Homo hapticus (eBook)
288 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-44185-5 (ISBN)
Dr. habil. Martin Grunwald, geboren 1966, gründete 2008 das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. Dort erforscht er die Wirkungsweise des menschlichen Tastsinns, entwickelt Therapien für psychisch bedingte Störungen der Körperwahrnehmung und berät als Begründer des Haptik-Designs weltweit Industrieunternehmen bei der Gestaltung neuer Produkte. Martin Grunwalds Buch Human Haptic Perception (2008 erschienen) gilt als Standardwerk der internationalen Haptik-Forschung.
Dr. habil. Martin Grunwald, geboren 1966, gründete 2008 das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig. Dort erforscht er die Wirkungsweise des menschlichen Tastsinns, entwickelt Therapien für psychisch bedingte Störungen der Körperwahrnehmung und berät als Begründer des Haptik-Designs weltweit Industrieunternehmen bei der Gestaltung neuer Produkte. Martin Grunwalds Buch Human Haptic Perception (2008 erschienen) gilt als Standardwerk der internationalen Haptik-Forschung.
… und skeptische Autobauer
In dem großen und fensterlosen Besprechungsraum war es ganz still. Statt freundlichen Applauses herrschte Schweigen, und der junge Wissenschaftler sah in finstere Mienen. Es folgten beklemmende Sekunden. Deutsche Autobauer hatten ihn eingeladen – Mitte der 1990er-Jahre – und wollten wissen, ob der Tastsinn ein wichtiges oder eher unwichtiges Sinnessystem ist. Die Stille wurde endlich durch einen der Zuhörer unterbrochen, der mit energischen Bewegungen seine Papiere vom Tisch klaubte und sichtlich frustriert die Tür ansteuerte. Im Hinausgehen schüttelte er den Kopf und machte eine Geste, die überdeutlich signalisierte, dass er genug gehört hatte. Die Tür war noch nicht geschlossen, da packten auch schon zwei weitere Herren ihre Unterlagen zusammen und gingen wortlos davon. Der junge Wissenschaftler, Anfang 30, stand immer noch am Overheadprojektor und wartete auf Fragen. Aber niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Die verbliebenen Zuhörer waren völlig mit sich selbst beschäftigt. Leise redeten einige miteinander, jedoch nicht über den Tisch hinweg. Als sich dann die Ersten anzuschreien begannen, wurde offensichtlich, dass sich gegnerische Gruppen gegenübersaßen.
Die eine Seite vertrat die Auffassung, dass zum Design von Autos auch die Beachtung des Tastsinns gehört. Vertreter dieser Gruppe hatten den jungen Wissenschaftler offenbar eingeladen und sahen sich durch seinen Vortrag bestätigt. Die anderen fühlten sich offenkundig provoziert und argumentierten zunehmend verbalaggressiv. »Unsinn« und »Luxusprobleme« tobten sie. Die Befürworter einer haptischen Perspektive im Autobau griffen die positiven Beispiele aus dem Vortrag – technische Lösungen konkurrierender Autobauer oder aus anderen Industriebereichen – auf und hielten sie ihren Kontrahenten buchstäblich unter die Nase, doch diese nutzten sie nicht zum sachlichen Vergleich, sondern empfanden sie als pure Kritik.
Hinreichend undiplomatisch hatte der junge Wissenschaftler Türgriffe, Schalter und sonstige Bedienelemente verschiedener Autobauer verglichen und deren haptische Stärken und Schwächen hervorgehoben. Im Grundsatz folgte er der Devise, dass die Dinge speziell im Auto nicht gut sind, wenn sie nur gut aussehen. Rein optisch getriebenes Design, das die Bedürfnisse des menschlichen Tastsinns nicht berücksichtigt – so die zentrale Botschaft des Vortrags –, wird zukünftig nicht erfolgreich sein können. Denn die Mitbewerber stehen in den Startlöchern, und wer weiterhin nur der üblichen visuell dominierten Gestaltungslogik folgt und auf die verschiedenen haptischen Bedürfnisse der Nutzer nicht eingeht, wird auf dem weltweiten Markt Verluste hinnehmen müssen. Das war für einige der Zuhörer zu viel gewesen. Man könne nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Und überhaupt sei ja gar nicht erwiesen, dass es sich hierbei um einen übergreifenden Trend handle. In den einschlägigen Automobilzeitungen sei davon noch nichts zu lesen, und was die Konkurrenz mache, sei die eine, was man selbst mache, die andere Sache. Für solche Spinnereien werde man wohl auch in Zukunft kein unnötiges Geld ausgeben. Es folgten dann doch noch ein paar höfliche Fragen an den Vortragenden. Als die Rede jedoch auf notwendige Forschungen zur Beantwortung sehr spezifischer und anwendungsorientierter Fragen kam, wurden die Mienen der Gegenseite noch finsterer, als sie es ohnehin schon waren. Wenige Jahre später gründete genau dieses Unternehmen eine eigene Forschungsgruppe Haptik, die noch heute und sehr erfolgreich für diesen Autobauer tätig ist.
Allen diesen Geschichten ist gemeinsam, dass im Zentrum das Tastsinnessystem des Menschen steht und dass die beteiligten Protagonisten eher schlecht als recht verstehen, warum und wieso dieser Sinn von Bedeutung sein soll. Die Autobauer geraten fast körperlich aneinander, nur weil Ansprüche des Tastsinns an die Innenausstattung zukünftig in Erwägung gezogen werden sollen. Klinische Psychologen haben hinreichend Mühe, einen biopsychologischen Zusammenhang zwischen Magersucht und Einschränkungen der Tastsinnesleistungen für möglich zu halten. Die jungen Eltern schließlich ahnen nicht, dass fast schon mikroskopische Unterschiede zwischen verschiedenen Schnullern von einem acht Monate alten Kleinstkind registriert und bewertet werden können.
Die Zögerlichkeit der Protagonisten ist, wenn auch hinderlich in der Sache, so doch verständlich. Im Alltag gibt es höchst selten Anlässe, über das Vorhandensein und die Leistungen des Tastsinnessystems nachzudenken, und weder in der Schule noch während des Studiums wird man diesbezüglich sonderlich belehrt. Und wer mit dem visuellen Bilderrausch der Neuzeit stetig und ohne Unterlass darüber unterrichtet wird, dass – angeblich – achtzig Prozent aller Informationen über das visuelle System verarbeitet werden, der wird keinen Gedanken auf die Bedeutung des Tastsinnessystems verschwenden. Die Fähigkeit, mit unseren Fingern, mit unserem Körper die verschiedensten Eigenschaften der äußeren Welt und unseres eigenen Körpers tastend zu erkunden, ist für uns so normal, wie wir sehen, hören, riechen und schmecken können. »Bei Sinnen zu sein« ist der eigentliche Grundzustand unserer menschlichen Existenz. Von Ausnahmen abgesehen. Es gibt demnach keine prinzipielle Notwendigkeit, unsere Tastsinnesfähigkeit im Alltag zu hinterfragen. So menschlich diese Haltung im Allgemeinen sein mag, so erklärungsbedürftig ist die Zurückhaltung in der wissenschaftlichen Forschung.
Der Tastsinn erfährt – wie auch der Geruchs- und der Geschmackssinn – eine gleichermaßen dezidierte wie kontinuierliche Nichtbeachtung und kultivierte Abwertung innerhalb der Psychologie und der Medizin – insbesondere in Relation zum Sehsinn. Die denkhistorischen Wurzeln dieses Verständnisses finden sich unter anderem in der griechischen Philosophie seit Platon und Aristoteles.[1] Religionsphilosophische Beiträge des Mittelalters und späterhin auch medizinisch-naturwissenschaftliche Sichtweisen auf das Wahrnehmungsvermögen des Menschen haben nicht unwesentlich zu einer erkenntnistheoretischen und biologischen Abwertung des Tastsinnessystems beigetragen.
