Tibets erloschener Glanz -  Raymund Hürland

Tibets erloschener Glanz (eBook)

Mythos, Geschichte, Gegenwart
eBook Download: EPUB
2016 | 3. Auflage
272 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7392-8258-9 (ISBN)
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Das Buch nimmt den Leser mit in eine Welt, die teils versunken, teils stark bedrängt, von ihren Bewohnern mit Hartnäckigkeit am Leben gehalten wird. Der Autor begibt sich auf eine Reise durch die Geschichte Tibets, von den mystischen Anfängen, über die mannigfachen Kämpfe zwischen der angestammten Religion und dem Buddhismus, und der Auseinandersetzung mit den Chinesen, bis in die Gegenwart. Er stellt Ergebnisse der Forschung neben die Überlieferung der Mönche, und lässt immer wieder Zeitzeugen zu Wort kommen. Der religiöse Hintergrund, die kulturelle Entwicklung und die politischen Verflechtungen werden übersichtlich und verständlich dargestellt. Mit Sympathie, aber nicht unkritisch führt Raymund Hürland dem Leser die spannende Geschichte sowie mannigfachen Probleme des Landes vor Augen, frei nach dem Ausspruch: 'In Tibet hat früher oder später alles mit der Religion zu tun, meistens früher als später.' Das Buch ist ein anregender Einstieg vor einer Reise nach Tibet, aber auch eine fundierte Vertiefung danach.

Raymund Hürland, beruflich als Kunsthändler tätig, interessierte sich von Jugend an für Tibet. Ein Buch in der Bibliothek seines Vaters war der Auslöser dafür. Es blieb nicht bei dem einen Buch. Mit besorgter Anteilnahme verfolgte er später die Nachrichten über die Besetzung Tibets durch die Chinesen. Er las alles, was ihm darüber in die Hände kam. Nach einer Reise in das geschundene Land im Jahre 2006 befasste er sich intensiv mit der Geschichte Tibets und machte sich auch eingehend mit den religiösen Vorstellungen der Tibeter bekannt. Es entstanden Vorträge über die Geschichte und Kultur dieses Landes, die schließlich zu dem vorliegenden Buch erweitert wurden.

II. EIN KÖNIG ZIEHT UM
LHASA DAS NEUE ZENTRUM TIBETS


Wie die Könige vor ihm, war auch Songtsen Gampo eine kriegerische Natur. Da ihm die alte Hauptstadt in Yarlung, im Westen Tibets, zu abgelegen war für seine Pläne, verlegte er den Regierungssitz nach Lhasa. Dort baute er auf dem Roten Hügel, dem Marpori, eine Festung, die damals noch ziemlich bescheiden ausfiel. Heute steht an dieser Stelle einer der größten Paläste der Erde.

Seine erste Frau holte sich der König aus Nepal. Prinzessin Bhrikuti, von den Tibetern Tritsun genannt, war eine fromme Buddhistin. Als Teil ihrer Mitgift brachte sie mehrere kostbare Buddhabilder nach Tibet. Bei der Brautwerbung versprach Songtsen Gampo, den Buddhismus mit aller Kraft zu fördern. Tatsächlich begann er mit dem Bau von Tempeln, und ließ weitere buddhistische Schriften ins Tibetische übersetzen.

Unter seiner Regierung wurde Tibet ein mächtiger, zentral regierter Staat, mit einer starken Armee. Um mit China ein gutes Einvernehmen herzustellen, bat er im Jahre 641 den Kaiser T`ai Tsung um die Hand der Prinzessin Wen Ch’eng. Auch sie war eine fromme Anhängerin Buddhas. Sie brachte religiöses Schrifttum mit und eine Statue, die nach der Überlieferung schon zu Lebzeiten Buddhas angefertigt worden war.17 Sie zeigt den Erleuchteten als zwölfjährigen Knaben und wird bis heute im Jokhang Tempel in Lhasa von den Gläubigen verehrt.

Die beiden Frauen kamen offensichtlich gut miteinander aus, denn sie förderten gemeinsam den Bau eines Tempels in Lhasa. Als Tsug Lhakhang „Haus der Weisheit“ oder Jokhang „Haus des Jobo“, wurde er bald das Hauptheiligtum Tibets. Natürlich hat das Gebäude im Laufe der Jahrhunderte viele Veränderungen erfahren. Aber in seinem Kern steckt noch der ursprüngliche Tempel.

