Kapitalismuskritik im Christentum
Geht man der Frage nach, wo die geistigen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft liegen, stößt man auf die Kapitalismuskritik, die in den 1920er- und 1930er-Jahren gerade auch seitens der christlichen Konfessionen geübt wurde. In diesem Buch werden die Positionen wichtiger Protagonisten und Vordenker dieser Denkrichtung analysiert: Paul Tillich, Georg Wünsch, Karl Barth, Oswald von Nell-Breuning und Joseph Höffner. Daneben zeigt der Band exemplarisch, inwieweit die protestantische Sozialethik und die katholische Soziallehre Einfluss auf die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik genommen haben.
Prof. Dr. Matthias Casper, Prof. Dr. Karl Gabriel und Prof. Dr. Hans-Richard Reuter forschen am Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster.
Inhalt
Vorwort 9
I. Kapitalismuskritik und Entwicklungen in den 1920er und 1930er Jahren
Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises 13
Erdmann Sturm
Wirtschaftsethik als Kapitalismuskritik - Georg Wünschs Modell einer nicht-formalistischen Wertethik und die "autonome Teleologie der Wirtschaft" 37
Matthias Wolfes
Religiöser Sozialismus als dialektische Theologie: Karl Barth 79
Sabine Plonz,
Kapitalismuskritische Richtungen im deutschen Katholizismus der Zwischenkriegszeit 111
Jonas Hagedorn
Oswald von Nell-Breuning, S.J.:
Die Aktienreform und Moral (1930) - ein kapitalismuskritischer Zwischenruf eines juristischen Außenseiters? 142
Matthias Casper
II. Kapitalismuskritik und Naturrecht nach 1945
1. Kapitalismuskritik
Die Bedeutung religiöser Traditionen für die Wohlfahrtsstaatsentwicklung in Deutschland: Die Subsidiaritätssemantik in der Weimarer Republik und in der frühen Bundesrepublik 173
Karl Gabriel
Die Kapitalismuskritik bei Joseph Höffners und Oswald von Nell-Breuning 192
Friedhelm Hengsbach SJ
Vom reichen Christen und dem armen Lazarus - Auseinandersetzungen über Sozialismus und Marxismus in der evangelischen Sozialethik nach 1945 237
Benedikt Brunner
2. Die Besinnung auf das Naturrecht nach 1945 als dritter Weg?
Ein eigenständiger Beitrag? Wirtschafts- und Sozialethik in der juristischen Naturrechtsliteratur nach 1945 277
Lena Foljanty
Die "Ordnung der Wirtschaft" in den frühen Landesverfassungen: Weimarer Reminiszenz oder neuscholastisches Naturrecht 300
Fabian Wittreck
3. Die Debatte um die Mitbestimmung als pars pro toto
Die Mitbestimmungsinitiative des Bochumer Katholikentags 1949 für eine Wirtschaftsordnung aus christlicher Überzeugung 337
Werner Krämer
Die Mitbestimmungsdiskussion im DGB und der Bochumer Katholikentag 1949 365
Karl Lauschke
III. Rückblick, Zusammenfassung und Ausblick
Biblische Perspektiven zur Wirtschaftsethik 387
Rainer Albertz
Was bleibt von der christlichen Kapitalismuskritik? Eine zusammenfassende Spurenlese 404
Matthias Casper
Autorinnen und Autoren 432
Die Kapitalismuskritik Paul Tillichs und des Kairos-Kreises
Erdmann Sturm
Paul Tillich und der Kairos-Kreis
Die Deutsche Hochschule für Politik in Berlin hatte für das Wintersemester 1922/23 zu einer "politischen Arbeitsgemeinschaft" eingeladen. Nicht unterschiedliche Redner beliebiger politischer Richtungen sollten hier referieren, sondern es sollte "eine geschlossene Gruppe mit einheitlicher Grundrichtung sich darstellen und eine Grundanschauung allseitig durchführen". Gemeint war der Kreis der Blätter für Religiösen Sozialismus, der bald den Namen "Kairos-Kreis" erhielt. So sind die Referenten des politischen Seminars identisch mit dem Berliner Kairos-Kreis. Schon das Thema des Seminars - es lautete "Erneuerung des Sozialismus" - ließ erkennen, um was es diesem Kreis ging: um einen neuen Sozialismus, der den nach ihrer Auffassung auf das rein Ökonomische verengten, zur Orthodoxie erstarrten, bürokratischen Sozialismus überwinden sollte.
Die Leitung des Seminars hatte der Privatdozent an der Berliner theologischen Fakultät Paul Tillich (1886-1965), der unbestritten der führende Theoretiker des Kairos-Kreises wie überhaupt des religiösen Sozialismus in Deutschland war. Er war die zentrale Integrationsfigur des Kreises, ein Meister der Vermittlung zwischen den unterschiedlichsten Standpunkten. Das Thema seines Referats ("Formkräfte der abendländischen Geistesgeschichte") zeigt an, in welchem geistigen Rahmen der neue Sozialismus konzipiert werden sollte. Als weitere Referenten wurden genannt: Carl Mennicke (über "Sozialismus in der religiösen Bewegung der Gegenwart"), Eduard Heimann (über "Der Rang der Wirtschaft"), Alexander Rüstow (über "Marxismus und Gemeinschaft" sowie über "Gestalterkenntnis als philosophische Grundlegung des Sozialismus"), Adolf Löwe (über "Soziologie der deutschen Geschichte" sowie über "Soziologie der Kunst") und Arnold Wolfers (über "Macht und Gemeinschaft in der Weltpolitik"). Den Abschluss bildeten Tillich und Mennicke mit dem Thema "Der Sozialismus als Wirklichkeit und als Aufgabe".
Damit sind schon die wenigen Mitglieder des Berliner Kairos-Kreises genannt. Anfangs hatten auch der Berliner Pfarrer Günther Dehn und der Privatdozent für Neues Testament Karl-Ludwig Schmidt dazu gehört. Ein einheitliches Programm, dem jeder von ihnen hätte zustimmen können, hatte der Kreis nicht. Im Unterschied zu anderen religiös-sozialistischen Gruppen war er ein kleiner, elitärer Zirkel von Intellektuellen ohne Verbindung zur Kirche oder zum organisierten Sozialismus. Er wollte keine "Bewegung" sein oder anstoßen, sondern harte theoretische Arbeit leisten. Ihr Austausch- und Publikationsorgan waren die von Carl Mennicke herausgegebenen Blätter für Religiösen Sozialismus, eine aus wenigen Seiten bestehende Zeitschrift. Sie hatte nur eine geringe Verbreitung und hat von 1920 bis 1927 existiert. Als im Jahre 1925 Heimann als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Universität Hamburg und Tillich an die Universität Marburg berufen wurde, konnte der Kreis nicht mehr regelmäßig in Berlin zusammenkommen. Aber man traf sich immer wieder auf Tagungen und Konferenzen, so bei der Heppenheimer Konferenz 1928, wo Henrik de Man und Eduard Heimann zum Thema "Die Begründung des Sozialismus" sprachen. Tillich und Heimann waren auch die Herausgeber einer neuen Zeitschrift, der Neuen Blätter für den Sozialismus. Zeitschrift für politische und geistige Gestaltung, die - anders als Blätter für Religiösen Sozialismus - eine sozialdemokratische Zeitschrift sein wollte, aber eine geistige und politische Erneuerung des doktrinär erstarrten Sozialismus anstrebte. Sie hatte vor allem die "Mittelschichten" im Blick, die wie das Proletariat zu den Verlierern im System des Kapitalismus gehörten, dem Sozialismus aber distanziert, wenn nicht gar feindlich gegenüberstanden. Die Zeitschrift begann 1930 zu erscheinen. Tillich und Heimann verfassten für das erste Heft je einen programmatischen Aufsatz. Das
Erscheinungsdatum | 05.08.2016 |
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Reihe/Serie | Religion und Moderne ; 5 |
Co-Autor | Rainer Albertz, Benedikt Brunner, Matthias Casper, Lena Foljanty, Karl Gabriel, Jonas Hagedorn, Friedhelm Hengsbach, Werner Krämer, Karl Lauschke, Sabine Plonz, Hans-Richard Reuter, Erdmann Sturm, Fabian Wittreck, Matthias Wolfes |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 143 x 214 mm |
Gewicht | 528 g |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Allgemeines / Lexika | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte | |
Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Wirtschaftsgeschichte | |
Schlagworte | Bundesrepublik Deutschland (1949-1990); Politik/Zeitgeschichte ab '68 • Bundesrepublik Deutschland (1949-1990); Religion • Christentum • Georg Wünsch • Joseph Höffner • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Karl Barth • Katholizismus,Protestantismus • Mitbestimmung • Naturrecht, Bochumer Katholikentag • Oswald von Nell-Breuning • Paul Tillich • Politik • Religion und Wirtschaft • Religiöser Sozialismus • Sozialethik • Sozial-Wirtschaftsgeschichte • Theologie • Verfassung • Weimarer Republik; Sozial-/Wirtschafts-G. • Wirtschaftsethik • Wirtschaftsordnung |
ISBN-10 | 3-593-50577-0 / 3593505770 |
ISBN-13 | 978-3-593-50577-0 / 9783593505770 |
Zustand | Neuware |
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