Die Erfindung des Marxismus (eBook)
592 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-21435-7 (ISBN)
Der Marxismus ist tot? Keineswegs. Denn mit der Erschütterung vieler politischer Gewissheiten scheinen Karl Marx und seine Ideen neue Bedeutung zu erlangen. Christina Morina erzählt, wie dieses Ideenpaket einst seine ungeheure Anziehungskraft entwickelte. Die faszinierende Schöpfungsgeschichte einer Weltanschauung, die unseren Blick auf die Wirklichkeit für immer verändert hat.
Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie in dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis. Christina Morina studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Journalistik an den Universitäten Leipzig, Ohio und Maryland (USA) und wurde 2007 mit einer Arbeit über den Krieg gegen die Sowjetunion in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert. Sie war von 2008 bis 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2017 erschien bei Siedler »Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte«. Für »Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren« erhielt sie 2024 den Deutschen Sachbuchpreis.
Geboren ins 19. Jahrhundert:
Familiäre Herkunft und Prägung
Wer sich scheut vor dem dichten Walde, in dem der Palast der Idee steht, wer sich nicht durchhaut mit dem Schwerte und küssend die schlafende Königstochter weckt, der ist ihrer und ihres Reiches nicht wert, der mag hingehen, Landpastor, Kaufmann, Assessor oder was er sonst will, werden, ein Weib nehmen, Kinder zeugen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit, aber das Jahrhundert erkennt ihn nicht als seinen Sohn an.1
FRIEDRICH ENGELS, 1841
Wollte man sich die neun jungen Menschen, um die es im Folgenden gehen wird, auf einem Gruppenporträt vorstellen, wären darauf acht Männer und eine Frau zu sehen, deren Lebenswege sich schon aufgrund ihrer unterschiedlichen geografischen Herkunft grundsätzlich unterschieden. Andererseits glichen sie sich auf bemerkenswerte Weise, und zwar nicht nur vordergründig aufgrund der – keineswegs zwangsläufigen – Hinwendung zum Marxismus im jungen Erwachsenenalter, sondern auch hinsichtlich ihrer Vorprägungen in Elternhaus und Schule sowie den sich daraus formenden Selbst- und Gesellschaftsbildern.
Um sich mit ihnen vertraut zu machen, steht am Anfang die Frage nach der jeweils individuellen Herkunft, Schulbildung und jugendlichen Lektüre und damit nach der frühen, sozusagen vorsozialistischen Politisierung. Anhand einer teils überbordenden, aber oft unbefriedigenden biografischen Literatur sowie bisher vernachlässigter Selbstzeugnisse lassen sich diese individuellen Sozialisationswege nicht nur detailliert rekonstruieren, sondern durchaus auch aufeinander beziehen, selbst wenn sie sich über mehrere europäische Länder verteilt entfalteten. Denn alle neun waren nicht nur qua Geburt Kinder des 19. Jahrhunderts, sondern umarmten schon im Heranwachsen ihr Zeitalter als persönliche Herausforderung. Ihre in jungen Jahren verfassten Briefe, Tagebücher, Zeichnungen und Notizen zeigen, wie sie, ganz wie der junge Friedrich Engels – vielen später ein intellektueller Ziehvater –, voller Emphase nach der Schneise suchten, die sie eigenhändig in jenen »dichten Walde« schlagen konnten, in dem die Freiheit wie eine Prinzessin darauf wartete, wach geküsst zu werden.
Eduard Bernstein und Jules Guesde wuchsen in einfachen, ja ärmlichen Verhältnissen inmitten europäischer Metropolen auf. Bernstein wurde am 6. Januar 1850 als siebtes von 15 Kindern in eine jüdische Berliner Familie geboren. Diese gehörte »zwar nicht der Bourgeoisie [an], aber auch nicht dem Proletariat«, wie er es selbst einmal etwas unschlüssig formulierte.2 Bernsteins Vater arbeitete zunächst als Klempner, später als Eisenbahningenieur und konnte mit seinem Einkommen so der großen Familie ein Leben in »erträglicher Armut« sichern.3 Aus ebenso einfachen Verhältnissen stammte Jules Guesde. Der am 11. November 1845 unter dem Namen Jules Bazile geborene Franzose wuchs mitten in Paris, auf der Île Saint-Louis, auf. Guesdes Vater verdiente den stets knappen Lebensunterhalt für die siebenköpfige Familie als Privatlehrer.4 Finanzielle Nöte sollten Guesde sein Leben lang begleiten. Trotz seiner hervorragenden Schulleistungen konnte er aus Geldmangel keine Universität besuchen und arbeitete zuerst als Verwaltungsangestellter. Mit Anfang 20 wurde er Journalist. Bernstein besuchte mithilfe eines Stipendiums, das ihm ein Verwandter gewährte, immerhin das Gymnasium und konnte sich so zunächst als Banklehrling und später als Privatsekretär ein relativ geregeltes Einkommen sichern. Beide waren als Kinder oft krank und eher schwächlich; vor allem Guesde war auch im Erwachsenenalter bei anhaltend schlechter Gesundheit.
Die übrigen sieben Protagonisten entstammten eher gut situierten Familien. Die Eltern von Georgi Plechanow und Wladimir Iljitsch Lenin besaßen Land- beziehungsweise Stadtgüter, deren Haushalt von Bediensteten versorgt wurde. Nach einer materiell sorglosen Kindheit verloren beide jedoch in jugendlichem Alter ihre Väter. Sie mussten daraufhin die Rolle des Hausherrn übernehmen und die Abwicklung des elterlichen Besitzes regeln, was beide frühzeitig sowohl mit Geldfragen als auch mit der ländlichen Bevölkerung in Berührung brachte. Georgi Plechanow wurde als erstes von zwölf Kindern am 29. November 1856 in Gudalowka geboren, einem Örtchen in der zentralrussischen Provinz Tambow, etwa 450 km südöstlich von Moskau. Sein Vater entstammte dem tatarischen Adel und besaß ein Landgut von 109 Hektar und 50 Leibeigenen.5 Bevor er sich auf die Gutsverwaltung zurückzog, hatte Plechanows Vater jahrzehntelang im zaristischen Heer gedient. Zwar hatte die Mutter selbst so viel Wohlstand mit in die Ehe gebracht, dass sich der Wert des Gutes verdoppelte, doch nach der Bauernbefreiung 1861 kämpfte die Familie mit anhaltenden finanziellen Problemen.
Als Georgi Plechanow 15 Jahre alt war, gab der Vater die Gutsverwaltung auf und wechselte in die lokale Selbstverwaltung (Zemstwo). Beide Entwicklungen prägten Plechanows Jugend nachhaltig. Sie sensibilisierten ihn für politische Fragen, denn sowohl der Bankrott des Gutes als auch der Wechsel in den Staatsdienst resultierten unmittelbar aus den einschneidenden politischen Reformen unter Zar Alexander II. 1873 starb der Vater, und Plechanow musste – er war damals 17 – der Mutter helfen, den Familienbesitz zu veräußern. Im Verlauf dieses Verfahrens kam es zu heftigen, teils sogar gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den lokalen Bauern. Diese Ereignisse sollten sein politisches Denken nachhaltig prägen.
