Die Revolution entlässt ihre Kinder (eBook)

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2017 | 1. Auflage
704 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31754-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Revolution entlässt ihre Kinder -  Wolfgang Leonhard
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Einer der großen Klassiker der politischen Literatur in DeutschlandDieser bewegende und authentische Bericht liefert eine bedrückende Innenansicht des Stalinismus und wurde nach seinem Erscheinen in kurzer Zeit ein großer Bucherfolg - alleine in Deutschland eine Million Mal verkauft sowie in zehn Sprachen übersetzt. Wolfgang Leonhard war ein Junge von 13 Jahren, als er mit seiner Mutter das nationalsozialistische Deutschland verlassen musste und in die Sowjetunion emigrierte. Dort wuchs er nach der Verhaftung seiner Mutter in einem Heim für deutsche und österreichische Emigranten auf, studierte an der Moskauer Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen und trat dem Komsomol bei. Er erlebte den Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges in Moskau und wurde zwangsweise nach Karaganda umgesiedelt. Ein Jahr später wurde er in die Komintern-Schule einberufen und arbeitete nach Auflösung der Komintern im Nationalkomitee Freies Deutschland mit. Leonhard gehörte zu jenen zehn Funktionären, die unter Führung von Walter Ulbricht im April 1945 nach Deutschland entsandt wurden. Er lernte nicht nur die damaligen Repräsentanten der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR persönlich kennen, sondern war auch an internen Entscheidungen der kommunistischen Partei und Administration beteiligt. Nachdem Tito den Bruch mit Moskau vollzogen hatte, flüchtete Leonhard nach Jugoslawien.

Wolfgang Leonhard, der 1921 in Wien geborene Ost- und Russlandexperte, lehrte und forschte nach seiner Flucht in die Bundesrepublik auf seinem Spezialgebiet, zunächst in Oxford, dann an der Columbia University und in Yale. Er verfasste zahlreiche, international publizierte Artikel, Aufsätze und Bücher. Der Autor starb am 17. August 2014 im Alter von 93 Jahren.

Wolfgang Leonhard, der 1921 in Wien geborene Ost- und Russlandexperte, lehrte und forschte nach seiner Flucht in die Bundesrepublik auf seinem Spezialgebiet, zunächst in Oxford, dann an der Columbia University und in Yale. Er verfasste zahlreiche, international publizierte Artikel, Aufsätze und Bücher. Der Autor starb am 17. August 2014 im Alter von 93 Jahren.

Die Moskauer »Karl-Liebknecht-Schule«


Wir waren weder durch die Intourist als Besucher noch mit einer Delegation gekommen. So gab es bei unserem Eintreffen weder Feiern noch offizielle Begrüßungen und auch keine frei gehaltenen Hotelzimmer. Aber wir wurden von einigen Freunden erwartet, die meine Mutter von früher her kannte.

Wir fuhren vom Bahnhof quer durch Moskau zur Granowskijstraße 5, der Privatwohnung eines Bekannten. Wohnung war zu viel gesagt – es war nur ein einziges Zimmer. Hier wurden die Pläne für unser neues Leben in Moskau besprochen.

Meine Mutter dachte zuerst an mich. »Der Junge muss in die Schule, kann aber kein Wort Russisch.«

»Das ist nicht notwendig«, wurde uns gesagt. »Es gibt in Moskau zwei fremdsprachige Schulen, eine englische und eine deutsche. Übrigens hat dein Sohn Glück, die deutsche Schule bekommt gerade jetzt zum 1. September ein sehr schönes neues Schulgebäude in der Kropotkinstraße 12.«

»Gibt es denn hier in Moskau Deutsche?«, fragte ich erstaunt. Meine neuen Freunde lächelten. »Aber natürlich. Es leben in Moskau einige Tausend deutsche und österreichische Emigranten, darunter auch viele Schutzbündler, Teilnehmer des Aufstandes gegen Dollfuß im Februar 1934, die nach der Niederlage nach Moskau gekommen sind. Es gibt hier einen deutschen Klub, eine deutsche Tageszeitung, die Deutsche Zentral-Zeitung und einen ›Verlag ausländischer Arbeiter in der UdSSR‹, der viele Bücher in deutscher Sprache herausgibt.«

So begann unser Moskauer Leben.

Die Wohnungssuche war sehr schwierig. Die ersten Tage verlebten wir bei diesem oder jenem Bekannten, dann fanden wir endlich ein möbliertes Zimmer. Meine Mutter suchte Arbeit – und ich hatte viel Freizeit, denn die Schulen hatten Sommerferien.

