Ausgang aus der langen Nacht (eBook)

Versuch über ein entkolonisiertes Afrika

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
302 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74816-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ausgang aus der langen Nacht - Achille Mbembe
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War die Entkolonialisierung Afrikas nur ein Unfall, ein Kratzen an der Oberfläche, das kurze Aufblitzen einer Zukunft, die zum Scheitern verurteilt war? In seinem mitreißenden Essay zeigt Achille Mbembe, dass jenseits der Krisen und Kriege, die den Kontinent regelmäßig heimsuchen, neue »afropolitane« Gesellschaften entstehen, die sich durch einen anderen Umgang mit Differenzen und mit der Zirkulation von Menschen und Kulturen auszeichnen. Um diese neuen Gesellschaften zu entschlüsseln, zeichnet Mbembe in souveräner Manier und im Rekurs auf seine eigene Lebensgeschichte die afrikanischen Entwicklungen seit dem Beginn der Entkolonialisierung nach. Aber auch die Veränderungen in den postkolonialen Gesellschaften jenseits des Mittelmeers, in Europa, werden in den Blick genommen, denn womöglich haben diese zwar Afrika entkolonialisiert, jedoch nicht sich selbst. Eine solche »Autoentkolonialisierung« ist aber notwendige Voraussetzung, um den Rassismus, die Gewalt und die Ausgrenzung des Anderen zu überwinden. Geschrieben in einer teils kalt-nüchternen, teils glühend-poetischen Sprache, zählt dieses Buch bereits zu den großen Werken des postkolonialen Denkens.

<p>Achille Mbembe, geboren 1957, ist ein kamerunischer Historiker und politischer Philosoph. Er z&auml;hlt zu den Vordenkern des Postkolonialismus. Mbembe lehrt nach Stationen an der Columbia University, der University of California in Berkeley, der Yale University und der Duke University heute an der University of the Witwatersrand in Johannesburg. F&uuml;r sein Buch <em>Kritik der schwarzen Vernunft</em> wurde Mbembe 2015 mit dem 36. Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.</p>

Vorwort

Vor einem halben Jahrhundert lebte der größte Teil der Menschheit unter dem Joch des Kolonialismus – einer besonders primitiven Form rassistischer Herrschaft. Deren Überwindung stellt einen Schlüsselmoment in der Geschichte der Moderne dar. Dass dieses Ereignis im philosophischen Denken unserer Zeit kaum Spuren hinterlassen hat, ist für sich genommen kein großes Rätsel. Nicht aus allen Verbrechen geht zwangsläufig etwas Sakrosanktes hervor. Von manchen historischen Verbrechen blieb nur Schändliches und Profanes – die nachhaltige Sterilität einer verkümmerten Existenz, die es kurz gesagt unmöglich macht, eine »Gemeinschaft zu bilden« und zum Weg der Humanität zurückzufinden. Hat die Kolonialisierung womöglich genau eine solche unmögliche Gemeinschaft vor Augen geführt – tetanisches Zucken und vergebliches Pfeifen zugleich? Der vorliegende Essay widmet sich dieser Frage nur indirekt; im Ganzen und im Detail muss ihre Geschichte noch geschrieben werden.

Hauptgegenstand dieses Essays ist die Entkolonialisierungswelle Afrikas im 20. Jahrhundert. Dabei geht es nicht darum, deren Geschichte noch einmal nachzuverfolgen oder sie soziologisch zu untersuchen, geschweige denn typologisch. Diese Arbeit ist erledigt und bis auf einige Details ist ihr nur sehr wenig hinzuzufügen.1 Noch weniger geht es um eine Bilanzierung dessen, was die Unabhängigkeit gebracht hat. Die Entkolonialisierung ist ein Ereignis, dessen grundlegende politische Bedeutung im aktiven Willen zur Gemeinschaft bestand – so wie man früher vom Willen zur Macht gesprochen hat. Dieser Wille zur Gemeinschaft ist ein anderer Name für das, was man Wille zum Leben nennen könnte. Er war auf die Verwirklichung eines gemeinsamen Projekts gerichtet: auf eigenen Beinen zu stehen und eine eigene Tradition zu begründen. In jener abgeklärten, von Zynismus und Leichtfertigkeit zutiefst geprägten Zeit, in der alles gleichgültig war, konnten solche Worte nur Hohngelächter hervorrufen. Trotzdem waren damals viele bereit, für die Verteidigung dieser Ideale ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Diese Ideale waren nämlich kein Vorwand, sich aus der Gegenwart zurückzuziehen oder sich vom Handeln fernzuhalten. Im Gegenteil: Sie spornten dazu an, die Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und in der Praxis eine Neuverteilung der Sprache sowie eine neue Logik des Sinns und des Lebens durchzusetzen. Bei dem Versuch, auf den Trümmern der Kolonialisierung eine entkolonialisierte Gemeinschaft zu errichten, wurde Erstere weder als Schicksal noch als Notwendigkeit wahrgenommen. Wenn man die kolonialen Verhältnisse zerschlägt, so wurde argumentiert, würde der verlorene Name wieder zum Vorschein kommen. Das Verhältnis zwischen dem, was gewesen war, was gerade geschehen war, und dem, was kommen würde, würde sich umkehren und dies würde es möglich machen, eine eigene Schöpfungsmacht und eine eigene Fähigkeit zur Artikulation einer Differenz und einer positiven Kraft zu demonstrieren.

