Philosophie als Lebenskunst (eBook)
322 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75078-0 (ISBN)
<p>Gerhard Ernst ist Professor für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.</p>
13Gerhard Ernst
Einleitung
1. Das Projekt
In diesem Band soll ein Beitrag zur Beantwortung einer Reihe von Fragen geleistet werden, die das Verhältnis zwischen Philosophie und Lebenskunst betreffen: Ist die Philosophie eine Lebenskunst? Oder war die Philosophie zwar einmal eine Lebenskunst, ist es aber heute nicht mehr? Oder war sie es eigentlich nie? Soll die Philosophie (wieder) eine Lebenskunst sein? Kann sie überhaupt eine Lebenskunst sein? Wie soll und kann die Philosophie gegebenenfalls eine Lebenskunst sein?
Ich glaube, dass diese Fragen heute von besonderer Bedeutung sind und dass wir in einer besonders günstigen Position sind, um sie zu beantworten. Hier ist auf zwei Entwicklungen hinzuweisen, die in den letzten zwanzig Jahren verstärkt zu beobachten sind: Zum einen gibt es ein großes und immer größer werdendes Interesse an Literatur zur Lebenshilfe. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch großen individuellen Gestaltungsspielraum aus. Mit dem Spielraum wachsen jedoch auch die Anforderungen an die Gestaltungskraft. Wenn es immer weniger Vorschriften darüber gibt, wie man leben muss: Wie soll man dann leben? Wenn man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann: Wie soll man dann vorgehen? Ist hier nicht eine »Lebenskunst« gefordert, die Hilfestellung gibt? Lebenskunst wird dementsprechend von vielen Seiten angeboten, vonseiten der Religion, vonseiten der Psychologie und eben vonseiten der Philosophie.[1] Eine Rückbesinnung auf die Konzeption von Philosophie als Lebenskunst liegt dementsprechend im Trend der Zeit.
Genau dieser Rückbesinnung wird jedoch häufig die philosophische Ernsthaftigkeit abgesprochen. Abgesehen von Ratschlägen des gesunden Menschenverstandes (»carpe diem« usw.) sei hier wenig zu erwarten. Die Philosophie könne die Erwartung, das Leben 14anzuleiten, nicht erfüllen. Und auch die Vorstellung, dass man sein Leben wirklich autonom gestalten könne, sei überzogen. In diesem Sinn organisierten etwa Wolfgang Kersting und Claus Langbehn vor einigen Jahren eine Kritik der Lebenskunst (Frankfurt/M. 2007). Die Vorstellung von einer Philosophie als Lebenskunst leidet, wie es scheint, unter überzogenen Ansprüchen und einem Mangel an theoretischem Unterbau.
Allerdings setzen zeitgenössische philosophische Lebenskunstentwürfe häufig gerade nicht oder in nur oberflächlicher Weise dort an, wo man theoretische Grundlagen vermuten würde, nämlich direkt bei den antiken Vorbildern. Pierre Hadot hat in seinen Schriften die Hinwendung zur Antike nahegelegt.[2] Tatsächlich geht man heute aber vielfach eher von Montaigne, Nietzsche und Foucault aus,[3] und ebendamit hängt die oben genannte Kritik hauptsächlich zusammen.[4] Jetzt ist es aber so, dass in den letzten zwanzig Jahren das akademische Interesse an genau der Epoche der Philosophiegeschichte enorm gewachsen ist, in der die Konzeption von Philosophie als Lebenskunst besonders prominent war, nämlich am Hellenismus und der Philosophie der römischen Kaiserzeit.[5] Und das ist die zweite Entwicklung, von welcher der vorliegende Band ausgeht. Im Rahmen dieser neuen Studien zum Hellenismus und der römischen Kaiserzeit kann man nämlich, wenn überhaupt irgendwo, den theoretischen Unterbau finden, der in der zeitgenössischen Lebenskunstdiskussion vermisst wird. Insbesondere in der epikureischen, der stoischen und der skeptischen Tradition finden 15sich wesentliche Anhaltspunkte dafür, ob und wie die Philosophie die Funktion einer Lebenskunst übernehmen könnte und sollte.[6]
Während in Deutschland die beiden Entwicklungen – öffentliches Interesse an Lebenskunst einerseits, akademisches Interesse an hellenistischer und kaiserzeitlicher Philosophie andererseits – noch vergleichsweise unverbunden nebeneinanderstehen, gibt es im angelsächsischen Bereich bereits vielfache Berührungspunkte. Psychologinnen und Psychologen, die sich mit kognitiver Verhaltenstherapie beschäftigen, haben beispielsweise schon früh die Verbindung zur stoischen Philosophie erkannt.[7] Diese Verbindung wird heute systematisch herausgearbeitet.[8] Und auch populärwissenschaftliche Bücher nehmen die philosophischen Forschungen zum Hellenismus und zur Kaiserzeit auf und machen sie einem breiteren Publikum zugänglich.[9] Umgekehrt suchen akademische Philosophinnen und Philosophen die Verbindung zur Psychologie und zur Öffentlichkeit.[10]
Die Beiträge dieses Bandes versuchen die Brücke zwischen Antikeforschung und heutiger Lebenskunst, zwischen akademischer Philosophie und angewandter Philosophie zu schlagen, indem von den antiken Vorbildern ausgehend Perspektiven und Grenzen für eine theoretisch fundierte Philosophie als Lebenskunst aufgezeigt 16werden. Die Beiträge sind dabei nach den drei in diesem Zusammenhang wichtigsten Philosophenschulen geordnet: Nach dem epikureischen wird das stoische Vorbild betrachtet und schließlich das skeptische; drei Rückblicke vom modernen Standpunkt aus runden das Themenspektrum ab. Die Beiträge des Bandes beleuchten dementsprechend einerseits, was überhaupt als Vorbild für eine aktuelle Philosophie als Lebenskunst dienen könnte. Andererseits geht es jedoch weniger um die antiken Vorbilder der Lebenskunst um ihrer selbst willen als vielmehr vor allem um die Frage, inwiefern diese Ausgangspunkt für eine heutige (öffentliche und akademische) Philosophie als Lebenskunst sein können. Im Folgenden werde ich eine detaillierte Übersicht über den Gang der Überlegungen in den einzelnen Beiträgen geben.
