Die Ungewissheit des Zukünftigen (eBook)

Kontingenz in der Geschichte
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2016 | 1. Auflage
262 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-43378-3 (ISBN)

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Die Ungewissheit des Zukünftigen -
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Kontingenzgeschichten Herausgegeben von Frank Becker, Stefan Brakensiek und Benjamin Scheller Lange galt es als Tugend des Historikers, das vergangene Geschehen zu ordnen: Übersichtlichkeit zu schaffen, wo Durcheinander herrschte, kausale Zusammenhänge zu erkennen, wo das Vorher und Nachher chaotisch aufeinander folgten. Die aktuelle historische Forschung erschüttert diese Sichtweise mit dem Hinweis auf Beliebigkeit, Zufälligkeit und Ungewissheit - allesamt Bedeutungsschichten des Begriffs der Kontingenz. Kontingent erscheint historisches Geschehen dem rückblickenden Beobachter - und nicht weniger bereits den Zeitgenossen. Der Band behandelt Begegnungen mit Zukunftsungewissheit und bietet Reflexionen über den Begriff der Kontingenz, die aus Geschichtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft stammen.

Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Benjamin Scheller ist dort Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Ute Schneider Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Frank Becker ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Benjamin Scheller ist dort Professor für die Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Ute Schneider Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

Inhalt 6
Vorwort 8
Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung 10
Zukunftspraktiken – Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierungen der Zukunft 32
Die Möglichkeiten einer vergangenen Zukunft und die Intentionalität historischen Handelns 56
Heute war damals keine Zukunft – Dimensionen einer Historischen Zukunftsforschung im 20. Jahrhundert 80
Kontingenz und Geschichtswissenschaft – Aktuelle und künftige Felder der Forschung 96
Das Problem der Kontingenz in den Sozialwissenschaften und die Versuche seiner Bannung 120
Wie Hase und Igel – Social engineering und Kontingenz in der ambivalenten Moderne 140
Die Untrennbarkeit von Sicherheit und Risiko – Über die Komplementarität von Strategien und Mentalitäten in Sicherheitsregimen und Risikomanagement 162
Risiko – Kontingenz, Semantik und Fernhandel im Mittelmeerraum des Hoch- und Spätmittelalters 186
Die » Zukunft « und der » Zufall « – Kontingenz in der prognostischen Apokalyptik des Dietrich Graminaeus ( 1567– 1594) 212
Zur Historisierung von Nichtwissen – Das Beispiel der französischen und englischen Mittelmeerimperien ( 1650– 1750) 234
Autorinnen und Autoren 262

Vorwort
Der vorliegende Band eröffnet die neue Reihe 'Kontingenzgeschichten'. Seine Beiträge gehen größtenteils auf Vorträge zurück, die ihre Autorinnen und Autoren bei verschiedenen Veranstaltungen des Graduiertenkollegs 'Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln' in Essen gehalten haben. Sie thematisieren unterschiedliche Dimensionen der Geschichte und Konzeptualisierung von Kontingenz, die für das Forschungsprogramm des Kollegs von Bedeutung sind und auch über dieses hinausweisen. Dabei nehmen sie komplementäre, aber auch kontrastierende, historische, sozialwissenschaftliche und philosophische Perspektiven ein.
Das Graduiertenkolleg 'Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage', das die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2013 am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen eingerichtet hat, steht im Kontext einer ganzen Reihe von aktuellen Forschungsunternehmungen, die sich in unterschiedlicher Weise mit der Historizität von Zukunft und den ungewissen Möglichkeiten befassen, die diese stets barg und birgt. Dabei liegt sein spezifischer Zugang darin, die Analyse von der Ebene der Zukunftsvorstellungen auf die Ebene der aktiven Haltungen zu verlagern, welche die Akteure zur Zukunft einnahmen und auf die Handlungsoptionen, die diese aktiven Haltungen ermöglichten. Sie sollen kulturvergleichend und epochenübergreifend untersucht werden, um so die Pluralität gesellschaftlicher Möglichkeitshorizonte in der Geschichte herauszuarbeiten. In der Reihe 'Kontingenzgeschichten' sollen künftig Beiträge und Arbeiten erscheinen, die sich diesem Forschungsprogramm verschreiben, unabhängig davon, ob sie im Kontext des Graduiertenkollegs 'Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage' entstanden sind.