Zum Willen zur Gemeinschaft kamen der Wille zum Wissen und der Wunsch nach Einmaligkeit und Originalität hinzu. Der antikoloniale Diskurs ist im Wesentlichen auch dort für das Modernisierungspostulat und die Fortschrittsideale eingetreten, wo sich in ihm – sei es explizit (wie im Fall von Gandhi) oder implizit – eine Kritik daran abzeichnete. Hinter dieser Kritik stand das Streben nach einer Zukunft, die nicht von vornherein feststehen, sondern übernommene oder ererbte Traditionen, Interpretationen, Experimente und Neuschöpfungen mischen sollte, wobei das Wesentliche darin bestand, sich in Richtung auf andere mögliche Welten von dieser Welt wegzubewegen. Den Kern dieser Analyse bildete die Vorstellung, dass die westliche Moderne unvollkommen, unvollständig und unvollendet geblieben war. Der Anspruch des Westens, über die Sprache und die Formen, die das Ereignis des Menschen annehmen kann, zu verfügen, ja sogar ein Monopol auf die Idee der Zukunft schlechthin zu besitzen, war nur eine Fiktion. Die neue, postkoloniale Welt war nicht dazu gezwungen, das zu imitieren und zu wiederholen, was anderenorts erreicht worden war.2 Da der Verlauf der Geschichte jedes Mal wieder einmalig ist, machte eine zukunftstaugliche Politik – ohne die es keine vollgültige Entkolonialisierung geben konnte – die Erfindung neuer Denkbilder erforderlich. Dies war nur möglich, wenn man sich zu einem gründlichen Erlernen der Zeichen und der Modalitäten von deren Zusammentreffen mit der Erfahrung als der Zeit zwang, die den Orten des Lebens eigen ist.3

Zieht die heute herrschende Vermischung der Wirklichkeiten diese Vorsätze in Mitleidenschaft, nimmt sie ihnen die historische Dichte, ja sogar ihre Aktualität? War die Entkolonialisierung – soweit ein so unscharfer Begriff überhaupt aussagekräftig sein kann – nur ein substanzloses Phantasma? War sie letztendlich nur ein Zwischenfall, der viel Lärm machte, ein oberflächlicher Riss, ein kleiner äußerer Sprung, das Zeichen einer Zukunft, die dazu prädestiniert ist, in die Irre zu gehen? Weist die Dualität von Kolonialisierung und Entkolonialisierung nur in eine Richtung? Spiegeln beide sich als historische Phänomene nicht ineinander wider, setzen sie einander nicht voraus wie die zwei Seiten einer Medaille? Dies sind einige der Fragen, um deren Untersuchung sich dieser Essay bemüht. Eine seiner Thesen lautet, dass die Zeit mit der Entkolonialisierung begonnen hat sich in viele verschiedene Formen von Zukunft zu verzweigen, die per definitionem kontingent waren. Die Wege, die die befreiten neuen Nationen einschlugen, ergaben sich teilweise aus den innenpolitischen Kämpfen in den betreffenden Gesellschaften.4 Diese Kämpfe gingen wiederum auf alte, aus der Kolonialzeit stammende soziale Formen und ökonomische Strukturen und auf die Regierungstechnik und -praxis der neuen postkolonialen Systeme zurück. In den meisten Fällen führten sie zum Aufbau einer Herrschaftsform, die manchmal als »Herrschaft ohne Hegemonie« bezeichnet wird.5