»Willst du dir nicht die Metro anschauen?«, wurde ich gleich am zweiten Tag gefragt. Die Metro, die Moskauer Untergrundbahn, war gerade wenige Wochen vorher, am 15. Mai, dem Verkehr übergeben worden, und überall war man auf diese Errungenschaft sehr stolz.

Sie stand damals so im Mittelpunkt des Interesses, dass ich fast überall gefragt wurde, ob ich schon mit der Metro gefahren sei. Prompt folgte dann die Frage, wie sie mir gefallen habe, und es entspann sich meist ein langes, ausführliches Gespräch über ihre Vorzüge. Nur einmal traf ich einen Ketzer. »Es wäre gut«, meinte er, »wenn Moskau über der Erde nur ein Zehntel so schön wäre wie unter der Erde.«

Die Bemerkung war durchaus richtig, denn der Unterschied war in der Tat sehr krass. Damals war es auch nicht leicht, sich in Moskau zurechtzufinden. Es gab keinen einzigen Stadtplan. Meine Mutter hatte noch einen aus dem Jahre 1924, aber der half uns wenig. Inzwischen waren sehr viele Straßen umbenannt worden, und auch sonst hatte sich das ganze Bild durch viele Neubauten und den Abbruch alter Häuser verändert. Umso froher waren wir, als plötzlich in allen Buchhandlungen Stadtpläne von Moskau zu haben waren. Aber wir wurden enttäuscht: Die Stadtpläne, die wir im Juli 1935 kaufen konnten, waren solche für das Jahr … 1945.

Wir wussten gar nicht, was wir davon halten sollten.

»Wozu brauche ich denn einen Stadtplan aus dem Jahre 1945, wenn ich im Jahre 1935 durch Moskau gehen will?«, fragte meine Mutter erstaunt.

»Das ist doch ganz einfach«, wurde uns geantwortet. »Anfang Juli ist der 10-Jahres-Generalbauplan für Moskau veröffentlicht worden, und um ihn populär zu machen, sind eben jetzt die Pläne für das Jahr 1945 gedruckt worden. Wie Moskau heute aussieht, weiß doch sowieso jeder.«

Wenn wir nun spazieren gingen, nahmen wir beide Stadtpläne mit; den einen, der zeigte, wie Moskau vor 10 Jahren ausgesehen hatte und den anderen, der angab, wie es in 10 Jahren aussehen würde.

Unser Erlebnis mit den Stadtplänen war eigentlich typisch für jene Zeit: 1935 war eines der Übergangsjahre in der Sowjetunion. Revolution und Bürgerkrieg, ja sogar der erste Fünfjahresplan waren schon Vergangenheit; die Jahre der Säuberungen und Massenverhaftungen, des Hitler-Stalin-Paktes und des Finnlandkrieges lagen noch in der Zukunft.

Zu Beginn des Jahres 1935 waren die letzten Lebensmittelkarten abgeschafft, und auf einem außerordentlichen Sowjetkongress war die Ausarbeitung einer freieren und demokratischen Verfassung angekündigt worden.

»Das Schwerste ist jetzt vorüber. Es wird bestimmt besser werden. Auch das politische System wird nun demokratischer werden. Das sieht man ja schon an dem Entwurf für die neue Verfassung«, war der Grundtenor vieler Gespräche in jenem Jahr.

Nur wenige unserer Bekannten waren nicht ganz so optimistisch. Schon in den ersten Wochen nach unserer Ankunft hörte ich immer wieder einen Namen: Kirow. Wenige Monate vor unserer Einreise, am 1. Dezember 1934, war Sergej Kirow, ein Mitglied des Politbüros, in Leningrad ermordet worden. Der Ermordung Kirows folgten Massenverhaftungen. Im Unterschied zu ähnlichen Ereignissen der Vergangenheit wurden aber nicht etwa ehemalige Angehörige anderer Parteien oder parteilose Spezialisten Opfer dieser Säuberung, sondern bolschewistische Parteifunktionäre.

Wenn über Kirow gesprochen wurde, klang oft ein banger Unterton an. »Was mich an dem Fall Kirow so besorgt macht«, sagte einer unserer Bekannten, »ist die Auflösung der Gesellschaft der alten Bolschewik«. Bis vor wenigen Wochen war »Alter Bolschewik« bei uns ein Ehrenname und die Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft eine hohe Auszeichnung. Am 26. Mai wurde die Gesellschaft ohne politische Begründung aufgelöst und ihr Gebäude beschlagnahmt.

Dieses Ereignis wurde in den ersten Wochen oft besprochen. Es gab sogar ein Scherzwort:

»Haben Sie gehört? Die letzte konterrevolutionäre Organisation ist aufgelöst!«

»Was denn für eine?«

»Die Gesellschaft der alten Bolschewiken.«

Es war ein Scherz – aber ein bitterer Scherz.