Wir danken Andreas Blume, Philipp Föhrenbach, Pamela Mannke-Gardecki, Franzisca Scheiner, Dr. Olav Heinemann und Dr. des. Christian Hoffarth für tatkräftige Hilfe bei der Redaktion des Bandes, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und seinem Direktor Claus Leggewie für Gastfreundschaft und Unterstützung bei den Tagungen und Workshops des Graduiertenkollegs, Jürgen Hotz vom Campus Verlag für die gute Zusammenarbeit und nicht zuletzt der Deutschen Forschungs-gemeinschaft für die Bezuschussung der Druckkosten.
Frank Becker, Benjamin Scheller und Ute Schneider
Essen im Mai 2016
Kontingenzkulturen - Kontingenzgeschichten: Zur Einleitung
Benjamin Scheller
Kontingenz hat ihre Geschichten. Denn Menschen sahen und sehen sich stets durch die Möglichkeiten, die die Zukunft birgt, herausgefordert. Wie sie sich mit diesen auseinandersetzten und sich auf sie einstellten, ist dabei jedoch abhängig von unterschiedlichen Praxisfeldern und variiert historisch. Das ist im Kern die Arbeitshypothese des Graduiertenkollegs 1919 Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Jahr 2013 am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen eingerichtet hat. Es hinterfragt mit dieser Hypothese eine historische Meistererzählung, die zum einen fest in den Geschichts- und Kulturwissenschaften verankert ist, zum anderen jedoch geradezu zum Selbstverständnis der westlichen Moderne gehört: Die Erzählung von der Entdeckung der Kontingenz und ihrer aktiven Bewältigung in der Moderne.
Diese Erzählung besteht aus drei Teilnarrativen. Das Erste hat die Germanistin Susanne Reichlin unlängst mit den Worten resümiert:
'Während in der Vormoderne Kontingenz bloß eine vordergründige Instabilität darstellt, die durch eine höhere zeitlose Ordnung stabilisiert ist, wird in der Moderne die ?Ordnung? selbst kontingent.'
Die historische Voraussetzung für diese Entgrenzung des Möglichkeits-bewusstseins wird zweitens in seiner Freisetzung aus den Bindungen an bisherige Erfahrungen gesehen, also in jenem Prozess, den Reinhart Koselleck als das Auseinandertreten von 'Erfahrungsraum und Erwartungshorizont' charakterisiert und auf die Neuzeit, vor allem aber auf die von ihm sogenannte Sattelzeit der hundert Jahre zwischen 1750 und 1850, datiert hat. Mit Koselleck wird dieses Auseinandertreten einerseits als eine Folge der Erfahrung beschleunigten gesellschaftlichen und technologischen Wandels seit der Industrialisierung gesehen. Gleichzeitig habe es sich um einen Prozess der Säkularisierung gehandelt, da im Rahmen des eschatologisch geschlossenen religiösen Weltbildes des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine offene Zukunft im Wortsinne undenkbar gewesen sei.
Und diese neue Zeiterfahrung und Zukunftskonzeption sei drittens wiederum die Voraussetzung dafür gewesen, dass sich auch die Haltung der Akteure gegenüber kontingenten Geschehnissen grundlegend gewandelt habe: Sie begannen nun zu kalkulieren und die Ungewissheit des Künftigen für ihre Zwecke zu nutzen. Während kontingente Ereignisse in der Vormoderne passiv erlitten worden seien, weil diese einer höheren, dem Menschen unergründlichen Ordnung folgten, würde Kontingenz, seit Beginn der Neuzeit beziehungsweise der Moderne, aktiv bewältigt. Praktiken der Kontingenzbewältigung wie Versicherungen oder verschiedene Formen der Prävention müssten daher als typisch modern betrachtet werden.