Die Gründungslegende folgt einem verbreiteten Grundmuster: Böse Mächte suchten den Bau zu verhindern und brachten immer wieder das Gebaute zum Einsturz. Erst als Prinzessin Wen Ch’eng mit geomantischen Praktiken, vielleicht auch mit Hilfe der schon damals hoch bewerteten Kunst des Feng-Shui, den richtigen Bauplatz bestimmt hatte, gelang der Bau des Tempels.18 Wen Ch’eng fand heraus, dass Tibet die Gestalt einer liegenden Dämonin habe, und der sogenannte Milchsee in Lhasa genau auf ihrem Herzen liege. An dieser Stelle müsse der Tempel errichtet werden, um die bösen Einflüsse der Dämonin zu bannen. Unter großen Mühen legte man den See trocken und begann mit den Bauarbeiten. Aber erst nachdem im näheren und weiteren Umkreis zwölf andere Tempel errichtet waren, konnte im Jahr 647 das Heiligtum in Lhasa vollendet werden. Von diesen zwölf Tempeln haben sich einige bis auf den heutigen Tag erhalten. Zwei davon liegen in Bhutan. Die Legenden um den Jokhang haben also durchaus einen historischen Kern.

Große Wandbilder im Jokhang-Tempel zeigen einige legendäre Begebenheiten der Erbauungsgeschichte. So erscheint mitten im See ein weißer Tschörten, von dem Strahlen in der Farbe des Regenbogens ausgehen. Dadurch wird der König in seinem Entschluss bestärkt, das Heiligtum an dieser Stelle zu errichten. Auf einem anderen Bild sieht man, wie ein Balkenrost über den See gelegt wird, und von der Seite Balken und Steine herangeschleppt werden, um das Werk voranzubringen. Die Überlieferung erzählt, man habe Ziegen als Lasttiere verwendet, weil sie leichter die damals noch dicht bewaldete Umgebung von Lhasa durchdringen konnten. Jedenfalls war es ein schwieriges Unterfangen, den See trockenzulegen und einen Tempel auf diesem Untergrund zu errichten. Doch wenn es um religiöse Ziele ging, ließen sich die Tibeter auch später nie von solchen Schwierigkeiten abschrecken.19

Um die gleiche Zeit, als der Jokhang entstand, wurde in Jerusalem, das die Muslime kurz zuvor erobert hatten, die Omar Moschee errichtet. Im römischen Westen hatten die Langobarden sich dem Christentum zugewandt; die Völkerwanderungszeit mit ihren Unruhen neigte sich dem Ende zu. Damit haben wir einen geschichtlichen Vergleichsrahmen.

Der Jokhang-Tempel in Lhasa war von Anfang an ein beliebtes Wallfahrtsziel und ist es bis heute geblieben. Vor dem Eingang des Heiligtums werfen sich die Pilger unzählige Male in frommer Verehrung nieder, bevor sie in das Innere eintreten. In wochen-, monate- oder jahrelanger Pilgerschaft wanderten sie aus ganz Tibet, aber auch aus den umliegenden Ländern nach Lhasa. Manche maßen dabei den gesamten Weg mit ihren Leibern aus. Die Pilger werfen sich dabei der Länge nach zu Boden, strecken die Arme nach vorn, und wo die Finger den Boden berührten, beginnen sie mit der nächsten Niederwerfung. Knie und Hände sind dabei mit Polstern und Handschuhen aus Leder geschützt. Ernst Schäfer, der 1938 das Neujahrsfest in Lhasa erlebte, berichtet, dass auch hohe Würdenträger und reiche Adlige sich zu besonderen Anlässen dieser Handlung unterzogen. Schon in den frühen Morgenstunden umrundeten sie den Tempel. Manche schwärzten dabei ihre Gesichter, um nicht erkannt zu werden.20 Heute sind auf dem Vorplatz Matratzen ausgelegt, damit die Pilger sich nicht direkt auf den Boden werfen müssen.

Im Inneren des Tempels erwartet die Besucher eine Fülle überwältigender Eindrücke. Schon der Eintritt in die Vorhalle, mit den geschnitzten Säulen und ihrer Farbenpracht, ist ein Erlebnis. Da der Jokhang nach den Zerstörungen durch die Kulturrevolution erst kürzlich renoviert wurde, wirkt manches noch arg neu. Nur Weniges hat man in der alten Fassung belassen. Die Freude an kräftigen Farben ist überall spürbar, und die Tibeter sehen keinen Grund, eine verblasste Farbe nicht aufzufrischen. Lediglich von zahllosen Butterlampen erhellt, liegen die Haupträume des Tempels in dämmerigem Halbdunkel. Manche Details kann man nur ahnen. Auch die vielen Fresken, mit denen die Wände bedeckt sind, lassen sich oft nur mühsam erkennen. Einige Teile der Ausstattung gehen zurück auf die Erbauungszeit. Dazu gehört eine Reihe von Balkenköpfen, meistens sind es Köpfe von Schneeleoparden; einige davon soll Songtsen Gampo eigenhändig geschnitzt haben. Wie auch bei unseren romanischen Kirchen haben solche Balkenköpfe eine Übel abwehrende Funktion.

