Kraft (eBook)

Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
154 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75154-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kraft - Christoph Menke
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Als im 18. Jahrhundert die Ästhetik als Disziplin entstand, war das nicht nur der Beginn einer neuen Denkungsart über das Schöne. Die Ästhetik löste sich von der Kunstbetrachtung und begann, philosophische Grundbegriffe neu zu bestimmen. In seiner historischen wie systematischen Rekonstruktion der ästhetischen Debatten des 18. Jahrhunderts wirft Christoph Menke einen neuen Blick auf den höchst produktiven Streit zwischen »Vermögen« und »Kraft« als Grundbegriffe der Ästhetik. Er liest diesen Streit zugleich als die Matrix entscheidender Frontstellungen in der gegenwärtigen Philosophie, zu deren Aufklärung er mit diesem Buch beiträgt.



Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Christoph Menke, geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und dort Leiter des Forschungsprojekts »Normativität und Freiheit« im Rahmen des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen.« Im Suhrkamp Verlag sind erschienen: Die Kraft der Kunst (stw 2044) und Kritik der Rechte (stw 2241).

22I. Sinnlichkeit
Die Unbestimmtheit der Einbildungskraft


Die Geschichte der Ästhetik beginnt mit einem Akt der Bestreitung: mit der Bestreitung, daß es eine Theorie, daß es sicheres Wissen um das Schöne geben kann. Am Anfang der Ästhetik steht Descartes’ Zweifel an ihrer Möglichkeit. Er schreibt an Marin Mersenne:

Was Ihre Frage anbelangt, ob man den Grund [la raison] des Schönen feststellen kann, so ist das etwas durchaus Gleiches, wie Sie früher fragten, warum ein Ton angenehmer als der andere ist, außer daß das Wort schön sich ganz besonders auf den Gesichtssinn zu beziehen scheint. Aber ganz allgemein bedeuten weder das Schöne noch das Angenehme etwas anderes als eine Beziehung unseres Urteils auf den Gegenstand; und weil die Urteile der Menschen so verschieden sind, kann man nur sagen, daß weder das Schöne noch das Angenehme irgendein bestimmtes Maß haben.1

Das Schöne hat keinen Grund, keine Vernunft. Deshalb kann man es nicht fassen, »sondern es wird je nach der Vorstellung [la fantaisie] der einen die Gliederung in drei Arten von Figuren die schönste sein, nach dem anderen diejenige in vier oder fünf usw. Was aber den meisten gefallen wird, könnte einfach das Schönste genannt werden, was nicht bestimmt zu werden vermag [ce qui ne saurait être déterminé].« (Ebd.) Das Schöne ist das Unbestimmbare.

Die Willkür der Sinne


Die cartesianische Bestimmung des Schönen durch seine Unbestimmbarkeit macht zwei für die Idee der Ästhetik grundlegende Züge. Der erste Zug besteht darin, das Schöne in das Feld der Sinne zu versetzen. Das Schöne, deshalb setzt Descartes es umstandslos dem Angenehmen (l’agréable) gleich, ist ein Effekt der Sinnlichkeit. Gegenüber dieser Grundbestimmung werden alle Unterscheidungen zweitrangig: ebenso der Unterschied zwischen Natur und Kunst, von gegebenem und gemachtem Schönen, wie der Unterschied zwischen Rezipient und Produzent, von Auffassen und Machen des Schönen. Für Descartes macht es keinen grund23legenden Unterschied, ob er das Spiel wechselnder Eindrücke des Schönen an natürlichen Erscheinungen2 oder an künstlichen Arrangements3 von Farben und Tönen erläutert. Und deshalb macht es ebenso keinen grundlegenden Unterschied, ob man die Hervorbringung des Eindrucks des Schönen von der Seite seiner Produktion, in Werken, oder seiner Reproduktion, in Urteilen, betrachtet. Die Zurückführung des Schönen aufs Sinnliche zieht bisher klar Geschiedenes zu einem Feld zusammen: Natur- und Kunstschönes, Kunstmacher und -betrachter sind bloß unterschiedliche Gestalten der »Sinnlichkeit«. Damit ist das Feld konstituiert, das dann das »ästhetische« genannt werden wird.