Gegen dieses Konstrukt, das geradezu paradigmatischen Charakter hat, lässt sich allerdings eine Reihe von Einwänden formulieren. Zunächst einmal sind Praktiken, mit denen Akteure sich auf das künftig Mögliche einzustellen und/oder dieses als Chance zu nutzen versuchen, keineswegs ein Proprium der westlichen Moderne, sondern zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen belegt. Die Schadenversicherung auf Prämienbasis etwa ist eine Erfindung des späten Mittelalters. Praktiken der Prävention gegenüber extremen Naturereignissen haben eine lange Geschichte. Weitere Beispiele ließen sich anfügen. Selbstverständlich wurde Kontingenz in der Vormoderne auch religiös oder in anderer Weise außerweltlich bewältigt. Doch waren solche Deutungen wesentlich weniger hegemonial als vielfach behauptet. Als etwa die Stadt Florenz Anfang November 1333 eine Flutkatastrophe erlitt, sahen Prediger die Ursache des Katastrophengeschehens in den Sünden der Florentiner. Die sogenannten filosofi in natura und astrologi naturali - bei ihnen handelte es sich wahrscheinlich um Experten, die an einer Universität die Artes studiert hatten, erklärten die Flut mit einer fatalen Planetenkonstellation. Der kleine Rat der Stadt dagegen führte die Überschwemmung der Stadt auf die ungünstigen Positionen von Wehren und Wassermühlen zurück, die die Fluten des Arno gestaut hätten. Er verbot daher die Errichtung und Unterhaltung von Wehren und Wassermühlen für einen neuralgischen Flussabschnitt, um so künftigen Hochwasserkatastrophen vorzubeugen. Offensichtlich konnten in einer spätmittealter-lichen Stadtgesellschaft also transzendente und pragmatisch innerweltliche Perspektiven auf kontingentes Geschehen koexistierten. Das Vorhanden-sein ersterer machte letztere und die auf ihr basierenden Präven-tionsmaßnahmen keineswegs undenkbar.
Vormoderne Ordnungsentwürfe beschränkten den Handlungsspielraum des Einzelnen also keinesfalls auf das passive Erleiden von künftigem, kontingentem Geschehen. Bereits Boethius, und damit der Begründer der nachantiken philosophischen Reflexion über Kontingenz, hatte in seiner Consolatio Philosophiae eine Argumentation entwickelt, die an der Auffassung einer göttlichen Vorsehung festhielt und dennoch dem Menschen die Fähigkeit zuschrieb, 'seine zukünftigen Handlungen zu wählen und dadurch sein Schicksal selbst zu bestimmen'. Auch dort, wo eine göttliche Ordnung und umfassendes göttliches Wissen als unumstößlich galten, konnte dem Menschen also das Vermögen attestiert werden, aktiv seine Zukunft zu gestalten.
Vor allem aber beruht die Meistererzählung von der Moderne als Kontingenzkultur auf einem homogenisierenden Verständnis von Kultur, das diese einem Kollektiv von Akteuren, einer Epoche oder einem Raum als Ganzem zuordnet, welchen dann wiederum andere Kollektive, Epochen oder Räume mit anderen Kulturen gegenübergestellt werden. Vorherrschend ist dabei ein Modell von Kultur, das man als mentalistisch bezeichnet hat. Diesem zufolge ist Kultur vor allem ein ideelles Phänomen, das seinen Ort im menschlichen Geist beziehungsweise der mentalen Struktur der Handelnden hat. Eben hier verorten die meisten historischen Entwürfe zur Geschichte des menschlichen Umgangs mit Zukunftsungewissheit die verschiedenen historischen Kontingenzkulturen. Die Praktiken, mit denen Menschen versuchen, die Herausforderung zu bewältigen, die die Ungewissheit der Zukunft darstellt, erscheinen in ihnen als Folge neuer Ideen beziehungsweise einer neuen Mentalität.
Dagegen betonen theoretische Ansätze, die Praktiken ins Zentrum ihres Interesses rücken, die Praxeologie beziehungsweise Praxistheorie, die Eigenlogik der Praxis und können so zeigen, dass der mentalistische Ansatz wichtige Einsichten verstellt. Sie verstehen die Wissensordnungen von Kulturen weniger als ein geistiges knowing that, denn als ein praktisches Wissen im Sinne eines Könnens, eines Know-hows, eines praktischen Verstehens als ein Sich auf etwas verstehen.
