Die Aufklärung (eBook)
272 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-21641-2 (ISBN)
Die Vordenker der Aufklärung kämpften dafür, dass der Mensch sich von seinen Vorurteilen befreit, dass er sich nicht von Gefühlen oder unhinterfragten Glaubenssätzen bestimmen lässt, sondern in seinen Entscheidungen und Überzeugungen allein auf Wissen und Vernunft vertraut. Das vielgestaltige und vielstimmige, europaweite Projekt der Aufklärung propagierte religiöse Toleranz, Bürger- und Menschenrechte, Emanzipation, Bildung und persönliche Handlungsfreiheit und war Ausgangspunkt radikaler Veränderungen, die bis in unsere Tage zu spüren sind. In Überblicksdarstellungen und Porträts berühmter Aufklärer wie Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant oder Gotthold Ephraim Lessing beschreiben SPIEGEL-Autoren und Historiker die große Vielfalt der aufklärerischen Ideen und fragen zugleich, welches Erbe diese Epoche hinterlassen hat.
Beginnen lässt Darnton diese geistige Bewegung am Ausgang des 17. Jahrhunderts. Sein Kollege Martin Mulsow, führender Kenner der sogenannten Radikalaufklärer, stimmt zu: Als die zermürbenden Konfessionskriege erstarben und zugleich eine Fülle naturwissenschaftlicher Entdeckungen viele scheinbare Selbstverständlichkeiten infrage stellte, sei die »kritische Masse« erreicht worden, die den morschen spätbarocken Denkhorizont sprengen konnte.
Gelehrte wie René Descartes, John Locke, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz, aber auch etliche Laborvirtuosen wie die Briten Robert Boyle oder Robert Hooke erwiesen die Unzulänglichkeit des überkommenen aristotelischen Wissenschaftsgebäudes. Theologische Forscher und Skeptiker wie Richard Simon, Baruch de Spinoza, Nicolas Malebranche und Pierre Bayle rüttelten an den altgewohnten kirchlichen Dogmen. Naturrechtler wie Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius gründeten den Staat auf einen Gesellschaftsvertrag ohne religiöse Prämissen.
Warum Gottes Eingreifen voraussetzen, wenn auch natürliche Erklärungen möglich waren? Voller Neugier und Zuversicht machten sich unabhängige Köpfe auf allen Gebieten daran, für Weltverständnis und Lebensform des Menschen eigenständige, vernunftgemäße Grundsätze zu entwickeln, immer geleitet vom »Zauberwort« (Edgar Salin) der Natürlichkeit.
Allein dass Denker zunehmend in ihrer Muttersprache, nicht mehr im Gelehrtenlatein argumentierten, sorgte für frischen Wind. So weist der scharfsinnige Philologe und Philosophiehistoriker Arbogast Schmitt (»Wie aufgeklärt ist die Vernunft der Aufklärung?«) darauf hin, dass der Begriff des Bewusstseins erst durch das auf Leibniz fußende aufklärerische Denkgebäude des Hallenser Philosophen Christian Wolff (1679 bis 1754) unter Fachleuten geläufig wurde.
Aber nicht nur ein paar Spezialisten sollten von der neuen Diskussionsfreude profitieren. Die meisten Aufklärer sahen sich verpflichtet, möglichst vielen Zeitgenossen die Chance der Vernunft zu vermitteln. »Von Sokrates wurde gesagt, er hätte die Philosophie vom Himmel gebracht, um unter den Menschen zu wohnen; und ich möchte wohl wünschen, dass von mir gesagt würde, ich hätte die Philosophie aus den Studierstuben und Büchersälen, Schulen und Collegien gebracht, damit sie in den Gesellschaften und Versammlungen, an den Teetischen und in Caffeehäusern wohnen möchte«, verkündete 1711 der Mitgründer des englischen Blatts »The Spectator«, Joseph Addison (1672 bis 1719), ein selbst ernannter Kämpfer gegen die Übel »des Lasters und der Torheit«. Nicht anders dachte sein französischer Kollege, der literarisch-intellektuelle Tausendsassa Voltaire (1694 bis 1778).