Dieser Essay beginnt bewusst erzählerisch und autobiographisch (Kapitel 1). Dabei wird geschildert, inwiefern der eigentliche postkoloniale Moment für viele mit einer Dezentrierungserfahrung einsetzte. Anstatt ein starkes Zeichen zu setzen, das den ehemals Kolonisierten zwang, selbstständig und für sich selbst zu denken, und anstatt der Ort einer Erneuerung des Sinns zu sein, wirkte die Entkolonialisierung – besonders dort, wo sie erzwungen wurde – wie eine Begegnung mit einem in sich selbst zusammenbrechenden Selbst. Nicht wie das Ergebnis eines fundamentalen Freiheitsbegehrens, also wie etwas, das das Subjekt sich nimmt und das zur unverzichtbaren Quelle von Moral und Politik wird, sondern wie eine Äußerlichkeit, eine Aufpfropfung, der offenbar alle Wandlungsfähigkeit fehlte. Danach schlage ich einen Doppelparcours vor: Kapitel 3 und 4 behandeln das, was man wohl eine »ortlose Besatzungsmacht« nennen muss, in diesem Fall das heutige Frankreich. In Form und Gestalt, als Akt und Verhältnisbestimmung stellte die Entkolonialisierung in vielerlei Hinsicht eine Koproduktion von Kolonisten und Kolonisierten dar. Zusammen – wenn auch an verschiedenen Positionen – schmiedeten sie eine Vergangenheit. Aber eine gemeinsame Vergangenheit zu haben, heißt nicht notwendig, dass man sie auch teilt. An dieser Stelle untersuche ich die Paradoxien der »Postkolonialität« bei einer früheren Kolonialmacht, die eine Entkolonialisierung zuließ, ohne sich selbst zu entkolonialisieren (Kapitel 3). Die Verwerfungen und Verzweigungen, die aus dieser Haltung resultieren, verdienen auch heute noch Aufmerksamkeit, vor allem wegen der Verzerrungen, die auf die offenkundige Unfähigkeit zurückzuführen sind, auf der Grundlage einer gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Geschichte zu schreiben (Kapitel 4).

Kapitel 2 und 5 widmen sich dem, was als Hauptparadox der Entkolonialisierung zu betrachten ist: sterile Verdoppelung und trockene Wiederholung einerseits sowie endlose Wucherung andererseits (wie Gilles Deleuze es ausgedrückt hat6). Denn gemessen an einer bestimmten afrikanischen Erfahrung dürfte einer der Prozesse, die unmittelbar nach der Entkolonialisierung einsetzten, die mal eher schleppende und unterschwellige, mal eher chaotische Zerschlagung der Staatsform und der Institutionen gewesen sein, die zum Erbe der Kolonialisierung gehörten. Als solche ist die Geschichte dieser Zerstörung in ihrer Einmaligkeit noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Seither haben die neuen unabhängigen Nationen – in Wahrheit heterogene, auf den ersten Blick unvereinbare und langfristig gemischtgesellschaftliche Versatzstücke – in mehr oder weniger freier Fahrt ihren Weg bei vollem Risiko fortgesetzt. Diese rasante Abfolge – von Dramen, unerwarteten Brüchen, absehbarem Niedergang vor dem Hintergrund einer ungeheuren Willensschwäche – setzt sich fort. Dabei nimmt der Wandel hier zunächst ansatzweise die Gestalt einer Wiederholung an, dann die Form eines folgenlosen Wetterleuchtens und daran anschließend den Anschein einer Auflösung und eines Versinkens im Unbekannten und Unvorhergesehenen: die unmögliche Revolution.

Der Wille zum Leben bleibt trotzdem bestehen. So gut es geht, wird auf dem afrikanischen Kontinent derzeit ein gigantisches Flickwerk verrichtet. Es kostet besonders viele Menschenleben und dringt bis in die Strukturen des Denkens vor. Über den Umweg der postkolonialen Krise findet eine geistige Umorientierung statt. Zerstörung und Wiederzusammensetzung sind...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2016
Übersetzer Christine Pries
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Sortir de la grande nuit. Essai sur l'afrique décolonisée
Themenwelt Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Afropolitan • Black History Month • Ernst-Bloch-Preis 2018 • Frankreich • Gerda-Henkel-Preis 2018 • Geschwister-Scholl-Preis 2015 • Kamerun • Kolonialismus • Philosophie • Postkolonialismus • Rassismus • Sortir de la grande nuit. Essai sur l'afrique décolonisée deutsch
ISBN-10 3-518-74816-5 / 3518748165
ISBN-13 978-3-518-74816-9 / 9783518748169
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