Die Wiedergewinnung des Realismus (eBook)

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2016 | 1. Auflage
316 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74437-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wiedergewinnung des Realismus -  Hubert Dreyfus,  Charles Taylor
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Anhand von Begriffen wie Dasein, Zeitlichkeit und Verkörperung und in Rückbesinnung auf eine Traditionslinie, die von Aristoteles bis zu Heidegger und Merleau-Ponty reicht, skizzieren Hubert Dreyfus und Charles Taylor ein radikal neues erkenntnistheoretisches Paradigma, das den Menschen als immer schon in direktem Kontakt mit der Welt begreift: einen robusten pluralen Realismus, der auch in ethisch-politischer Hinsicht einheitsstiftende Kraft hat. Es ist der endgültige Abschied von René Descartes - souverän inszeniert von zwei der bedeutendsten Denker unserer Zeit.

<p>Hubert Dreyfus, geboren 1929, war Professor f&uuml;r Philosophie an der Universit&auml;t von Kalifornien, Berkeley. Ber&uuml;hmt geworden ist er durch seine kritische Auseinandersetzung mit der K&uuml;nstlichen Intelligenz, aber auch durch seine Interpretationen von Husserl, Sartre und Foucault. Au&szlig;erdem galt er als einer der besten Heidegger-Kenner weltweit. Dreyfus war Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und Tr&auml;ger zahlreicher Auszeichnungen. Er starb am 21. April 2017.</p>

2
Wie man dem Bild entkommt


Natürlich muß man, um zu der Überzeugung zu gelangen, daß die vermittlungsgebundene Auffassung ein »Bild« im Sinne Wittgensteins – und zwar ein Zerrbild – ist, den Argumenten nachgehen, die zur »Dekonstruktion« dieser Auffassung geführt haben. Sofern die gegen Ende des 1. Kapitels vertretene These zutrifft, wonach der im Rahmen unserer Kultur geführte Kampf, in dem diese Dekonstruktion zum Tragen kommt, seit mindestens zwei Jahrhunderten ausgefochten wird, gilt auch, daß der Vorgang der Widerlegung und der Entstehung des neuen, des modernen Kontaktansatzes ebenfalls schon seit geraumer Zeit im Gang ist.

Es gibt zwei Hauptachsen der Widerlegung. Wie schon gesagt, faßt das verfehlte Bild die Erkenntnis als (richtige) innere Repräsentation der äußeren Realität auf. (1) Eine Linie der Widerlegung besteht nun in dem Nachweis, daß wir die Welt nicht ausschließlich repräsentational erfassen können. Freilich, Repräsentationen spielen beim Vorgang des Erfassens eine Rolle, aber sie machen nicht das Ganze, ja nicht einmal den entscheidenden Teil des Ganzen aus. (2) Doch dem ursprünglich von Descartes hergeleiteten, vorherrschenden Bild zufolge befindet sich das innere Bild im Geist des einzelnen. Nach der richtigen Interpretation sei es nicht nur so, daß die Erkenntnis aus Repräsentationen besteht, sondern überdies sei ihr Ort in erster Linie der Geist von Einzelpersonen. Deren Geist sei zwar zu wechselseitigem Austausch mit dem Geist der anderen imstande, und außerdem könne es die eine oder andere Form der sozialen Bündelung – etwa in Bibliotheken, Lexika und Websites – geben, aber dieses gemeinschaftliche Wissen sei letzten Endes eine Verknüpfung der Erkenntnisse von Einzelwesen. Der Aufbau gültiger Erkenntnis aus dem ursprünglichen Input sei vor allem ein monologischer Prozeß. Es ist diese These des monologischen Vorgehens, die von der zweiten Widerlegungsstrategie aufs Korn genommen wird. Dabei geht es darum, zu zeigen, daß unser Weltverständnis vor allen Dingen etwas Gemeinsames ist, das erst in zweiter Linie an jeden einzelnen von uns weitergegeben wird, indem wir in die Sprache und die Kultur unserer jeweiligen Gesellschaft eingeführt werden. Selbstverständlich kann jeder einzelne von uns anschließend Zusätze und Veränderungen anbringen, die dann jedoch einen zunächst einmal gemeinsamen Vorrat betreffen, den jeder von uns von außen empfängt.

Die erste Widerlegungsstrategie zielt auf den Primat der Repräsentation überhaupt, während die zweite Widerlegungsstrategie die individuelle Repräsentation – die Vorrangstellung des Monologischen – aufs Korn nimmt.

In den folgenden Kapiteln halten wir uns zunächst an die erste Strategie. Hält man sich an diese Strategie, so geht der Schachzug, mit dem man die Partie eröffnet, in einem bestimmten Sinn auf Kant zurück, obwohl er in maßgeblichen Hinsichten der vermittlungsgebundenen Auffassung verhaftet blieb. Hegel wiederum repräsentiert ein weiteres wichtiges Stadium. Aber eigentlich ist der Alternativansatz nicht vor der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert vollständig zum Ausdruck gebracht worden.

1


Diese erste Widerlegungs- bzw. Dekonstruktionsstrategie umfaßt, wie nicht anders zu erwarten, eine Vielzahl von Einzelsträngen. Einer dieser Stränge ist der Angriff auf den Mythos des Gegebenen, also die Vorstellung, unsere Erkenntnis habe ihren Grund in der Aufnahme im voraus interpretierter Daten. Diese Vorstellung macht die Erfahrung offenbar zum Problem: Wir stellen Überlegungen an, nennen Gründe, ziehen Schlüsse und gelangen zu einer Auffassung über die Welt. Aber unser Rahmenverständnis, das die meisten Theorien dieser Art beizubehalten versuchen, besagt, daß wir auch etwas von der Welt lernen. Wir erfassen und erfahren Dinge, auf deren Grundlage wir unsere Überlegungen anstellen. Es ist diese doppelte Quelle unserer Erkenntnis, welche die vermittlungsgebundenen Erkenntnistheorien durch ihre Grundstruktur in den Griff bekommen sollten: Die Rezeptivität sorgt für die basalen Inputelemente, die sodann durch Denkprozesse in Wissenschaft verwandelt werden.

Aber gerade die durch das vermittelnde Element gezogene Grenze macht es schwer zu verstehen, wie diese beiden Quellen zusammenarbeiten können. Was zunächst wie eine offensichtliche Lösung wirkt, führt bloß zur Entstehung einer weiteren Gruppe von Problemen, nämlich zu den später zu besprechenden Problemen, die mit Skepsis und Nichtrealismus einhergehen. Solche Lösungen laufen tendenziell auf den Gedanken hinaus, daß die Rezeptivität rein kausal zu deuten ist: Sie soll lediglich bestimmte Resultate liefern, die wir nicht hinterfragen können; anschließend leistet die Vernunft das, was sie kann, um diesen Resultaten etwas Verständliches abzugewinnen.

Aber aus weiterem Blickwinkel betrachtet, kann schon die bloße Vorstellung von einer Grenze überaus problematisch wirken. Kritisches Denken ist etwas, was wir tun – es handelt sich um eine Aktivität im Bereich der Spontaneität und der Freiheit. Aber was die Erkenntnis der Welt betrifft, soll dieses Denken auf das Sosein der Dinge reagieren können. Die Spontaneität muß irgendwie mit der Rezeptivität verschmelzen. Es fällt jedoch schwer zu erkennen, wie das möglich sein soll, wenn man die Spontaneität als eine Art von grenzenloser Freiheit begreift, die an der Stelle, an der sich die beiden berühren, auf eine Welt auftreffen muß, die von ehernen »Naturgesetzen« postgalileischer Observanz regiert wird. Die schizophrene Natur der Grenzereignisse, die unerklärlicherweise sowohl an der Natur als auch an der Freiheit teilhaben sollen, ist eine unvermeidliche Konsequenz, die sich aus dieser Sicht der Dinge ergibt.

So kommt es, daß schon die Vorstellung von einem Ereignis an der Grenze zwischen dem Reich der Ursachen und dem Reich der Gründe allmählich widersprüchlich erscheint. Dieses Ereignis müßte in einem gewissen Sinn amphibisch sein und beiden Bereichen angehören. Aber ist es nicht so, daß die beiden einander in ihrem Wesen widersprechen? Auf der einen Seite befindet sich ein Gegenstand oder ein faktisch bestehender Sachverhalt, das kausale Endresultat der von außen kommenden Reizung unserer Sinnesorgane. Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Behauptungen, die besagen, daß sich die Dinge so und so verhalten, und diese Behauptungen könnten als Gründe für die Annahme dieser oder jener allgemeineren Ansicht fungieren. Das ist die Überlegung, die manche Philosophen dazu veranlaßt hat, den Mythos des (rein) Gegebenen – der ungeschönten, uninterpretierten Tatsachen – anzuprangern.[1]

Das Problem besteht darin: Wie soll man die Erfahrung (im Sinne der Gewinnung von Informationen aus der Welt) erklären? In einer Hinsicht müssen wir diese Informationen empfangen – wir sind also auf der passiven Seite. In einer anderen Hinsicht müssen wir wissen, wie man diese Informationen »erfaßt« – und hier sind wir aktiv. Wie lassen sich diese beiden Seiten miteinander verbinden?

Darin liegt das berüchtigte Problem der durch die neuzeitliche Erkenntnistheorie definierten Tradition der neueren Philosophie. Bei manchen bekannten Autoren, die zu den Klassikern zählen, liegt das Fehlen einer einleuchtenden Theorie der Erfahrung auf der Hand. Leibniz hat sie zu guter Letzt überhaupt bestritten und sich ein Bild von der Welt gemacht als einem Etwas, das in seiner Gesamtheit in der Monade vorhanden ist. Hume hat sich, wie es scheint, für das andere Extrem entschieden und gemeint, unser ganzes Wissen komme durch die Erfahrung zu uns. Daher der Ruhmestitel »Empirist«. Doch dafür muß er den Preis bezahlen, daß die aktive Dimension zur Gänze gestrichen wird, so daß die Leistungen der Erfahrung nichts anderes sind als unverbundene Informationsschnipsel, während das, was normalen Menschen wie unbestreitbare Verbindungen vorkommt, als Projektion des Geistes gebrandmarkt wird. Bei diesem karikaturhaften Passivismus kommt sogar das Selbst abhanden.

Kant wiederum hat bekanntlich den Versuch unternommen, Hume und Leibniz unter einen Hut zu bringen. Immerhin hat er das Problem gesehen: Wie lassen sich Spontaneität und Rezeptivität miteinander verbinden? Aber er war noch zu sehr in die vermittlungsgebundene Struktur verstrickt, um eine glaubwürdige Lösung vorzuschlagen.[2]

2


Der im zwanzigsten Jahrhundert einflußreichste Strang ist jedoch der »metakritische«, wie wir hier sagen wollen.[3] Der Grundgedanke der Metakritik besteht, wie schon der Name nahelegt, darin, daß man die Grundlage der kritischen Theorie erster Stufe erkunden möchte. Diese erststufige Theorie beansprucht, über die Bedingungen unserer alltäglichen oder wissenschaftlichen Erkenntnisansprüche nachzudenken und damit unsere gewöhnliche, vorkritische Auffassung von diesen Wissensansprüchen in Frage zu stellen. Die Metakritik reflektiert nun ihrerseits über die Bedingungen unserer kritischen Bemühungen.

Die Suche nach Bedingungen spielt sich jedoch in einer anderen Dimension ab. Das ist eine von den Begründern der vermittlungsgebundenen Tradition freilich noch nicht erkundete, von Kant dagegen keineswegs vernachlässigte Dimension. Deshalb spielt Kant eine derart entscheidende Rolle. Es geht um den Versuch, den Kontext zu erkunden, der vorausgesetzt werden muß, um das kritische Unterfangen selbst und darüber hinaus unsere Erfahrung der Welt als solche verständlich zu deuten. Welches Verständnis des Geistes in der Welt würde eine sinnvolle Deutung der...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2016
Übersetzer Joachim Schulte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Retrieving Realism
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Descartes • Erkenntnistheorie • Philosophie • Realismus • STW 2347 • STW2347 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2347
ISBN-10 3-518-74437-2 / 3518744372
ISBN-13 978-3-518-74437-6 / 9783518744376
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