In den meisten ihrer Ziele waren Europas Intellektuelle nahezu einig: religiöse Toleranz, Bildung für möglichst viele Menschen, freie öffentliche Diskussion um die besten Argumente und Methoden, bürgerliche Solidarität statt Fürstenwillkür und Untertanengeist, Vernunft und Selbstdisziplin zum Wohl nicht nur eines Landes, sondern globaler Humanität. Doch wie sich dergleichen Ideale verwirklichen ließen und wo der Schwerpunkt liegen sollte, blieb umstritten.
Überdies wechselte mancher die Ansichten fast so schnell wie die Hemden; schwer macht es seinen Bewunderern zum Beispiel der quecksilbrige Diderot. Sogar Voltaire, der jahrzehntelang vehement die Kirche bekämpft hatte, wurde auf die Dauer zögerlicher und verkündete: »Wenn Gott nicht existierte, müsste man ihn erfinden.« Ohne Bezug auf einen himmlischen Vater zerfielen gesellschaftliche Bande, so fürchtete der alte Spötter, und die Moral verlöre ihren altgewohnten Ankerpunkt; Gott – es brauche ja nicht der christliche zu sein – bleibe »Zaum des Übeltäters und Hoffnung des Gerechten«.
Wenn schon die größten Denker des Zeitalters keine einheitlichen Konzepte verfolgten, wundert es nicht, dass auch Kenner bis heute alle Mühe haben, den »direkten Weg zur Menschheit, den das 18. Jahrhundert gehen wollte« (so der Kulturhistoriker Richard Benz), bündig zu beschreiben.
Ältere Nachschlagewerke halten sich bei dem Stichwort ohnehin zurück – die Aufklärung genießt tatsächlich noch gar nicht lange den Rang einer Kulturepoche. In der »Encyclopaedia Britannica« von 1911 zum Beispiel fehlt ein Artikel zum »Enlightenment«. Erst 1932 plädierte der Ideenhistoriker Ernst Cassirer mit seinem Buch »Die Philosophie der Aufklärung« eindringlich dafür, dass man im emanzipatorischen Wollen der europaweit führenden Köpfe das Hauptmerkmal des ganzen Zeitalters erblicken könne – allerdings vorwiegend als »unablässig-fluktuierende Bewegung« des Geistes.
Mit seinem breiten Ansatz, der in der Aufklärung weniger feste Lehren als einen intellektuellen Stil erblickte, eine »Denkform«, der es ganz allgemein um »die Kraft und die Aufgabe der Lebensgestaltung« aus natürlicher Vernunft ging, schloss sich Cassirer in souveräner Eigenständigkeit dem großen Heidelberger Soziologen Max Weber an. Weber hatte fachübergreifend, von der Ökonomie bis zur Musikgeschichte, den Leitgedanken verfochten, wichtigstes Merkmal der Moderne sei die »Entzauberung der Welt«.
Zur ersten Näherung bleibt diese Einordnung nützlich, aber man hat ihr schon häufig vorgeworfen, sie sei unvollständig. Wenn es nur um das heilsame Licht der Ratio ging, weshalb hatten sich dann sogar Genies vom Range eines Newton oder Leibniz mit den trüben Deutungskünsten der Alchemie oder der Astrologie beschäftigt? Wie ließ sich die Hochkonjunktur pietistischer bis asketischer Sekten im 18. Jahrhundert erklären? Standen elitäre Geheimbünde, die ebenfalls zu dieser Zeit aufblühten, nicht erst recht quer zum aufklärerischen Ideal freiheitlichen Bürgersinns?
Im Rückblick auf die tödlichen Weltanschauungskonflikte des frühen 20. Jahrhunderts merkten Horkheimer und Adorno 1947 geradezu pathetisch an: Wer bedingungslos für Vernunft kämpfe, lasse sich damit nur auf eine Ersatz-»Mythologie« ein. Mit solch einem Bekenntnis laufe man Gefahr, ebenso totalitär zu denken oder gar zu handeln wie bisherige Ideologen.
