch, Europa zu provinzialisieren, indem sie eine dezentrale Sicht auf die Akteure und Vernetzungen der Weltgeschichte und die »multiplen Modernen« wirft. Dabei kann jedoch auch wiederum die »Zentralität Europas« herauskommen, weil das 19. Jahrhundert »ein Jahrhundert Europas« war, wie Jürgen Osterhammel betont, wobei sich seine Weltgeschichte, anders als vielfach wahrgenommen, gar nicht als Globalgeschichte versteht. Vor allem haben beide Ansätze viel gemeinsam. Beide überwinden, das ist entscheidend, den »methodologischen Nationalismus«, der den meisten Geschichtsbüchern zugrunde liegt oder unterstellt wird. Geschichte findet nicht im Container der jeweiligen Nationalstaaten statt. Beide wollen nicht eurozentrisch sein, kein Zentrum-Peripherie Modell favorisieren. Das gilt für viele Themen, aber auch für Religion. Schon 1986 sprach Johann Baptist Metz in politischer Absicht von einer »polyzentrischen Weltkirche«, und in historischer Absicht hat Klaus Koschorke die Herausarbeitung der »polyzentrischen Strukturen« des Christentums inspiriert. Transnationale und globale Ansätze betonen die Rolle von Mobilität und Zirkulation, von Grenzüberschreitungen und Interdependenzen, von Transfer und Verflechtung, neuerdings auch von Entflechtung. Globalgeschichte ist als ein »Denkstil« beschrieben worden, der sich in sechs markanten Denkfiguren kundtut: der Expansion und ihren Verbreitungsmodi (Diffusion, Mission, Import), der Dauerbewegung suggerierenden Zirkulation, auch wenn die älteren Kategorien Transfer und Rezeption treffsicherer waren, der zur Stabilität neigenden Vernetzung, der Verdichtung, der Standardisierung oder Universalisierung mit Tendenz zur Konvergenz, schließlich der räumlichen Asymmetrie von Macht. Alle diese Denkfiguren spielen auch in der Globalisierungsgeschichte eine Rolle. Aber genau an diesem Denkstil mangelt es der obendrein streng in Katholizismus- und Protestantismusforschung geschiedenen Christentumsgeschichte noch häufig, und dies nach 20 Jahren zunehmender »Globalifizierung« der Geschichtswissenschaft. Man führe sich nur die maßgebenden, die Neuzeit betreffenden Buchreihen vor Augen, ob die 133 blauen Forschungsbände zum Katholizismus der Kommission für Zeitgeschichte mit katholischem Verlagshintergrund (Grünewald bzw. Schöningh), oder die 52 orangen Bände von »Konfession und Gesellschaft« mit evangelischer Schlagseite beim protestantisch geprägten Verlag Kohlhammer. Es geht vorwiegend um Deutschland. Meist steht es nicht einmal vorne drauf, derart selbstverständlich ist es. Nur ein jüngerer Band handelt von einem Bischof in Ungarn. Aber das ist nicht transnational. Freilich, in beiden Reihen gibt es für das Internationale offene Bücher. Aber bei genauem Hinsehen sind sie komparativ angelegt. Der Vergleich bleibt in der Tat ein Ansatz, der ausgesprochen wichtig und übrigens schwer genug ist. Daran wird uns Thies Schulze in seinem Beitrag erinnern. Für die Katholizismusforschung lässt sich mit Bestimmtheit sagen: Die meisten Arbeiten bleiben im nationalen Container gefangen. »Historians of modern Catholicism still have to discover global history.« Dieselbe Mangelanzeige zirkuliert auch unter Protestantismusforschern: Harry Oelke regte noch 2015 an, die Implikationen der (heutigen?) »Globalisierung bedürfen in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung insgesamt einer nachdrücklich gesteigerten Beachtung.« Brandneu ist das rituelle Verbalbekenntnis zur transnationalen- und Globalgeschichte nicht, neu wäre, es auch häufiger umzusetzen. Doch wenn selbst die viel ältere Forderung nach transkonfessioneller (»ökumenischer«) Christentums- und Kirchengeschichte bis heute kaum Früchte gezeigt hat, überrascht das Fehlen nationsüberschreitender und verflechtungshistorischer Arbeiten wenig. Aber nicht nur die Katholizismus- und Protestantismusforschung sind dahingehend defizitär. Umgekehrt hat auch die Globalgeschichte das Thema Religion zugunsten von migrations- und wirtschaftshistorischen Fragen eklatant ignoriert. Emily Rosenbergs Globalgeschichte 1870–1945 behandelt weltweite Migrationen, globale Kommunikationsnetze, Handelsströme und Konsummuster, Kolonialismus und Imperialismus, enthält aber auf über 1100 Seiten nur sechs Seiten über Religion – wogegen wir über die Produktion von Kaffee und den Kaffeehandel drei Mal so viel erfahren, als sei Koffein im 19. Jahrhundert drei Mal bedeutender als Religion gewesen. Der Vernachlässigung von Religion durch die Globalgeschichte entspricht die Ausklammerung der Globalgeschichte in der hergebrachten Katholizismus- und Protestantismusforschung. Das Verhältnis ist durch wechselseitiges Wegsehen geprägt. Man vergleiche einmal Dominic Sachsenmaiers hervorragenden zehnseitigen Artikel über Global History – aber keine einzige Zeile zum Thema Religion – mit Victor Conzemius’ fundiertem, zehnseitigem Aufsatz über Ultramontanismus – kein Wort zur trans-nationalen und globalgeschichtlichen Dimension des Phänomens.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Religion und Moderne ; 12
Co-Autor Jean Pierre Bastian, Olaf Blaschke, Peter Beyer, Thomas Großbölting, Silke Hensel, Adrian Hermann, Klaus Koschorke, Volkhart Krech, Katharina Kunter, Jan de Maeyer, Hannah Müller-Sommerfeld, Detlef Pollack, Francisco Javier Ramón Solans, Daniel Rüschenschmidt, Bernhard Schneider, Frederik Schulze, Thies Schulze, Sven Henner Stieghorst, Julian Strube, Reinhard Wendt, Yvonne Maria Werner
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 214 mm
Gewicht 630 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeine Geschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Religion / Theologie Christentum Kirchengeschichte
Schlagworte Christentum • Christianity • Globalgeschichte • Globalisierung • Globalization • Imperialismus • Katholizismus • Kirchengeschichte • Lateinamerika • Moderne • Politik • Protestantismus • Religion • Transnationale Geschichte • Transnational Perspectives • Wandel • Weltreligionen • World
ISBN-10 3-593-50858-3 / 3593508583
ISBN-13 978-3-593-50858-0 / 9783593508580
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