Ein solches praktisches Verständnis von Kontingenz ist für eine Reihe von Feldern wie Recht, Wirtschaft, Politik, aber auch dem Spiel zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Weltregionen immer wieder belegt. Das Know-how, das in diesen Feldern dabei generiert wurde, betraf vor allem den Umgang mit oftmals sehr konkreten Folgen kontingenter Ereignisse.
So behandelt etwa bereits das römische Vertragsrecht die Frage, ob Käufer oder Verkäufer die Folgen zu tragen haben, wenn eine Ware im Zeitraum zwischen dem Kauf und ihrer Inbesitznahme ohne Verschulden der Parteien Schaden erleidet, also Wein verdirbt oder ein Sklave stirbt. Dabei wird dieser mögliche Schaden als Gefahr (periculum) bezeichnet und bestimmt, dass die Gefahr durch den Käufer zu tragen ist. In Deutschland wurde dieses Prinzip der Gefahrtragung beim Kauf (periculum emptoris) erst im Jahr 1900 mit dem BGB aufgegeben. Ganz neue Probleme der Zurechnung kontingenter Schadensereignisse mit ökonomischen Folgen warfen dann der mediterrane Seehandel und seine Organisation seit dem Hochmittelalter auf. Um diese handhaben zu können, entstand der Begriff des Risikos (von mittellateinisch resicum/risicum). Ebenfalls auf das Mittelalter gehen die Ausdrücke Chance, Hasard und Abenteuer zurück. Erstere entstammen dem Kontext des Spiels, genauer des Würfelspiels. Chance, von lateinisch cadentia = Fall, bezeichnet ursprünglich das Ergebnis eines Wurfs. Hasard stammt wie Risiko wahrscheinlich aus dem Arabischen, von az zhar beziehungsweise yasara (Würfelspiel beziehungsweise mit Würfeln spielen). Seit dem 16. Jahrhundert wird es zunächst im Französischen als Synonym für Risiko oder Gefahr und damit als Ausdruck für kontingente Schadensereignisse gebraucht. Der Ausdruck Abenteuer kommt von mittelfranzösisch aventure beziehungsweise mittelhochdeutsch aventuire, die auf das Partizip Futur des lateinischen Verbs advenire (heran-kommen, sich ereignen), adventurus, zurückgehen. In den ältesten Belegen aus dem 12. Jahrhundert umfasst der Ausdruck Bedeutungen wie Schicksal, Geschick, Zufall, unerwartetes Ereignis und verweist damit auf kontingentes Geschehen, mit dem der Mensch konfrontiert ist. Im höfischen Roman erscheint die aventure/aventuire dann als gefährliche Bewährungsprobe eines ritterlichen Heldens, die einerseits von ihm aus eigenem Antrieb gesucht wird und andererseits durch wunderbare Fügung für ihn allein bestimmt ist. Wie das Risiko ist die aventure/aventuire also ein hochstufiges Kontingenzarrangement, ein kontingentes Geschehen, das seinerseits kontingent verursacht wird, nämlich durch die Entscheidung eines Akteurs, sich ihm auszusetzen. Dies hat sie mit dem modernen Abenteuer gemeinsam, auch wenn es bei diesem natürlich nicht mehr um Bewährung adliger Tugend geht, sondern um den Auszug aus der entzauberten Welt. Und sei dieser auch nur vorübergehend.
Inwieweit Wechselbeziehungen zwischen den Semantiken der verschie-denen Praxisfelder wie Recht, Wirtschaft, Philosophie et cetera und dem in ihnen kondensierten Wissen über kontingente Ereignisse, ihre Folgen und den Umgang mit diesen bestanden beziehungsweise entstanden, ist bis dato nicht systematisch erforscht worden. Forschungen die zeigen, wie Konzepte wie Risiko, Hasard et cetera und das Know-how über kontingentes Geschehen und seine Folgen beziehungsweise den Umgang mit ihnen von dem Feld, in dem sie entstanden sind, in andere Felder diffundieren, sind ebenfalls rar.