2. Die Beiträge
Der erste Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem epikureischen Vorbild für die Konzeption von Philosophie als Lebenskunst. Und tatsächlich sind die meisten der von Epikur erhaltenen Schriften geradezu paradigmatisch für das, was wir mit der antiken Lebenskunst verbinden: Sie enthalten einfache und (auf den ersten Blick) plausible Thesen dazu, was ein glückliches Leben ausmacht und wie man es erlangt; sie präsentieren keine komplizierten philosophischen Theorien und Kontroversen, sondern sie empfehlen das Philosophieren (also das wiederholte Nachvollziehen der epikureischen Grundsätze) als ein Mittel, das uns unmittelbar praktisch nützt: das uns von Furcht befreit und zu einem lustvollen Leben anleitet. Die verbreitete Einschätzung, dass die antike Philosophie im Allgemeinen und die Philosophie Epikurs im Besonderen in erster Linie in einer bestimmten Lebensform bestehe, scheint sich hier zu bestätigen. Christof Rapp rückt dieses Bild in seinem Beitrag »Lebenskunst und Naturforschung bei Epikur« systematisch zurecht. Es stimmt zwar, dass die epikureische Philosophie durch und durch auf das praktische Ziel ausgerichtet ist, unser Leben besser zu machen. Aber es stimmt nicht, dass Epikur – und erst recht nicht die Philosophen der klassischen Zeit, Platon und Aristoteles – die philosophische Theoriebildung deshalb als unwichtig angesehen hätte. Tatsächlich basieren, wie Rapp zeigt, die lebens17praktischen Thesen, die Epikur in seinen an ein größeres Publikum gerichteten Schriften vermittelt (und die nicht nur in der Antike Aufklärungsarbeit leisteten, sondern auch für moderne Leser erwägenswert sind), durchweg auf erkenntnistheoretischen und vor allem naturphilosophischen Überlegungen. Dass wir keine Angst vor den Göttern und den Himmelserscheinungen haben müssen, dass der Tod für uns keine Bedrohung darstellt, dass wir nach ganz bestimmten Lüsten streben sollen, nach anderen nicht, dass insbesondere ein genügsames und tugendhaftes Leben ein besonders lustvolles Leben ist, dass es weitgehend in unserer Hand liegt, ob unser Leben lustvoll verläuft oder nicht – all das sind praktische Ergebnisse, die sich aus Epikurs atomistischer Naturphilosophie, aus seinem Sensualismus und aus seiner speziellen Form des Hedonismus ergeben. Mit diesen Theorien reagiert Epikur, wie die Erforschung der philosophiehistorischen Hintergründe zeigt, differenziert auf verschiedenartige philosophische Positionen. Dass beispielsweise der Brief an Menoikeus relativ wenig von diesen Theorien enthält, liegt daran, dass sich Epikur in verschiedenen Schriften offenbar an verschiedene Adressaten wendet: Jeder soll von seinen Lehren profitieren, weshalb er diese in aphorismenhaften Auszügen sowie in Lehrbriefen zusammenfasste, die leicht zu rezipieren (oder sogar zu memorieren) sind; bis ins Letzte durchdringen wird diese Lehren aber nur derjenige, der auch die theoretischen Grundlagen erforscht hat. Diese Forschung wird zumindest für einige sogar einen konstitutiven Teil des guten Lebens ausmachen.
Epikur behauptet bekanntlich, dass das einzige Gut die eigene Lust ist. Dieser Hedonismus scheint unmittelbar zu einem strikten Egoismus zu führen. Wenn das einzige Gut, das ich im Leben erlangen kann, meine Lust ist, dann sollte ich mich auch nur um diese kümmern. Bei dieser Selbstsorge soll die Philosophie helfen. Andere Menschen dagegen, so scheint es, können dem Epikureer gleichgültig sein. Dass dieses Bild von Epikur und dem Epikureismus verfehlt ist, zeigt Michael Erler in seinem Beitrag »Epikur oder die Kunst, in Gemeinschaft zu leben«. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass Epikur mit seiner Philosophie therapeutische Ziele verfolgt. Insbesondere seine bekannten vier Grundsätze (die er in seiner Philosophie theoretisch begründet und zur praktischen Einübung empfiehlt) – die Götter kümmern sich nicht um uns; der Tod bedeutet nichts für uns; was wirklich gut ist, ist leicht zu 18erlangen; was schlecht ist, ist leicht zu ertragen – sollen den Menschen helfen, sich von Angst und Unruhe zu befreien und innere Ruhe (ataraxia) zu...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2016 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Das gute Leben • Eudaimonie • Sinn des Lebens • STW 2195 • STW2195 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2195 |
ISBN-10 | 3-518-75078-X / 351875078X |
ISBN-13 | 978-3-518-75078-0 / 9783518750780 |
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Größe: 1,4 MB
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