Wladimir Uljanow, der später den Namen Lenin annahm, wurde am 10. April 1870 in Simbirsk an der Wolga, 700 km östlich von Moskau, geboren – auch er wuchs in der Provinz auf. Sein Vater Ilja war Physik- und Mathematiklehrer und brachte es als liberaler Pädagoge bis zum Schulinspektor und in den Adelsstand. Lenins Mutter, einer ebenfalls landbesitzenden, deutsch-schwedisch-russischen Familie entstammend, sprach mehrere Sprachen und ließ sich ebenfalls für den Lehrerberuf ausbilden. Sie widmete sich aber nach der Eheschließung der Familie und den Kindern. Die relative materielle Sicherheit und konstante Bildungsförderung der Eltern prägten Lenins Kindheit, obwohl auch er schon in früher Jugend auf dramatische Weise mit der »großen« Geschichte in Berührung kam. Ein Jahr nachdem sein Vater überraschend an einer Hirnblutung gestorben war, wurde sein älterer Bruder Alexander 1887 wegen revolutionärer Umtriebe und infolge eines missglückten Attentats auf den neuen Zaren gehängt. Lenin hatte noch eine ältere Schwester sowie zwei jüngere Geschwister, doch wie Plechanow musste auch er als 17-Jähriger die Rolle des Familienvorstandes übernehmen und sich um die finanziellen Belange der zwar immer noch wohlhabenden, aber infolge von Alexanders Hinrichtung nun gesellschaftlich geächteten Familie kümmern.6
Auch Peter Struve und Rosa Luxemburg stammten ursprünglich aus dem russischen Zarenreich – Struve aus der Provinz Perm, über 1000 km östlich von Moskau gelegen, und Luxemburg aus Zamość, einer Stadt 250 km südöstlich von Warschau am westlichen Rand des Reiches. Struves Familie war erst Anfang des 19. Jahrhunderts aus Norddeutschland nach Sibirien emigriert, wodurch sich sein deutsch-dänischer Großvater Friedrich Georg Wilhelm Struve dem napoleonischen Militärdienst entzog. Die Familie wohnte zunächst in Dorpat (dem heutigen Tartu in Estland) und übersiedelte später nach St. Petersburg, wo Friedrich Struve als Mathematiker und Astronom zu Rang und Namen kam, in den Adelsstand gehoben wurde und die russische Staatsbürgerschaft erhielt. Peter Struves Vater wurde hoher Verwaltungsangestellter. Er stand dem Großvater in Loyalität und Fleiß für das neue Vaterland zwar in nichts nach, fühlte sich jedoch zeitlebens als »Fremder« und nirgends voll integriert. Er hatte beruflich oft Ärger und musste häufig den Posten wechseln. Zahlreiche Umzüge prägten das Familienleben: Auf St. Petersburg und Astrachan (Südrussland) folgten Perm (Sibirien) und Stuttgart, wo Struve als neunjähriges Kind fließend Deutsch lernte. Die Mutter, eine als unstetig, flatterhaft-erratisch und extrem übergewichtig beschriebene Frau, trug offenbar wenig zur familiären Stabilität bei.7 Dennoch wuchs Struve als der jüngste von sechs Söhnen in gesicherten materiellen Verhältnissen auf. Die Familie verfügte über ausreichend Mittel, um den Kindern eine gute Bildung und damit eine sichere Laufbahn als Lehrer, Diplomat oder Wissenschaftler zu ermöglichen.
Wie Struve wuchs auch Rosa Luxemburg, geboren am 5. März 1871, in relativ stabilen ökonomischen Verhältnissen auf. In ihrer Kindheit war es aus anderen Gründen unruhig, denn die Familie stand in ihrem alltäglichen Leben von zwei Seiten unter Druck: Vonseiten der Mehrheitsgesellschaft bekam sie die zunehmend antisemitisch aufgeladene Stimmung zu spüren. Daneben machten die assimilationsfeindlichen Orthodoxen ihnen zu schaffen. Aus dieser zweifachen Bedrängnis aber speiste sich auch ein der Familie nachgesagter »einzigartige[r] Zusammenhalt«.8 Luxemburgs Vater war als Holzhändler viel unterwegs und durchaus erfolgreich. Die Familie konnte sich ein komfortables Zuhause am zentralen Platz von Zamość, ganz in der Nähe des Rathauses, leisten. 1873 florierte sein Geschäft so sehr, dass die Familie den Umzug nach Warschau wagte, wo Luxemburg als jüngstes von fünf Kindern aufwuchs und zur Schule ging. Als sie drei Jahre alt war, wurde ein Hüftleiden fehldiagnostiziert und falsch behandelt, was zu einer leichten, aber deutlich sichtbaren...
Erscheint lt. Verlag | 25.9.2017 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | eBooks • Eduard Bernstein • Friedrich Engels • Geschichte • Jean Jaurès • Jules Guesde • Karl Kautsky • Karl Marx • Lenin • Marxismus • Rosa Luxemburg • Victor Adler |
ISBN-10 | 3-641-21435-1 / 3641214351 |
ISBN-13 | 978-3-641-21435-7 / 9783641214357 |
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Größe: 4,3 MB
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