Auffällig ist jedoch, dass die Semantik der Kontingenz im Wesentlichen eine Schöpfung der Vormoderne, genauer, der Antike und des Mittelalters ist. Kontingenz, Zufall, Schicksal, Glück, Gefahr, Risiko, Hasard, Chance, Abenteuer: Sie alle gehen auf diese Epochen der Vormoderne zurück. Die Tragweite dieses historisch-semantischen Befundes ist von der Geschichtswissenschaft bislang nicht erörtert worden. Er steht jedoch offenkundig in einer gewissen Spannung zu der Auffassung, erst die westliche Moderne habe eine Kontingenzkultur ausgeprägt.
Mit alldem soll nicht gesagt sein, dass es nicht grundsätzlich unter-schiedliche Formen des menschlichen Umgangs mit Kontingenz und historische Zäsuren in der Geschichte des menschlichen Umgangs mit den Herausforderungen einer offenen Zukunft gegeben hätte. Allerdings sind diese offenkundig nicht mithilfe von Unterscheidungen wie vormo-dern/modern, passiv/aktiv und außerweltlich/innerweltlich in einer an-gemessenen Weise beschreibbar.
Um die verschiedenen Ausprägungen und die historischen Verläufe besser beobachten und beschreiben zu können, bietet es sich an, an die Stelle der etablierten Meistererzählung ein typologisierendes Verfahren zu setzen, das unterschiedliche Typen von kontingenten Geschehnissen unterscheidet.
Geht man davon aus, dass Kontingenzkulturen auf Praktiken und dem Know-how spezifischer Praxisfelder beruhen, dann interessiert vor allem das Wissen der Akteure über kontingente Geschehnisse. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox. Denn zu den ersten Einsichten, zu denen die historisch belegte Reflexion über Kontingenz gekommen ist, gehört ja, dass sich über kontingente Geschehnisse keine mit Sicherheit wahren Aussagen machen lassen: das berühmte Seeschlacht-Beispiel des Aristoteles (De Interpretatione, Kapitel 9). Das bedeutet jedoch nicht, dass Akteure kein Wissen über kontingentes Geschehen hätten. Zwar können über künftige Ereignisse keine Aussagen getroffen werden, die entweder wahr oder falsch sind. Über eine bestimmte Gruppe kontingenter Ereignisse lassen sich jedoch immerhin Aussagen machen, die hinreichend wahrscheinlich beziehungsweise wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher sind. Mit Ulrich Bröckling lassen sich diese kontingenten Ereignisse als known unknowns bezeichnen. Denn aus der Beobachtung vergangener Zukünfte lassen sich Erwartungen über mögliche künftige Ereignisse bilden.
Eine der wichtigsten Formen des Umgangs mit Kontingenz ist ohne Zweifel die Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Auf sie hat Niklas Luhmann aufmerksam gemacht:
'Von Risiken spricht man dann, wenn etwaige künftige Schäden auf die eigene Entscheidung zurückgeführt werden. [...] Bei Gefahren handelt es sich dagegen um von außen kommende Schäden. [...] Beide Fälle behandeln die Ungewissheit eines künftigen Schadens, sind also Gegenfälle zur Sicherheit. Sie unterscheiden sich aber an der Frage, ob das Unglück auf eine Entscheidung zugerechnet wird oder nicht.'
Außerdem unterscheidet sich ein Risiko von einer Gefahr darin, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der etwaige künftige Schäden eintreten, bestimmbar erscheint. Das Ausmaß einer Gefahr dagegen erscheint unbestimmbar. So zielt die Unterscheidung von Risiko und Gefahr darauf ab, künftige Schäden kalkulierbar zu machen und so Unsicherheit in Sicherheit zu transformieren. Arrangements, die künftige Bedrohungen und Schäden berechen- und kalkulierbar machen sollen, hat der Politologe Herfried Münkler als 'Kulturen des Risikos' bezeichnet.
Das Konzept des Risikos bewirkt eine kontrollierte Ausweitung von Handlungsoptionen. Denn es lässt Handlungsmöglichkeiten zu, 'die einen im Prinzip vermeidbaren Schaden verursachen können, sofern nur die Kalkulation der Schadenswahrscheinlichkeit und der etwaigen Schadens-höhe dies als vertretbar erscheinen lässt.' Kurz: Kehrseite des Risikos ist immer die Chance.