Der Jokhang-Tempel diente mehr als ein Jahrzehnt der chinesischen Regierung als Gästehaus und als Kino. Zuvor hatten sich die Horden der Kulturrevolution darin ausgetobt. Daher musste eben Vieles erneuert werden und hat dabei seine Patina verloren. Es ist ohnehin erstaunlich, dass trotz allem noch so viel originale Substanz vorhanden ist. Hunderte von Bronze- oder Stuckfiguren begegnen den Pilgern, wenn sie im Uhrzeigersinn das innere Heiligtum umrunden.

Alle Gestalten des vielfältigen tibetischen Pantheons sind in den zahlreichen Nischen und Kapellen der weitläufigen Anlage vertreten. Da stürmt zum Beispiel ein furchterregender Dämon aus einer schwarzen Nische hervor. In der linken Hand hält er den Vajra, das Diamantszepter empor, mit der rechten macht er eine abwehrende Geste. Von diesem Dämon wird erzählt, dass er eine chinesische Armee in die Flucht geschlagen habe, von der Tibet bedroht wurde.21 Aber das war zu Zeiten Songtsen Gampos. In jüngster Zeit haben sich die Dämonen nicht so verdienstvoll hervorgetan. Die Tibeter fürchten sich nicht unbedingt vor solchen Dämonen, gelten doch die meisten von ihnen als Beschützer der Lehre oder überhaupt als Schutzgeister.

Nach der äußeren Umrundung betritt der Pilger durch einen Vorraum das Innere des Tempels. In diesem Vorraum wachen die vier mythischen Könige, die man im Eingangsbereich aller tibetischen Tempel findet. In der Hauptkapelle schließlich, die im warmen Licht ungezählter Butterlampen erstrahlt, treten die Gläubigen vor das eigentliche Ziel ihrer Sehnsucht, vor den Jobo, die Statue des gekrönten Shakyamuni. Es ist umstritten, ob es sich wirklich noch um jene Figur handelt, die einst Prinzessin Wen-Ch‘eng mitbrachte. Sicher ist, dass auch die Horden der Kulturrevolution das Bild nicht antasteten. Zumindest der Kopf wurde seitdem neu gefasst.22 Der prunkvolle Ornat ist mit kostbaren Edelsteinen übersät, und lässt gerade einmal das Gesicht und die Hände frei. Mit der Darstellung des gekrönten Buddha wird dessen königliche und geistige Souveränität über das Universum demonstriert…sie symbolisiert seine Allmacht und universale Allgegenwart.23

Jokhang-Tempel © Oleksandr Dibrova / Fotolia.com

Jokhang-Tempel innen © rweisswald / Fotolia.com

Das Gesicht der Statue entspricht nicht unbedingt unseren westlichen Vorstellungen von einem jungen Prinzen. Aber da viele Abbildungen den Buddha ziemlich beleibt darstellen, dürfte es der historischen Wirklichkeit nahe kommen.

Der junge Siddharta, das war der Eigenname des Buddha, genoss das Leben in vollen Zügen, von der Welt abgeschirmt im Palast seines Vaters, der wohl ein bedeutender Herrscher war. Doch bei einem heimlichen Ausritt begegnete er, wie es bei seiner Geburt vorausgesagt worden war, den Wirklichkeiten des Lebens: einem Kranken, einem Greis, einem Leichenzug, und einem Asketen, der dem Treiben der Welt entsagt hatte. Das öffnete ihm die Augen für die Wirklichkeit der Welt und ihrer Leiden. Heimlich verließ der Prinz seine Familie, seine Eltern, seine Frau, seinen eben geborenen Sohn, und ging in die Einsamkeit. Durch langes Studium zu Füßen weiser Männer, unter Fasten und Kasteiungen suchte er nach der Wahrheit und nach einem Weg, das Leiden zu überwinden. Die Mächte des Bösen, verkörpert durch Mara, schickten ihm viele und heftige Versuchungen, um ihn von seinem Weg abzubringen. Schließlich erlangte Siddharta in einer einzigen...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2016
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-7392-8258-4 / 3739282584
ISBN-13 978-3-7392-8258-9 / 9783739282589
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