Denken und Selbstsein (eBook)

Vorlesungen über Subjektivität

(Autor)

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2016 | 1. Auflage
383 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74544-1 (ISBN)

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Denken und Selbstsein - Dieter Henrich
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Menschen haben ihr Leben aus dem Wissen von sich zu führen. Dieses Selbstbewußtsein im elementaren Sinne läßt sich auf keine andere Tatsache zurückführen. In ihm sind aber zahlreiche intelligente Leistungen wie in einem Zentralpunkt miteinander verflochten. Darum kann die Philosophie aus dem Selbstverhältnis eine Perspektive auf viele ihrer Grundprobleme gewinnen, wie Dieter Henrich in seinen Weimarer Vorlesungen deutlich macht. Im Selbstbewußtsein ist ein gegenläufiger Ausgriff einerseits auf Konzeptionen der Welt und andererseits auf eine Selbstinterpretation angelegt. Von dieser Grundlegung aus werden eine Begründung der Ethik sowie eine Verständigung über Subjektivität und Freiheit entwickelt.

Geboren am 5. Januar 1927 in Marburg, studierte Dieter Henrich von 1946 bis 1950 in Marburg, Frankfurt und Heidelberg (u.a. bei Hans-Georg Gadamer) Philosophie. Seine Dissertationsschrift aus dem Jahr 1950 tr&auml;gt den Titel <em>Die Grundlagen der Wissenschaftslehre Max Webers</em>. Nach der Habilitation 1955/56 lehrte Henrich in Berlin, Heidelberg und den USA, bevor er 1981 als Ordinarius f&uuml;r Philosophie an die Ludwig-Maximilians-Universit&auml;t in M&uuml;nchen berufen wurde. Seit 1997 war er Honorarprofessor an der Berliner Humboldt-Universit&auml;t. Dieter Henrich verstarb am 17. Dezember 2022 im Alter von 95 Jahren.

II. Person und Subjekt in der Dynamik des Lebens


1. Grund und Welt


In der vorausgehenden Vorlesung wurde erklärt, was in der Folge unter Subjektivität verstanden werden soll. Dabei war auszugehen von dem Wissen von sich, durch das ein Subjekt, was immer es weiter noch ausmacht, in seinem Kern zu charakterisieren ist. Es wurde gezeigt, welche Schwierigkeiten es macht, solches Wissen von sich, das doch außer Frage steht, zu begreifen. Sodann wurden in Beziehung auf dieses Subjekt drei Gedanken von einem Ganzen unterschieden: Die Welt, in der sich das alltägliche Leben vollzieht, und die Welt der physikalischen Grundwissenschaft beruhen auf Grundmustern, die miteinander unvereinbar sind, die aber gleichermaßen von der Verfassung des Subjektes her, dem diese Welten erschlossen sind, verständlich gemacht werden können. Ein Ganzes von völlig anderer Art wird dann zum Thema, wenn sich dies Subjekt selbst als inbegriffen in einem Zusammenhang versteht, aus dem heraus es sich selbst als begründet verstehen kann. Die Erschließungsrichtungen der natürlichen und der wissenschaftlichen Welt verlaufen gegenläufig zu der Erschließungsrichtung, in deren Bahn ein Ganzes gesucht wird und gedacht werden soll, dem das Subjekt als solches eingeschrieben werden kann. Diese Gegenläufigkeit lässt bereits absehen, in welcher Tiefe die weitere Schwierigkeit begründet ist, die Selbstverständigung des Menschen und sein Weltverstehen in eine Übereinstimmung miteinander gelangen zu lassen.

Die Erklärung dieser Spannung, die vom Subjekt als solchem ausgeht, setzt – anders als das Thema Welt und Pluralität der Welten – den spezifisch modernen Beginn des Philosophierens voraus. Aber die Kritik an der Rolle, welche dem Subjektbegriff im frühen modernen Denken zugewiesen war, ist doch gleichfalls charakteristisch für die Moderne in ihrer weiter entfalteten Gestalt. Darum war darzulegen, wie jener Einsatz beim Subjekt so ausgebildet werden kann, dass die Kritik am Subjektbegriff, die auch die Kritik Nietzsches gewesen ist, nicht einfach nur entfällt, sondern dass ihre Rolle im Ganzen der Selbstverständigung der Subjektivität verstanden und gerechtfertigt wird.