So hörte ich als 13-jähriger, politisch interessierter Junge viele Gespräche, optimistische und pessimistische Betrachtungen – denn damals, vor der großen Säuberung von 1936 bis 1938, konnte man in der Sowjetunion noch manches freie Gespräch führen.

Am 1. September 1935 wurde ich in die deutsche »Karl-Liebknecht-Schule« in Moskau aufgenommen. Das schöne, moderne vierstöckige Schulhaus mit großen, sonnigen Klassenräumen gehörte zu den 72 neuen Schulgebäuden, die im Jahre 1935 in Moskau errichtet worden waren. Äußerlich sah es so aus wie jedes moderne Schulgebäude in Westeuropa auch. Als ich es jedoch betrat, schaute ich erstaunt in eine Ecke. Da stand eine große Statue von Stalin. Auf dem Sockel war zu lesen:

ES GIBT KEINE FESTUNG, DIE DIE BOLSCHEWIKI NICHT ERSTÜRMEN KÖNNEN!

STALIN

Im Hauptgang der Schule befand sich eine neue Losung. Mit weißen Lettern prangten auf rotem Tuch die Worte:

LERNEN, LERNEN UND NOCHMALS LERNEN!

LENIN

Ich meldete mich beim Direktor, dem Genossen Shelasko, um die Einschulungsformalitäten zu beenden. Die Einschulung war nicht leicht gewesen, da sich das sowjetische Schulsystem schon in seinem Aufbau erheblich vom Schulsystem anderer Länder unterscheidet. In der Sowjetunion begann die Schulpflicht damals mit dem 8. Lebensjahr; es gibt eine Einheitsschule, wobei die ersten 7 Klassen für alle obligatorisch sind, während die 8., 9. und 10. Klasse von jenen besucht werden, die an einer Hochschule oder Universität studieren wollen. »Nach dem sowjetischen Schulsystem wirst du in die 6. Klasse eingestuft«, sagte mir der Direktor. Etwas zögernd ging ich die Treppe hinauf. Vom Lehrer wurde ich als »Neuer« vorgestellt. Die Schüler starrten mich neugierig an und flüsterten miteinander. Ich setzte mich, noch etwas befangen, auf meinen neuen Platz. Neben mir hing eine Wandzeitung. Als ich meine Klassenkameraden betrachtete, sah ich, dass alle ein rotes Pioniertuch trugen. Alle? Ich schaute mich noch einmal um. Ganz rechts vorne saß ein Mädchen, das keins hatte. Aber sie war die Einzige.

Es wurde in deutscher Sprache unterrichtet – allerdings nach sowjetischen Lehrbüchern. Die Lehrer waren zum größten Teil deutsche Emigranten, die, genau wie wir, über Schweden, Frankreich oder die Tschechoslowakei in die Sowjetunion emigriert waren.

Lehrplan und Unterrichtsstoff entsprachen genau dem der russischen Schule. Alle Lehrbücher, selbst die für Mathematik und Physik, waren wortgetreue Übersetzungen aus dem Russischen. Wenn mir zu Anfang die äußere Ähnlichkeit mit meinen bisherigen Schulen aufgefallen war, so merkte ich doch schon nach wenigen Tagen einen großen Unterschied. In der Karl-Liebknecht-Schule wurde viel mehr verlangt als in allen Schulen, die ich vorher besucht hatte. Wir bekamen sehr viele Hausaufgaben und mussten uns ziemlich anstrengen, um das Pensum zu schaffen.

Wir lernten fast täglich eine Stunde Russisch, als zweite Fremdsprache noch Englisch. Auf mathematische und naturwissenschaftliche Fächer wurde besonders großer Wert gelegt. Bereits in der 6. Klasse gab es Unterricht in Algebra, Geometrie und Physik und anstelle des Zeichenunterrichts ein Fach, das Tschertschenije (»Technisches Zeichnen«) genannt wurde. In Geschichte nahmen wir die Antike durch; in Geografie die »Geografie der kapitalistischen Länder« (damit waren alle Staaten außer der Sowjetunion gemeint), wobei auch auf die Wirtschaftsstruktur und die politischen Verhältnisse der einzelnen Länder eingegangen wurde. Im Literaturunterricht lernten wir gleichzeitig die russische und die deutsche...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2017
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Bericht • DDR • Emigration • Innen-Politik • Leben • Nationalsozialismus • Sowjetunion • Sozialismus • Stalinismus • Wolfgang Leonhard
ISBN-10 3-462-31754-7 / 3462317547
ISBN-13 978-3-462-31754-1 / 9783462317541
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