Der zweite Zug in Descartes’ Bestimmung des Schönen durch seine Unbestimmbarkeit besteht darin, der Sinnlichkeit, deren Effekt das Schöne ist, jede repräsentative Leistung abzusprechen: Die sinnliche Hervorbringung des Eindrucks des Schönen hat, ob nun im Machen oder Auffassen des Schönen, keinen objektiven Gehalt.4 Das sagt Descartes im Brief an Mersenne über das Urteil des Schönen: Es variiert nicht in Abhängigkeit von den Gegenständen, die beurteilt werden, sondern in Abhängigkeit von den Menschen, die urteilen. Die sinnliche Hervorbringung des Effekts des Schönen, die die »ästhetischen« Urteile zum Ausdruck bringen, gibt nicht die Verfaßtheit des Gegenstands wieder, auf den das Urteil sich doch zu richten scheint. Es ist eine Hervorbringung ohne Nachahmung. Und das gilt ebenso wie für den Eindruck des Schönen im Geschmack des Betrachters auch für den durch die Kunst der Maler, Komponisten und Dichter: Sie produzieren Formen, aber sie repräsentieren keine Formen. Weder der (»ästhetische«) Geschmack noch die (»ästhetische«) Kunst kann eine objektive Bestimmung repräsentieren – der Geschmack nicht die seines Gegenstands, die Kunst nicht die der Welt –, denn als Gestalten der »Sinnlichkeit« können sie überhaupt nichts repräsentieren. Besteht Descartes’ erster für die Ästhetik grundlegender Zug darin, durch den Einheitspunkt der Sinnlichkeit das Feld des Ästhetischen zu konstituieren, so der zweite darin, es dadurch zugleich von jedem Anspruch auf Repräsentation zu befreien. Eine Befreiung aber wozu?

Sinnliche Vorstellungen haben Gegenstände und deren Eigenschaften zum Inhalt. Es ist, so Descartes, sinnlichen Vorstellungen aber äußerlich, »Darstellungen« – Darstellungen von wirklichen Gegenständen und Eigenschaften – zu sein. Sinnliche Vorstellun24gen werden vielmehr erst zu Darstellungen von Wirklichem, indem wir sie durch den Verstand »prüfen« und »untersuchen« (Meditationen, III.19; 795). Dann können wir in ihnen unterscheiden, »was ich in ihnen klar und deutlich durchschaue: nämlich die Größe und Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe, die Gestalt, die der Begrenzung dieser Ausdehnung entspringt, die Lage« usw. Von diesem wissen wir dann – durch die rationale Prüfung, nicht durch die sinnliche Vorstellung –, was es ist:

Alles übrige aber, wie Licht, Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärme und Kälte und sonstige Berührungsqualitäten, denke ich nur recht verworren und dunkel und also weiß ich nicht, ob sie wahr oder unwahr sind, d. i. ob die Vorstellungen, die ich von ihnen habe, Vorstellungen von irgend etwas sind oder von gar nichts. (Ebd.)

An all dem in der sinnlichen Vorstellung, das sich meiner Prüfung und Klärung entzieht, zeigt sich daher, was sinnliches Vorstellen überhaupt oder von sich aus ist: Sinnliche Vorstellungen sind keine Darstellungen der wirklichen Gegenstände, von denen sie »ausgehen«, sie können ihnen nicht von sich aus »ähnlich« sein (III.11; 71). Denn indem sinnliche Vorstellungen von einem Gegenstand ausgehen, durch ihn hervorgerufen werden, gehen sie immer schon über ihn hinaus; sie fügen dem durch die Sinnesorgane empfangenen[1*] und zum »Gemeinsinn« weiter transportierten[2*] Eindruck etwas hinzu und machen ihn dadurch erst zu einer Vorstellung. Diese Hervorbringung der Vorstellung aus dem passiv empfangenen Eindruck geschieht durch die Einbildungskraft, die Imagination oder Phantasie. An ihren Produkten setzt das prüfende Denken an, um das Klare und Deutliche vom Dunklen und Verworrenen zu scheiden und dadurch aus einer Vorstellung eine Darstellung, eine Erkenntnis zu machen: »Erkenntnis ist nicht Sehen, nicht Berühren, nicht Einbilden […], sondern sie ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes« (Meditationen, II.12; 55).