Ein wichtiges Argument gegen überzogenes Aufklärerpathos, gewiss. Kulturhistoriker der Zeit zwischen 1700 und 1800 konnten mit dem kecken Theoriedreh allerdings nicht viel anfangen. Roy Porter, Fachmann für die Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, hat die Horkheimer-Adorno-These schlicht »historischen Unsinn« genannt.
Dennoch: Als pure Erfolgsstory ließ sich die Aufklärung fortan nicht mehr erzählen. Und 1983 bestärkten Gernot und Hartmut Böhme alle Zweifler noch einmal. In ihrem Buch »Das Andere der Vernunft« legten die Brüder den Erzaufklärer Kant gewissermaßen auf die Analytikercouch, um nachzuweisen, dass die Weltsicht des Philosophen einer intellektuellen Selbstamputation gleichkomme. Alles Vage, Leibliche oder kurios Überschießende falle der rigiden Ratio zum Opfer.
Kant als selbstentfremdeter Seelenkrüppel, seine Vernunftlehre eine gigantische Verdrängung – angstneurotische Abdichtung gegen die weitaus wildere, buntere Flut von Welt und Geist? Auch diese steile These gilt bei Fachleuten inzwischen als erledigt, schon weil sie Kants wegweisende, aller Psychologie vorausliegende Einsicht ausblendet, dass unsere Erkenntnis durch die Strukturierung nach Raum, Zeit und Kausalität geradezu weltschöpferische Kräfte entfaltet.
Zudem ist Kant ein heikler Gewährsmann, denn seine Vernunftkritik stellt philosophisch eher eine späte Folge, wenn nicht eine Revision aufklärerischen Denkens dar. Das hat der Ideenhistoriker Panajotis Kondylis schon 1981 demonstriert. Als geistige Hauptrichtung der Epoche betrachtet Kondylis vielmehr die »Rehabilitation der Sinnlichkeit«. Der langwierige Kampf gegen die Deutungshoheit der Theologie sei, so Kondylis, gerade nicht in einem Feldzug der Vernunft gewonnen worden, sondern durch entschlossenen »Antiintellektualismus« im Rahmen einer Aufwertung der »niederen Erkenntniskräfte«.
Vereinfacht gesagt: Augen, Ohren und Gefühle, denen die logisch-mathematisch fundierte Wissenschaft zuvor misstraute, erwiesen sich in diesem Zeitalter grenzenlos experimentierender Neugier als wertvolle, schließlich sogar als unentbehrliche Quellen der Erkenntnis. Für das große Projekt, im Menschen nicht mehr ein abhängiges Geschöpf, sondern ein autonomes Glied der allumfassenden Natur zu sehen, war Erfahrungswissen unabdingbar. Dafür nahm man selbst die Schwächen materialistischen Denkens in Kauf.
So ließ beispielsweise 1754 Étienne Bonnot de Condillac, Gesprächspartner von Rousseau und Diderot, in einem Traktat »Über die Empfindungen« eine Statue allmählich Sinnesdaten empfangen: Erst kann sie nur riechen, dann hören, schmecken, sehen und schließlich auch tasten. Das Gedankenexperiment sollte zeigen, dass geistiges Leben allein aus der Verknüpfung äußerer Eindrücke entstehe; auf die häufig postulierten »angeborenen Ideen« könne man verzichten. Der pfiffige Gedankenspieler Julien Offray de la Mettrie wagte sogar noch mehr: Er beschrieb den Menschen als Maschine; was man Seele nenne, seien bloß stoffliche Wechselwirkungen.
Natürlich ging das den meisten Aufklärern zu weit – allzu quälend offen blieb die Frage, wer denn die famose Maschine konstruiert habe. Aber vielleicht gab es elegantere Lösungen? Jedenfalls mussten, sobald kein höheres Wesen mehr walten durfte, Geist und Sinnlichkeit irgendwie in der Natur verschränkt sein und...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2017 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | eBooks • Friedrich der Große • Georg Christoph Lichtenberg • Gotthold Ephraim Lessing • Hegel • Kant • Kirchenkritik • Knigge • Materialismus • Philosophie • Rousseau • Verstand • Voltaire |
ISBN-10 | 3-641-21641-9 / 3641216419 |
ISBN-13 | 978-3-641-21641-2 / 9783641216412 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,7 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich