Sinn und Existenz (eBook)

Eine realistische Ontologie

(Autor)

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2016 | 1., Deutsche Erstausgabe
507 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73872-6 (ISBN)

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Sinn und Existenz - Markus Gabriel
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Die neuzeitliche Ontologie nimmt seit Kant und Frege an, Existenz sei keine (gewöhnliche) Eigenschaft. Damit wird die alte Frage nach dem Sinn von Sein in einem veränderten Rahmen neu formuliert. Allerdings wird dabei vorausgesetzt, die Bedeutung von »Existenz« ließe sich ohne Rekurs auf Sinnkategorien verständlich machen, gleichzeitig wird Existenz an logische Funktionen wie den Existenzquantor oder den Mengenbegriff zurückgebunden. Gegen diese Annahmen vertritt Markus Gabriel in seinem originellen neuen Buch eine Ontologie der Sinnfelder: Zu existieren heißt, in einem Sinnfeld zu erscheinen. Überraschenderweise spricht laut Gabriel genau dies für einen neuen Realismus in der Ontologie.

<p>Markus Gabriel, geboren 1980, ist Inhaber des Lehrstuhls für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität Bonn, wo er das Internationale Zentrum für Philosophie NRW und das Center for Science and Thought leitet. Zurzeit ist er Eberhard Berent Goethe Chair an der New York University.</p>

§ 1 Existenz ist keine eigentliche Eigenschaft


Beginnen wir mit einer illustrativen »Situationsbeschreibung«. Wir gehen in die Küche. Während wir eintreten, fällt uns ein merkwürdiges Ding auf, das sich mitten im Raum befindet. Es sieht wie eine gasartige Wolke aus, an der ein linker Arm herumhängt. Die Wolke ändert dauernd ihre Farbe, und alle Farben sehen aus wie Farben, die wir noch nie gesehen haben. Während wir diesen Eindruck verbalisieren und sagen, dass da eine bunte Wolke mit zusätzlicher linker Hand ist, hat sich die Wolke völlig überraschend in eine Giraffe verwandelt, die Autoreifen anstelle eines Kopfes trägt, und während wir verdutzt vor diesem Unding stehen, wurde die erste Hälfte der Giraffe unversehens durch die gute alte Wolke ersetzt, an der nun dieses Mal ein rechter Arm herumhängt. Wir beginnen zu bemerken, dass wir kaum imstande sind, unsere Gedanken über jene merkwürdige »Szene« zu Ende zu denken. Das ausgesprochen merkwürdige und sich rasch wandelnde »Ding« da vor uns macht es uns unmöglich, irgendeinen seiner Zustände aus dem Wandel hervorzuheben und es als dieses oder jenes Ding irgendwie befriedigend zu bestimmen.

Wenn sich nun unsere Gedanken über das »Unding« ähnlich zusammenhangslos und rasch änderten wie das »Unding« selbst, dann gäbe es keine nachvollziehbare Szene mehr. Befänden wir uns jemals in einer kognitiven Situation, in der kein Hinweis auf die Identität irgendeines Individuums – und sei es eines Gedankenvorkommnisses als Element unseres Bewusstseinsstroms – gewonnen werden könnte, könnten nur Außenstehende, für die es nicht nur absolute Prozesse gibt, urteilen, wir befänden uns inmitten absoluter Prozesse. Für uns fände nur bloßes Werden statt, kein Werden von irgendetwas, nur noch Werden, Werden ohne Werdendes. Der Versuch, sich einem solchen reinen Werden zu nähern, löst schnell den Eindruck aus, die Grenze zwischen Wachen und Träumen werde verwischt, da normalerweise Hinweise auf die Identität von Individuen vorliegen, die auch bestehen bleiben, wenn wir uns ihnen zuwenden.

Man kann dies auch anhand eines kleinen Prosafragments aus Ernst Jüngers Gläserne Bienen illustrieren. Richard, der Erzähler, berichtet dort von seiner ersten Begegnung mit gläsernen Bienen, sprich: mit Bienenrobotern. In seinem Gesichtsfeld schweben unbestimmbare graue Dinge herum, die sich wie ein »Rauchkopf« in seinem »Feld bewegte[n]«.[1]

Ich konnte nicht sagen, ob die Veränderungen, die ich auf der Oberfläche der Automaten zu erkennen glaubte, sich in der Wirklichkeit abspielten oder nicht. Ich sah Farbwechsel wie bei optischen Signalen, so ein Erblassen und dann ein jähes, blutrotes Aufleuchten. Dann wurden schwarze Auswüchse sichtbar, die sich wie Schneckenhörner ausstülpten. […] Jedenfalls war es ganz still im Garten und ohne Schatten, wie es in Träumen ist.[2]

Der Begriff des Individuums wird üblicherweise in die Ontologie und Metaphysik eingeführt, um uns die Tatsache verständlich zu machen, dass wir Gegenstände begrifflich individuieren können und demnach nicht nur mit absoluten Prozessen konfrontiert sind, die sich unterhalb der Schwelle der begrifflichen Fixierung vollziehen. Der Begriff des Individuums erfüllt eine theoretische Funktion im Rahmen der Erklärung des Umstandes, dass dasjenige, was es gibt, uns kognitiv bzw. epistemisch zugänglich ist. Denn Individuen sind Gegenstände, die hinreichend von anderen Gegenständen unterschieden sind, um als solche erkannt zu werden.

Dabei genügt es vorerst, unter Individuen hinreichend bestimmte Gegenstände zu verstehen, ohne sich auf die problematischere Annahme festzulegen, dass etwas nur dann ein Individuum ist, wenn es vollständig bestimmt ist.[3] Denn zumindest der Grad epistemischer Individuation und hinreichender epistemischer Bestimmtheit variiert für viele Individuen relativ zum Interesse, das wir in sie investieren. Individuation ist nicht im Allgemeinen eine rein ontische Angelegenheit, die man deswegen auch insgesamt verstehen kann, indem man Interessen- oder Erkenntnisrelativität ausschaltet. Für einige Individuen gilt sogar, dass ihre epistemische und ihre ontische Individuation so zusammenhängen, dass man gar nicht mehr sagen kann, sie seien ontisch womöglich anders oder vollständiger individuiert, als sich dies epistemisch darstellt. Denn einige Gegenstände – etwa einige Institutionen – existieren nur unter Bedingungen, die ausdrücklich deklarativ festgelegt wurden. Ob jemand Staatsbürgerin Brasiliens ist, wird durch einen Regelkatalog festgelegt, der ab initio auf epistemische Individuation hin angelegt ist. Man kann nicht relevante, ontisch individuierende Eigenschaften von Staatsbürgern haben, die bisher niemand als individuierende erkannt hat, weil etwa unsere epistemisch sortierten Anwendungsbedingungen für den Begriff der Staatsbürgerschaft der ontisch komplexen Sachlage bisher nicht zu entsprechen vermochten.

Damit es überhaupt Individuen in diesem interessenrelativen Sinn geben kann, müssen irgendwelche interessenunabhängigen Bedingungen bereits erfüllt sein. Es ist unmöglich, dass es nur interessenrelative Individuen gibt, da die Bedingungen, die dies erklären würden, nicht ihrerseits interessenrelativ wären. Indem unsere Interessen als Wesen, die Wissen beanspruchen, unter anderem daraus resultieren, dass wir einer bestimmten biologischen Art angehören, sind einige der interessenunabhängigen Bedingungen unserer Interessen biologischer Natur. Da unsere biologische Art nur Wissenssubjekte hervorbringt, die zu historisch entstandenen Gemeinschaften gehören, müssen freilich neben biologischen auch genuin historische und soziologische Bedingungen erfüllt sein, damit das menschliche, interessenrelative Wissen formuliert werden kann.

Der Begriff der Eigenschaft spielt dabei eine doppelte theoretische Rolle. Einerseits werden Eigenschaften eingeführt, um uns verständlich zu machen, warum einige Individuen etwas gemeinsam haben. Eigenschaften sind in diesem Sinn Universalien, weil sie auf mehrere Individuen zutreffen. Nennen wir dies die Universalienfunktion von Eigenschaften.[4] Meine linke und meine rechte Hand teilen demnach die Eigenschaft, eine Hand zu sein; mein Esstisch und mein Bücherregal teilen die Eigenschaften, braun zu sein und aus Holz zu bestehen, usw.

Andererseits werden Eigenschaften aber auch eingeführt, um uns verständlich zu machen, warum es überhaupt Individuen, also Gegenstände gibt, die ontisch und epistemisch hinreichend bestimmt sind, um nicht dauernd in scheinbar völlig andersartige Gegenstände zu kollabieren. Nennen wir dies die Diskriminierungsfunktion von Eigenschaften. Sich darauf zu berufen, dass ein Individum eine Eigenschaft hat, dient in dieser Hinsicht dazu, es von anderen Individuen in einem Bereich zu unterscheiden.

Eigenschaften, die beide Funktionen übernehmen können, ohne schon deswegen begrifflich motivierte Paradoxien zu generieren, nenne ich eigentliche Eigenschaften.[5] Eigentliche Eigenschaften sind entsprechend Eigenschaften, auf die wir uns so beziehen können, dass wir damit mindestens ein Individuum in einem Bereich von einem anderen oder einigen anderen Individuen in diesem Bereich unterscheiden können. Sie sind Eigenschaften, deren Kenntnis uns in die Lage versetzt, mittels eines einfachen kategorischen Behauptungssatzes der Form Fa einen Gegenstand oder eine Tatsache in der Welt von einigen anderen Gegenständen oder Tatsachen in der Welt zu unterscheiden. Rekurs auf eigentliche Eigenschaften ist für die epistemische Individuation von Gegenständen, über die wir wahre Aussagen treffen können, unerlässlich. Außerdem liegt es auf der Hand, die ontische Individuation von Gegenständen auch darüber verständlich zu machen, dass sie genau diejenigen eigentlichen Eigenschaften haben, die wir ihnen in wahren Aussagen zusprechen. Diesem Modell zufolge unterscheiden sich Individuen schlicht dadurch, dass sie verschiedene Eigenschaften haben. Wir können Individuen demnach als Gegenstände auffassen, die eigentliche Eigenschaften haben.

Individuen werden traditionell als vollständige Gegenstände, als entia omnimode determinata, aufgefasst.[6] Was ein Individuum zu diesem im Unterschied zu jenem macht, sind seine Eigenschaften, und es ist zumindest schwer zu sehen, wie einem Individuum eine seiner Eigenschaften fehlen sollte. Allerdings wirft dies Fragen auf, die weiter unten zu erläutern sind, da die Annahme, Individuen seien vollständige Gegenstände, leicht dazu verleitet, fiktionale Gegenstände nicht für Individuen zu halten. Die Hexen im Faust unterscheiden sich scheinbar von normalen Hexen (von denen man meint, dass es sie nicht gibt) unter anderem dadurch, dass nicht feststeht, wie viele Ohren sie haben oder ob sie Augenbrauen besitzen.[7] Genauer unterscheiden sie sich dadurch von normalen Hexen, dass sie nur relativ zu einer gelungenen Interpretation (von denen es eine Vielzahl gibt) und im Rahmen der Illusionsbildung des Rezipienten in allen relevanten Hinsichten bestimmt werden. Sie sind also nicht etwa unvollständige Gegenstände, sondern werden vielmehr im Rahmen (im Sinnfeld) gelungener Interpretationen als vollständig erkenn- und thematisierbar. Kripke findet es vor diesem Hintergrund sogar unplausibel, dass es Einhörner auch nur geben könnte, da diese – wie wir sie aus der Literatur, dem Kunstmuseum oder dem Film kennen – kein festgelegtes Genom haben, womit es sich bei ihnen nicht um Tierarten handelt, die man jemals...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Einführung • Existenz • Ontologie • STW 2116 • STW2116 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2116
ISBN-10 3-518-73872-0 / 3518738720
ISBN-13 978-3-518-73872-6 / 9783518738726
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