Um dies zu zeigen, haben wir unangemessene Voraussetzungen in der Beschreibung von Subjektivität kritisiert, die für die Subjektkritik maßgeblich geworden sind: Das Selbstbewusstsein ist zwar mit Gewissheit verbunden. Es kann kein Zweifel daran aufkommen, dass das Wissen, welches ich im Selbstbewusstsein habe, ein Wissen von mir ist (was immer das genau heißen mag). Ebenso ist dieses Wissen selbst keinem Zweifel ausgesetzt.

Davon ist aber die ganz andere These zu unterscheiden, dass ich dem, was ich bin, im Selbstbewusstsein in adäquater Evidenz begegne und dass ich folglich aus dem heraus, was mir im Selbstbewusstsein präsent ist, über das, was ich als Subjekt bin, einen definitiven Aufschluss zu gewinnen vermag. Stattdessen verhält es sich so, dass in dieser Gewissheit zugleich der Grund dafür liegt, dass das Subjekt kraft seines Wissens von sich auch für sich selbst in Frage steht, dass es also von Zweifeln, die es selbst betreffen, bedrängt wird.

Insoweit sich solche Fragen aus der rätselhaften Verfassung des Wissens von sich ergeben, kommen sie freilich nur in einem theoretischen Zusammenhang auf. Ihnen korrespondiert aber eine beunruhigte Nachfrage des Menschen nach sich selbst, die aus dem alltäglichen Leben ihre Dringlichkeit gewinnt. In ihr artikuliert sich die Unklarheit über den Ort und den Ursprung des je eigenen Lebens. Diese Nachfrage kommt aus dem Wissen von sich und betrifft es immer mit, insofern es für dies Leben ganz und gar charakteristisch ist, aus dem Wissen von sich geführt werden zu müssen. Das Wissen von sich ist eben nicht deshalb, weil es keinen dem Wissen selbst externen Gegenstand hat, einfach und leicht zu verstehen, sondern komplex und undurchsichtig.

Diese Wissensweise lässt sich nicht aus den Elementen des Komplexes erklären, als der sie sich erweist, sofern man sich auf sie zu konzentrieren beginnt, um sie sich verständlich werden zu lassen. Denn jeder Explikationsversuch, der bei irgendeinem Element ansetzen will, setzt ein Verstehen des Ganzen, das expliziert werden soll, immer schon voraus. Aus den Elementen des Komplexes lässt sich keines herausgreifen, um die anderen durch es verständlich zu machen – so wie man etwa aus der tätigen Aufmerksamkeit erklären kann, dass etwas, auf das man aufmerkt, deutlich hervortritt. Aufmerksamkeit auf sich setzt nämlich das ganze und als solches opake Wissen von sich schon voraus. Da es sich um ein Wissen handelt, kann der Zusammenhang seiner Elemente auch nicht wie die Unabtrennbarkeit der Elemente erklärt werden, die einer Wahrnehmungsgestalt eignen. Eine nähere Untersuchung macht vollends klar, dass die philosophische Analyse der Verfassung des Wissens von sich nur so etwas wie eine aufschlussreiche Erläuterung für den sein kann, der bereits versteht, wovon die Rede ist. Jede Analyse ist insofern nur approximativ; sie erfolgt unter Voraussetzung eines Sachverhalts, den sie nicht auflösen und aus Elementen rekonstruieren kann. Man kann deshalb auch sagen, sie sei die Explikation eines eigentlich Unverständlichen, und zwar als eines solchen, also unter Einschluss dieser seiner Unverständlichkeit. Würde sie sich als Aufschluss in der Gestalt einer Erklärung ausgeben, so müsste sie sich in einem Zirkel bewegen.

Zusammen mit der Gewissheit, die im Wissen von sich liegt, ist diese Unauflösbarkeit selbst auch ein Anzeichen dafür, dass in der Verfassung des ›Von-sich-Wissens‹, das für das charakteristisch ist, was ein ›Subjekt‹ ausmacht, wirklich ein Erstes und Grundlegendes gelegen ist – etwas, das Ausgang des Philosophierens sein kann. Ein solches Grundlegendes muss kein Einfaches und auch kein sich selbst Durchsichtiges und Explizierendes sein. So wird durch die philosophische Untersuchung das alltägliche Bewusstsein des Menschen davon bestätigt, dass er es nicht sich selbst oder irgendetwas in seinem Wissen zuzurechnen hat, dass er im Wissen von sich steht und aus diesem Wissen ein Leben führen darf oder muss. Ohne unser Zutun gelangen wir nicht nur ins Leben überhaupt, sondern ebenso in das, was menschliches Leben von allem anderen Leben unterscheidet: In die Grundsituation, von uns selbst zu wissen – die einer als das Selbstverständlichste von allem, die er aber auch, je nach Lebenslage, auch als Segen oder Fluch verstehen kann.