25Nicht nur die Radikalisierung des traditionellen Vorbehalts gegenüber der Zuverlässigkeit der Sinnlichkeit zu einem prinzipiellen Zweifel an ihrer Erkenntnisfähigkeit ist neu. Neu ist vor allem die Begründung, die Descartes für die Behauptung gibt, daß im Gegensatz dazu der Verstand ebenso prinzipiell fähig zur Erkenntnis, zur Hervorbringung von Repräsentationen der Wirklichkeit ist: Der Grund – so Descartes – liegt darin, daß nur der Verstand, nicht aber die Sinnlichkeit zu handeln vermag. Nur für und durch den Verstand läßt sich deshalb das cartesianische Programm verwirklichen, in dem Epistemologie und Ethik sich kreuzen: »[M]eine eigenen Gedanken zu reformieren und auf einem Boden zu bauen, der ganz mir gehört« (Methode, II.3; 25). Die Gedanken des Verstandes lassen sich reformieren, denn sie zu reformieren heißt, sie methodisch, in einer geregelten Schrittfolge, durch »notwendige Deduktionen« aus »evidenten Intuitionen«, aufeinander aufzubauen. Reformieren lassen sich also Gedanken, weil und soweit sie die »Handlungen unseres Verstandes« sind (Regeln, III.4; 17); weil und soweit wir sie, unsere Gedanken, »aus eigener Kraft [oder Anstrengung: propria industria]« hervorzubringen (X.1; 63) und uns dabei selbst zu »leiten« und »lenken« vermögen (Methode, II.4; 27; Meditationen, II.10; 53). Den »Boden, der ganz mir gehört« und auf dem Descartes »bauen« will – diesen Boden finde ich nicht in mir vor, sondern ich selbst mache mich erst zu meinem eigenen Boden. Ich mache mich selbst zu dem Boden, auf dem ich bauen kann, indem ich mich zum Akteur und meine Gedanken zu meinen Handlungen mache: zu einem Vollzug, der in jedem seiner Schritte von mir getan, also von mir kontrolliert wird. Das aber kann ich nur im Feld des Verstandes. Oder: Der Verstand ist das Feld, in dem ich das kann (ich das kann), in dem ich Ich bin. Daß Descartes nur den Verstand für erkenntnisfähig hält, ist darin begründet, daß Descartes Erkenntnis- auf Handlungsfähigkeit zurückführt (und dadurch, also nicht durch den Primat des Selbstbewußtseins, den neuzeitlichen Begriff des Subjekts auf den Weg bringt).

Im Feld der »Sinnlichkeit« dagegen kann es keine »Methode« des Voranschreitens geben, weil es hier gar kein eigenes, selbstgeleitetes Voranschreiten geben kann – und deshalb auch kein Erkennen. So wie Descartes die Erkenntnisfähigkeit des Verstandes darin begründet, daß er zu handeln und daher »ganz mir [tout à moi]« zu gehören vermag, erklärt er umgekehrt die Erkenntnisunfähig26keit der Sinnlichkeit daraus, daß das sinnliche Geschehen ich-los, kein Handeln ist. Eine allgemeine Formel für den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand bei Descartes kann daher lauten: »So wie das Sehen des Auges passiv ist, ist das des Geistes aktiv.«6 Genaugenommen aber ist der Gegensatz von Passivität und Aktivität hier irreführend. Von Passivität spricht Descartes nur gelegentlich und dann auch nur für den ersten Schritt der Sinnlichkeit, im...

Erscheint lt. Verlag 6.2.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ästhetik • Freiheit • Sinnlichkeit • STW 2225 • STW2225 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2225
ISBN-10 3-518-75154-9 / 3518751549
ISBN-13 978-3-518-75154-1 / 9783518751541
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