Kampf um Gaia (eBook)
522 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75108-4 (ISBN)
Die moderne Wissenschaft hat tief greifend unser Verständnis der Natur geprägt. In den letzten drei Jahrhunderten bildete diese Idee der Natur den Hintergrund all unseres Tuns. Aufgrund der ökologischen Folgen des menschlichen Handelns tritt die Natur jedoch heute aus dem Hintergrund auf die Bühne, wie Bruno Latour in seinem neuen, faszinierenden Buch zeigt. Die Luft, die Meere, die Gletscher, das Klima, die Böden, alles interagiert mit uns. Wir haben die Epoche der Geohistorie betreten, das Zeitalter des Anthropozäns - mit dem Risiko eines Krieges aller gegen alle.
Die alte Natur verschwindet und weicht einem Wesen, das schwierig zu bestimmen ist. Es ist alles andere als stabil und besteht aus einer Reihe von Feedbackschleifen in ständiger Bewegung. Gaia ist sein Name. Latour argumentiert, dass die komplexe und mehrdeutige Gaia-Hypothese, wie sie von James Lovelock entwickelt wurde, ein idealer Weg ist, um die ethischen, politischen, theologischen und wissenschaftlichen Aspekte des nunmehr veralteten Begriffs der Natur zu entwirren. Er legt den Grundstein für eine zukünftige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern, Theologen, Aktivisten und Künstlern, während wir beginnen, mit dem neuen Klimaregime zu leben.
<p>Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. Für sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.</p>
Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie, von 1982 bis 2006 Professor am Centre de l'Innovation an der Ecole nationale supérieure de mine in Paris. Gastprofessor an der University of California San Diego, der London School of Economics und am historischen Seminar der Harvard University. Seit Juni 2007 ist Bruno Latour Professor am Sciences Politiques Paris und dem Centre de Sociologie des Organisations (CSO). Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 2013 den Holberg- Preis.
EINLEITUNG
Alles begann mit Bildern aus einem Tanz, die ich vor etwa zehn Jahren gesehen habe und nicht mehr losgeworden bin: Während eine Tänzerin vor etwas zurückweicht, vor dem ihr zu grauen scheint, wirft sie immer besorgtere Blicke hinter sich, als häufe ihre Flucht hinter ihrem Rücken Hindernisse an, die sie immer mehr in ihren Bewegungen hemmen, bis sie am Ende gezwungen ist, sich ganz umzudrehen – und bestürzt, fassungslos, wehrlos sieht sie etwas noch Grausigeres auf sich zukommen, was sie zwingt, erneut zurückzuweichen. Auf der Flucht vor Grauenhaftem stößt sie auf Schlimmeres, das ihre Flucht teilweise erst geschaffen hat.
Abb. 0.1 Stéphanie Ganachaud, 12. Februar 2013
Ich war davon überzeugt, daß dieser Tanz den Geist der Zeit ausdrückt, daß er sie auf eine einzige, für mich höchst verwirrende Situation zurückführt: auf das, wovor die Moder14nen zuerst geflohen waren, das archaische Grauen vor der Vergangenheit, und auf das, dem sie heute gegenüberstanden: dem Einbruch einer enigmatischen Figur, der Quelle eines Grauens, das nicht mehr hinter uns liegt, sondern vor uns. Den Einbruch dieses Monsters, halb Zyklop, halb Leviathan, habe ich zunächst unter dem seltsamen Namen »Kosmokoloss« verzeichnet;[1] dann verschmolz es für mich sehr rasch mit jener anderen, so umstrittenen Figur, in die meine Lektüre von James Lovelock mich eintauchen ließ: Gaia. Ich konnte mich ihr nicht mehr entziehen, ich mußte zu verstehen suchen, was in dieser einigermaßen beängstigenden Form einer zugleich mythischen, wissenschaftlichen, politischen und wahrscheinlich auch religiösen Kraft auf mich zukam.
Da ich nichts von Tanz verstehe, brauchte ich einige Jahre, bis ich in Stéphanie Ganachaud die ideale Interpretin dieser kurzen Szene fand.[2] Inzwischen hatte ich einige gute Freunde davon überzeugt, die obsessive Figur Kosmokoloss zu einem Theaterstück zu verarbeiten; das Ergebnis war Gaia Global Circus.[3] Infolge einer jener Koinzidenzen, von der nicht überrascht sein dürfte, wer schon einmal Opfer einer Obsession 15war, erhielt ich damals die Einladung des Gifford Lectureships Committee, 2013 in Edinburgh einen sechsteiligen Vortragszyklus mit dem ebenfalls recht enigmatischen Titel »Natürliche Religion« zu bestreiten. Wie sollte ich einem Angebot widerstehen, das bereits William James, Alfred North Whitehead, John Dewey, Henri Bergson, Hannah Arendt und viele andere verlockt hatte?[4] Bot sich da nicht die ideale Gelegenheit, mich argumentativ mit einer Aufgabe auseinanderzusetzen, vor die mich zunächst der Tanz und das Theater gestellt hatten? Zumindest das Medium war mir diesmal nicht allzu fremd, zumal ich gerade eine Untersuchung über die Existenzweisen abgeschlossen hatte, in deren Verlauf Gaia sich immer mehr vordrängte.[5] Hier finden sich nun meine Edinburgher Vorträge in überarbeiteter, erweiterter und völlig umgeschriebener Form wieder.
Wenn ich bei dieser Veröffentlichung das Genre, den Stil und den Tonfall von Vorträgen beibehalte, so deswegen, weil die Anthropologie der Modernen, an der ich seit vierzig Jahren arbeite, immer mehr mit dem in Resonanz tritt, was man das Neue Klimaregime nennen kann.[6] Mit diesem Begriff 16fasse ich die gegenwärtige Situation zusammen, in der der physische Rahmen, den die Modernen als gesichert erachtet hatten, der Boden, auf dem ihre Geschichte sich immer abgespielt hatte, ins Wanken geraten ist. Als würde eine Bühne lebendig und versuchte, am dramatischen Geschehen mitzuwirken. Von diesem Augenblick an ändert sich an der Art und Weise, Geschichten zu erzählen, von Grund auf alles, so daß in die Politik Einzug hält, was jüngst noch zur Natur gehörte – einer Figur, die damit zu einem Tag für Tag weniger entzifferbaren Rätsel wird.
Seit Jahren versuchten meine Kollegen und ich, dieses Eindringen der Natur und der Naturwissenschaften in die Politik aufzufangen; wir hatten mancherlei Methoden entwickelt, die ökologischen Kontroversen zu verfolgen, ja zu kartographieren. Aber all diese Spezialuntersuchungen hatten die Gewißheiten derer nie zu erschüttern vermocht, die fortfuhren, sich eine soziale Welt ohne Objekte zu imaginieren und eine natürliche Welt ohne Menschen – und ohne erkennenden Wissenschaftler. Während wir uns damit abmühten, einige epistemologische und soziologische Knoten aufzudröseln, stürzte das ganze Gebäude, das deren Funktionen verteilt hatte, zusammen oder vielmehr: fiel buchstäblich wieder der Erde zu. Wir waren noch dabei, über mögliche Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Wesen zu diskutieren, über die Rolle der Wissenschaft bei der Produktion der Objektivität, über die mögliche Bedeutung künftiger Generationen, da ergriffen die Naturwissenschaftler selbst immer häufiger das Wort, um von den gleichen Dingen zu sprechen, aber auf einer ganz anderen Skala: Sie benutzten Wörter wie »Anthropozän«, »große Beschleunigung«, »planetarische Grenzen«, »Erdgeschichte«, »tipping points«, »kritische Zonen« – erstaunliche Formulierungen, die aber erforderlich 17zu sein schienen und denen wir nach und nach begegnen werden, um diese Erde zu verstehen, die auf unser Handeln zu reagieren scheint.
Mein ursprüngliches Fach – die Wissenschaftssoziologie, oder besser Wissenschaftsanthropologie – wird heute durch die weithin verbreitete Einsicht in ihrer Stellung gestärkt, daß die alte Verteilung der Gewichte zwischen Wissenschaft und Politik obsolet geworden ist. Ganz als hätte das vielgestaltige Eindringen der Klimafrage und, seltsamer noch, ihrer Verbindung mit dem Regieren uns von einem Ancien Régime in ein Nouveau Régime gelangen lassen – wobei von Klima und Regierung im weitesten Sinne die Rede sein soll, in dem Sinn, den die Geographiehistoriker nur noch innerhalb der seit langem aus der Mode gekommenen »Klimatheorie« Montesquieus benutzten. Plötzlich schwant allen, daß ein anderer Geist der Gesetze der Natur im Entstehen begriffen ist und daß wir beginnen müssen, ihn niederzuschreiben, wenn wir die von jenem Neuen Regime entfesselten Gewalten überleben wollen. Unser Werk versteht sich als Beitrag zu dieser kollektiven Unternehmung.
Gaia wird hier als Anlaß einer Rückkehr zur Erde aufgefaßt, einer Rückkehr, die es ermöglicht, den endlich bescheidener und irdischer definierten Wissenschaften, Politiken und Religionen eine differenziertere Version ihrer spezifischen Qualitäten abzuverlangen als bisher. Die Vorträge sind paarweise angeordnet: Die beiden ersten betreffen den Begriff der Wirkungsmacht (im Englischen agency), einen unerläßlichen Operator für den Austausch zwischen bisher streng unterschiedenen Domänen und Disziplinen; die beiden folgenden führen die Hauptpersonen ein: zuerst Gaia, dann Anthropozän; die Vorträge fünf und sechs definieren die Völker, die um die Besetzung der Erde kämpfen, und die Epoche, in der 18sie sich befinden; die beiden letzten erforschen das geopolitische Problem der im Kampf begriffenen Territorien.
Die Leserschaft eines Buchs ist noch schwieriger einzukreisen als ein Vortragspublikum, aber da wir nun einmal in einer geologisch und menschlich zugleich geprägten Geschichtsepoche angelangt sind, möchte ich mich an Leser mit kombinierten Kompetenzen wenden. Ohne die Naturwissenschaften ist es unmöglich zu verstehen, was mit uns geschieht; sie haben uns als erste alarmiert, aber anhand des Bildes, das die alte Epistemologie von ihnen entwarf, sind sie nicht zu verstehen. Die Naturwissenschaften sind inzwischen so untrennbar mit der gesamten Kultur verbunden, daß es zu ihrem Verständnis der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bedarf. Einem hybriden Thema gebührt ein hybrider Stil, der sich an ein zwangsläufig ebenfalls hybrides Publikum wendet.
Hybrid ist, wie Sie sich denken können, auch die Entstehung eines solchen Buchs. Wie alle Forscher bin ich gezwungen, auf englisch zu schreiben, um gelesen zu werden. In dieser Sprache wurden die sechs Gifford-Vorträge verfaßt, die ich im Februar 2013 in Edinburgh hielt; zusammen mit einem weiteren Vortrag von 2013 wurden sie von Franck Lemonde ins Französische übersetzt.[7] Aber anschließend ist das eingetreten, was Übersetzern passieren kann, wenn sie das Pech haben, in die Muttersprache eines Autors zu übersetzen, und was sie am meisten verabscheuen: Ich habe den Text völlig überarbeitet, um zwei neue Kapitel erweitert und derart umgeschrieben, daß ein ganz neuer Text entstanden ist (den ich nun wiederum für die englische Veröffentlichung übersetzen las19sen muß …). Ich bitte meinen Übersetzer tausendmal um Entschuldigung.
Autoren können sich mit der Illusion schmeicheln, daß ihre Leser von Anfang bis Ende des Buchs dieselben bleiben und von Kapitel zu Kapitel dazulernen. Für den Vortragenden, der sich jedesmal an ein partiell anderes Publikum wenden muß, gilt das nicht. Daher kann jeder der acht Vorträge für sich gelesen werden und alle in beliebiger Reihenfolge – was spezielle Ausführungen angeht, so habe ich sie in die Anmerkungen verwiesen.
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Ich bin...
Erscheint lt. Verlag | 13.6.2017 |
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Übersetzer | Achim Russer, Bernd Schwibs |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Face à Gaïa. Huit conférences sur le nouveau régime climatique |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Erderwärmung • Face à Gaïa. Huit conférences sur le nouveau régime climatique deutsch • gaia • Holberg-Preis 2013 • Klima • Klimawandel • Kulturpreis der Münchener Universitätsgesellschaft 2010 • Kyoto Prize 2021 • lovelock • STW 2350 • STW2350 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2350 • Umwelt • Umweltschutz |
ISBN-10 | 3-518-75108-5 / 3518751085 |
ISBN-13 | 978-3-518-75108-4 / 9783518751084 |
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