Der Umgang mit den kown unkowns ist jedoch nicht nur im Zeichen des Risikos möglich. Denn Wahrscheinlichkeitskalküle anzustellen, ist eine anthropologische Konstante, die freilich in unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten jeweils spezifische Ausprägungen entwickelt hat. Dabei hat man vier Typen des Wahrscheinlichkeitskalküls unterschieden: erstens die statistische Berechnung, zweitens die protostatistische Einschätzung, die auf einer groben Einschätzung der Häufigkeit beruhen, mit der bestimmte Ereignisse eintreten, drittens die nicht deduktive, erfahrungsbasierte Einschätzung und viertens die intuitive Einschätzung. Neben den Kulturen des Risikos gibt es also auch Probabilitätskulturen.
Handelt es sich bei einem known unknown um ein kontingentes Scha-densereignis, dann sind allerdings auch Formen der Absicherung gegen dieses möglich, ohne dass dessen Eintrittswahrscheinlichkeit kalkuliert wird. Solche Formen der Absicherung sind in der Geschichte immer wieder belegt. Erwähnt seien hier Formen der sozialen Sicherung von den Gilden und Zünften des Mittelalters bis zur Solidargemeinschaft zeitgenössischer gesetzlicher Krankenversicherungen. Ebenfalls eine große Rolle spielt die Abwehr künftiger Schäden und Nöte durch Vorsorge im Bereich obrigkeitlichen beziehungsweise staatlichen Handelns. Die Stichwörter lauten hier Polizei beziehungsweise Policey. In der jüngeren Vergangenheit ist das Vorsorgeprinzip regelrecht zur Leitlinie staatlicher und überstaatlicher Normierungen geworden, vornehmlich im Umweltrecht. Alle diese Formen und Ausprägungen von Vorsorge haben gemeinsam, dass sie die aus Erfahrung den möglichen Eintritt bestimmter Ereignisse und Entwicklungen in Rechnung stellen, aber nicht im strengen Sinne mit der Zukunft rechnen. Sie beruhen also nicht auf dem Kalkül, wie wahrscheinlich der Eintritt der jeweiligen kontingenten künftigen Schäden ist. Sie beugen Gefahren vor, statt Risiken zu managen.
Den known unkowns, bezüglich derer sich auf der Basis von Erfahrungswissen Erwartungen bilden lassen, steht ein zweiter Typus gegenüber, bei dem dies nicht möglich ist und dessen Ort am Horizont des Möglichen gänzlich unbestimmbar ist, weder in der Nähe des Notwendigen, noch in der Nähe zum Unmöglichen: die unknown unknowns. Über sie herrscht völlige Ungewissheit. Sie sind absolut kontingent: die neue, noch unbekannte Seuche aber auch die mögliche künftige Errungenschaft, die allenfalls zu erahnen ist. Auch hier spielt Erfahrung für die Haltung der Akteure zur Kontingenz beziehungsweise kontingenten Ereignissen eine Rolle, aber eben als die Erfahrung, dass es immer völlig anders kommen kann als erwartet, die Zukunft also gänzlich ungewiss ist.
Geht man nun mit Koselleck davon aus, dass die Moderne durch die fundamentale Differenz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont charakterisiert ist, dann folgt daraus, dass vor allem Praktiken und Semantiken des Umgangs mit unknown unknowns charakteristisch für moderne Kontingenzkulturen sind. Denn wenn sich die Erwartungen immer stärker von allen bisher gemachten Erfahrungen entfernen, dann ist eine Extrapolation dessen, was künftig möglich erscheint, aus Erfahrungswissen nicht möglich. An die Stelle von Wissen über Kontingenz im eigentlichen Sinne tritt die Imagination von kontingentem Geschehen und seinen Folgen. Im Gefolge von Reinhart Koselleck ist dabei in erster Linie die optimistische Imagination der Zukunft im Zeichen des Fortschritts betont worden. Koselleck zufolge hat die Beschleunigung zeitlicher Erfahrung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum einen die Geschichte verzeitlicht, sodass diese sich zu einem eigenwertigen, genuin menschlichen Geschehenszusammenhang verselbständigte und als Kollektivsingular überhaupt erst entstand. Den Motor des autonomen historischen Prozesses sahen die Zeitgenossen dabei im Fortschritt, so dass die Zukunft zu einem offenen Raum geworden sei, in den die optimistische Erwartung von Gestaltbarkeit und Optimierbarkeit künftigen Geschehens projiziert wurde. In Anknüpfung an Koselleck unterscheidet etwa Jörn Rüsen die moderne Kontingenzbewältigung als eine direkte und optimistische Handlungs-anleitung zur Veränderung und Verbesserung der Welt von der eher pessimistischen antiken und jüdisch-christlichen, in der Kontingenz als Hinweis auf die Grenzen menschlichen Seins ertragen wurde und nicht zu umfassenden Veränderungen führte.