Daran schließen sich Fragen an, die jedem vertraut sind: Wie steht es um das Leben, das wir zu führen haben, im Lichte seines Ursprungs? Wir wissen natürlich, dass wir von unseren Eltern gezeugt wurden, dass ein normal entwickeltes Großhirn die Voraussetzung dafür ist, dass wir in einem bewussten Leben stehen. Aber erklärt ist uns damit nichts. Wohl müssen diese Tatsachen in jeder Erklärung, die soll überzeugen können, berücksichtigt werden. Aber ausmachen können sie diese Erklärung nicht. Die Frage, was unser Leben begründet, können wir durch sie nicht als beantwortet ansehen. Die Menschen halten sich eine solche Antwort auch immer offen, mehr oder weniger beunruhigt, oder im Geheimen, wobei dies Geheime aber den alltäglichen Vollzug des Lebens durchdringt, dem nur die eigene Kraft fehlt, eine definitive Auskunft gewinnen zu können, die mit den Erklärungen der Wissenschaft die Konkurrenz aufnehmen könnte. Je bedeutender die Wissenschaftler, etwa die Neurowissenschaftler sind, die sich dieser Frage annehmen, um so eher sind sie bereit zuzugeben, dass ihre Erklärung im Rahmen des physikalischen Weltbildes als ein Versuch zu betrachten ist – ein Versuch nämlich herauszufinden, wie weit man unter dessen Voraussetzungen mit einer Erklärung kommt – ein Versuch also, der sich Alternativen ausgesetzt weiß, sofern diese sachgerecht sowie differenziert genug und nicht leichtfertig ausgearbeitet sind. Doch auch diese Wissenschaftler bleiben vor der Frage, wie unter durchgängiger Voraussetzung der Akzeptanz ihrer Erklärung ein Leben zu führen ist, ähnlich stumm wie der Mensch im Alltagsleben bei der Explikation des Verstehens, aber auch der Unruhe, die sein eigenes Leben durchherrschen.

Die vorausgehende Vorlesung hatte auch von der Genese des wissenschaftlichen Weltbildes aus seinem zweifachen Ursprung gehandelt – aus der Subjektivität und aus der primären Weltorientierung, von der auch als dem alltäglichen oder dem natürlichen Weltbild gesprochen werden kann. Im Wissen von sich ist das Subjekt über jeden besonderen Gehalt seines Wissens hinausgehoben. Es wird dadurch fähig, ein Ganzes alles dessen zu denken, von dem es irgendetwas weiß – und innerhalb dieses Ganzen alles in Relationen einander zuzuordnen. Das Subjekt ist wirklich nur in einem Wissen – seinem Wissen von sich selbst. Ebendeswegen steht es immer auch im Ausgriff auf ein Ganzes von voneinander Verschiedenem, von dem es gleichfalls ein Wissen haben kann. In diesem Zusammenhang hat die geläufige Rede von der Subjekt-Objekt-Korrelation, die ohne solche Überlegungen eigentlich ziemlich unverständlich ist, ihren einleuchtenden Grund.

Man kann daraus auch verstehen, dass die Grundverfassung einer Welt, die einem Subjekt offen ist, in der es sich zu orientieren vermag, keine beliebige ist: Es wurde dargelegt, dass das Ganze der Welt als das Alles von Einzelnen gedacht werden muss, die in Beziehung zueinander aufgrund eines Gefüges von Ordnungen stehen, die für das, als was sie als Einzelne sind, vorausgesetzt werden müssen. Der Raum ist für die Welt, die uns ursprünglich aufgeht, eine dieser Ordnungsvoraussetzungen.

Es wurde dann weiter dargelegt, dass diese primäre Welt mit...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Selbstbewusstsein • Selbstbewußtsein • Selbstinterpretation • STW 2170 • STW2170 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2170 • Theoretische Philosophie • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-74544-1 / 3518745441
ISBN-13 978-3-518-74544-1 / 9783518745441
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