Selbst die vergleichsweise neue wissenschaftliche Disziplin der Psychologie, die sich Ende des 19. Jahrhunderts etablierte – und deren erstes akademisches Institut durch Wilhelm Wundt in Leipzig gegründet wurde –, trug weder in ihren institutionellen Anfängen noch heute zu einem substanziellen Perspektivenwechsel bei. Menschliches Erleben und Verhalten unterliegen auch nach moderner Lesart Kognitions-, Emotions-, Gedächtnis- und sonstigen Prozessen, wobei diese konsequent von der körperlichen Basis des menschlichen Organismus entkoppelt werden. So wird aktuell in den Lebenswissenschaften, ganz ähnlich der platonschen Position vom »göttlichen Sehsinn«, einvernehmlich die Ansicht vertreten, dass der visuellen Wahrnehmung ein unhinterfragbares Primat innewohnt und sie eine Superposition im individuellen Erkenntnisprozess einnimmt. Dagegen wird dem Tastsinnessystem eher eine untergeordnete, wenn überhaupt irgendeine erkenntnisrelevante Position zugeordnet.
Weltweit forschen nur wenige Hundert Wissenschaftler zu den grundlagen- und anwendungsbezogenen Aspekten der menschlichen Tastsinneswahrnehmung. Um ein Vielfaches größer ist die Anzahl der Wissenschaftler als auch der Institutionen weltweit, die sich mit der Erforschung der biologischen und der psychologischen Grundlagen des visuellen und auch des auditiven Systems beschäftigen. Wir wissen daher heute in erheblichem Umfang und aus verschiedenen Fachdisziplinen gespeist, wie diese beiden »wichtigsten« Sinnessysteme des Menschen funktionieren. Und offenkundig profitieren sowohl die Anwendungsforschung als auch die Medizin und andere Lebenswissenschaften vom Primat des Sehens und Hörens. So führte das stetig wachsende biologische Gesamtverständnis um die Funktionsweise biochemischer Teilelemente bis hin zu komplexen neuronalen Verarbeitungsmechanismen des visuellen und des auditiven Systems beispielsweise zur Entwicklung bioelektrischer Hilfsmittel, sodass es heute möglich ist, Seh- und Hörprothesen in den menschlichen Körper einzupflanzen. Auch die technische Nachbildung dieser Sinnesqualitäten in der Robotik oder in virtuellen Umwelten gelingt in beachtlicher Weise. Vor diesem sachlichen Hintergrund schließt sich der quasi-logische Kreis in sich selbst bestätigender Weise: Die Erfolge bestätigen rückwirkend das Vorgehen in der Vergangenheit. Je deutlicher die theoretischen und die praktischen Erfolge sichtbar und hörbar wurden, umso stärker wurde aber die forschende Aufmerksamkeit von den anderen Sinnessystemen abgelenkt.
Entgegen dieser Haltung kommt es, kaum beachtet von der breiten Öffentlichkeit, allmählich zu einem Perspektivenwechsel hinsichtlich der Bedeutung und der Funktion des Tastsinnessystems für den Menschen. Weltweit zunehmende Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet erbringen erstaunlich neue Einsichten und ein besseres Verständnis der Funktionsweise. Es drängen sich aber auch immer mehr grundsätzliche Fragen auf, die mit dem bisherigen Sinnesverständnis nicht in Einklang zu bringen sind. Einige dieser Fragen betreffen den biologischen – den phylogenetischen, also stammesgeschichtlichen – Ursprung unserer Tastsinnesfähigkeit. Andere die wundersame ontogenetische (individualgeschichtliche) Gebundenheit der menschlichen Existenz an die Erfahrungen einer körperlichen Interaktion und Stimulation. Anders formuliert: Ist menschliches oder jegliche Form von Leben überhaupt denkbar ohne das Vorhandensein und die Wirkung eines wie auch immer differenzierten...
Erscheint lt. Verlag | 25.8.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Ansteckung • Berührung • Corona • Corona Buch • Corona-Krise • Erzählendes Sachbuch • Experimentelle Psychologie • Forschungsergebnis • Forschungstransfer • Fühlen • Gesundheit • Haptik • heilende Berührung • Hirnforschung • Isolation • Medizin • Partnerschaft • Partnerschaft & Beziehung • Produktdesign • Psychologie • psychologie bücher • Sachbuch Gesundheit • Sachbuch Medizin • Sachbuch Psychologie • Sinne • Sinneswahrnehmung • soziale Isolation • Tasten • Tastsinn • Tastsinn fördern • wissenschaft buch |
ISBN-10 | 3-426-44185-3 / 3426441853 |
ISBN-13 | 978-3-426-44185-5 / 9783426441855 |
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