Eine mindestens ebenso große Rolle wie die optimistische Perspektive auf das künftig Mögliche im Zeichen des Fortschrittes spielte seit dem
19. Jahrhundert jedoch die pessimistische Imagination der Zukunft als Katastrophe, deren Eintritt durch Prävention verhindert werden soll.
Im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte ist die Zukunft in immer wieder neuer Form als Katastrophe imaginiert worden, und zwar ebenfalls als Folge eines autonomen historischen Prozesses, von den Verdunkelungsbildern der Romantik bis hin zu den unterschiedlichen Katastrophen-Filmen. Charakterisiert ist das Verhältnis zum künftig Möglichen im Zeichen des 'emergency imaginary' (Craig Calhoun) dabei durch 'einen aktivistischen Negativismus: Nicht Fortschritt zum Besseren, sondern Vermeidung künftiger Übel bildet die Stoßrichtung vorbeugender Anstrengungen.'
Praktiken und Semantiken, mit denen man sich auf die unknown un-knowns der Zukunft einzustellen und diese zu imaginieren versucht, dürfen wohl als Spezifikum der Moderne angenommen werden. Doch heißt dies keinesfalls, dass sie in modernen Gesellschaften vorherrschend waren und sind. Denn Praktiken des Umgangs mit den known unknowns spielten und spielen in ihnen für den aktiven Umgang mit Kontingenz weiterhin eine wichtige Rolle. Erwähnt sei ein weiteres Mal das Versicherungswesen. Für dieses und andere Praktiken der aktiven Kontingenzbewältigung, die auf der Extrapolation von Erfahrungswissen zu Szenarien beruhen, bedeutet der Übergang zur Moderne keinen fundamentalen, sondern eher einen graduellen Wandel im Umgang mit kontingentem Geschehen, der vor allem durch das Streben charakterisiert ist, empirische Daten immer umfassender zu erfassen, um so künftige Entwicklungen und Geschehnisse immer exakter bestimmen zu können. Die moderne Statistik etwa ermöglichte eine exaktere Berechnung von Wahrscheinlichkeiten mit denen spezifische Ereignisse eintreten und damit ein genaueres Kalkül mit der Zukunft. Dennoch ist die moderne Probabilitätskultur nicht ausschließlich von statistischen Berechnungen von Wahrscheinlichkeiten geprägt. Im zeitgenössischen business forecasting etwa spielen intuitive Einschätzungen eine erhebliche Rolle und erweisen sich angesichts extrem komplexer Informationslagen oftmals als genauso zuverlässig (oder unzuverlässig) wie mathematische Modelle.
Aus einer praxeologischen Perspektive löst die Kontingenzkultur der Moderne sich also auf in eine Vielzahl von Kontingenzkulturen mit je unterschiedlichen Logiken, Wissensformen und Möglichkeitshorizonten. Sie weisen zum einen spezifisch moderne Charakteristika auf, die aus der Erfahrung zeitlicher Beschleunigung seit Mitte des 18. Jahrhunderts resul-tieren, knüpfen aber auch an vormoderne Kulturen des Risikos, der Prävention und Vorsorge an, deren Logiken und Know-how sie über-nehmen und perfektionieren beziehungsweise zu perfektionieren trachten.
Doch auch für die Kontingenzkulturen der Vormoderne ist von einer Pluralität von Logiken, Know-hows und Möglichkeitshorizonten auszuge-hen, und auch für diese spielte neben Praktiken des Umgangs mit known unknowns auch die aktive Bewältigung der unknown unknowns eine Rolle.
Künftige Ereignisse lassen sich niemals vollständig aus vergangenen Erfahrungen ableiten. Denn Erfahrungsraum und Erwartungshorizont trennt eine kategoriale Differenz: 'Wer seine Erwartung zur Gänze aus seiner Erfahrung ableiten zu können glaubt, der irrt. Wenn es anders gekommen als erwartet, dann ist man eines Besseren belehrt. Wer aber seine Erwartung nicht auf Erfahrung gründet, der irrt ebenfalls. Er hätte es besser wissen können.'
Vor allem aber unterliegt die Differenz zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont dem Wandel in der Zeit. Im Gefolge von Koselleck hat man vorrangig dem Anwachsen des Abstandes von 'Erfahrungsraum' und 'Erwartungshorizont', seit der von ihm so bezeichneten 'Sattelzeit' von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, betrachtet. Koselleck selbst hat jedoch darauf verwiesen, dass sich der Raum zwischen Erfahrung und Erwartung in bestimmten Praxisfeldern und bestimmten historischen Konstellationen auch in der Vormoderne erheblich ausdehnte:
'In der Welt der Politik mit ihrer zunehmenden Mobilisierung von Machtmitteln, in der Bewegung der Kreuzzüge oder später der Landnahme in Übersee, um zwei markante Ereignisschübe zu nennen, und auch in der Welt des Geistes kraft der kopernikanischen Wende und in der Abfolge technischer Erfindungen der frühen Neuzeit muß weithin eine bewußte Differenz zwischen überkommener Erfahrung und neu zu erschließender Erwartung vorausgesetzt werden.'
Genau dieses Bewusstsein artikuliert ein berühmter Protagonist der europäischen Expansion und damit eines der von Koselleck genannten 'Ereignisschübe', Amerigo Vespucci, in seinem berühmten Mundus Novus-Brief von 1502, wenn er schreibt:
'[...] was für Gefahren für das Schiff und was für Plagen für uns selbst wir ertragen und unter welchen Ängsten wir gelitten haben, überlasse ich der Einschätzung derer, die aus mannigfaltiger Erfahrung sehr wohl wissen, was es bedeutet, nach Ungewissem zu forschen und sich ohne die Sicherheit, daß es überhaupt existiert, danach auf die Suche machen.'
Offenkundig ließ sich beim Aufbruch in unbekannte Gegenden aus der Erfahrung früherer Expeditionen nur noch die Erwartung von Ungewissheit ableiten. Und es wäre zu überprüfen, inwieweit nicht auch andere Ereignisse und Prozesse, wie etwa die von Koselleck selbst erwähnten Kreuzzüge oder der Mongolensturm des 13. Jahrhunderts, in der Vormoderne ähnliche Risse zwischen Erfahrung und Erwartung zur Folge hatten, die Zeitgenossen dazu nötigten, sich auf die in diesem Riss verborgenen unknown unknowns in irgendeiner Form einzustellen.
Historisch fassbare, auf Praktiken beruhende Kontingenzkulturen, ihre Logiken, ihr Know-how und ihre Imaginarien zu beschreiben und zu analysieren, die Kontingenzgeschichten zu ordnen und Zäsuren und Kontinuitäten zu bestimmen, dies wird die Aufgabe künftiger Forschung zur Geschichte des menschlichen Umgangs mit den Möglichkeiten sein, die die Zukunft birgt.

Erscheint lt. Verlag 11.8.2016
Reihe/Serie Kontingenzgeschichten
Kontingenzgeschichten
Co-Autor Thomas Etzemüller, Ralf-Peter Fuchs, Doris Gerber, Lucian Hölscher, Christoph Kampmann, Wolfgang Knöbl, Herfried Münkler
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Beliebigkeit • Chaos • Forschung • Geschichte • geschichtliche Abläufe • Kontingenz • Ordnung • Rückblick • Ungewissheit • Voraussicht • Vorhersage • Vorsorge • Zufall • Zufälligkeit • Zukunft
ISBN-10 3-593-43378-8 / 3593433788
ISBN-13 978-3-593-43378-3 / 9783593433783
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