Die letzte Fahrt der München (eBook)
224 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-8391-5948-4 (ISBN)
Lars Schmitz-Eggen, Jahrgang 1965, Fachjournalist. Volontariat, Studium an der FU Berlin (JWB), langjährige Tätigkeit als Redakteur für Tageszeitungen. Seit 2004 Chefredakteur der Fachzeitschrift "Rettungs-Magazin". Schmitz-Eggen lebt und arbeitet in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen. Weitere Sachbücher von ihm: "Die letzte Fahrt der MÜNCHEN" (2001, www.seenotfall.de) sowie "Monsterwellen - Wenn Schiffe spurlos verschwinden" (2006).
1. Kapitel
Mit gut fünfzig Kilometern pro Stunde knallt der Atlantik gegen den Bug der „Marion“. Ein Schlag wie mit einer Dampframme läßt den griechischen Frachter erzittern.
Immer wenn ein solcher Brecher das Schiff trifft, verliert der Massengutfrachter schlagartig an Fahrt. Als ob das Schiff in einen Ozean aus Leim geraten wäre. Der Wind heult. Regen und Hagel prasseln aufs Deck, gegen die Fenster der Aufbauten. Orkanböen heulen, zerren an den Antennen.
Der Atlantik läßt der „Marion“ nur eine kurze Verschnaufpause. Ein paar mal tief durchatmen, dann taucht der Bug des Schiffes in ein Wellental. Der Ozean holt zum nächsten Schlag aus. Wenige Sekunden nur, und schon zerschmettert ein neuer Brecher am stählernen Bug. Grünes Wasser rollt übers Vorschiff und steigt hoch bis zur Nock, den seitlich Auslegern des Brückenhauses.
Petrakes Stilianos, Funkoffizier des griechischen Frachtschiffs „Marion“, kann nicht schlafen. Alles in seiner Kammer, was nicht gesichert ist, wird durch die Gegend geschleudert. Der Funker steht deshalb auf, zieht sich an und geht mit einem Becher Kaffee auf die Brücke. Hier trifft er den diensthabenden 2. Offizier. Der freut sich, mit Stilianos noch einen Plausch halten zu können.
Die Gespräche in dieser Nacht zum 12. Dezember 1978 drehen sich um zu Hause und um die Familie. Nur noch wenige Tage, und der in Philadelphia (USA) geladene Mais wird in Amsterdam gelöscht. Ist auch das erledigt, beginnt für einige Besatzungsmitglieder der Urlaub.
Gegen 03.00 Uhr verläßt Petrakes Stilianos die Brücke. Er geht noch mal zu seinem Arbeitsplatz in der Funkstation.
Petrakes Stilianos setzt sich vor die beiden Empfangsgeräte seiner Anlage. Er möchte auf der 500-Kilohertz-Frequenz die Skalengenauigkeit überprüfen. Sie ist im Morseverkehr die internationale Seenot-Telegrafie-Frequenz.
Weil er die Seenotfrequenz eingeschaltet hat, schaltet Stilianos das Autoalarmgerät aus. Autoalarm sind Warnsignale, die einem Notruf vorausgeschickt werden, um anderen Schiffen die Möglichkeit zu geben, ihre Funkstationen zu besetzen und auf den Notruf zu reagieren.
„SOS SOS SOS DEAT DEAT DEAT Position 45° 30N – 22° 20W forward…“, ertönt es plötzlich aus dem Empfänger. Ein Notruf. Die Uhr im Funkraum der „Marion“ zeigt 03.10 Uhr. Für Petrakes Stilianos ist die Nacht gelaufen.
DEAT, das internationale Rufzeichen des deutschen LASH-Carriers „München“. Nur ganz schwach kommen die Notrufsignale aus dem Lautsprecher. Sie haben die Qualität QSA 1, was bedeutet, daß sie fast nicht mehr hörbar sind. Starke atmosphärische Störungen behindern den Empfang. „Forward“ versteht der Grieche noch am besten. Dann bricht der Notruf abrupt ab. Der Rest der Meldung wird nicht mehr empfangen.
Petrakes Stilianos dreht wegen der schwachen Signale sofort seinen Empfänger auf. Weil die Funkanlage – vereinfacht erklärt – in ein Sende- und ein Empfangsgerät unterteilt ist, muß der Sender separat gestartet werden. Bei den ersten gemorsten Strichen versucht Stilianos, den Sender seiner Anlage einzuschalten. Doch das Gerät muß erst vorheizen und ist deshalb nicht sofort betriebsbereit.
Dem Notruf sind Autoalarmzeichen vorausgegangen. Nur ganz kurz und schwach. Manchmal haben sie nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Die Autoalarmgeräte springen zum Teil auch bei sehr schlechtem Wetter an, ohne daß ein Seenotfall vorliegt. Durch atmosphärische Störungen können sie ebenfalls anschlagen.
Die anschließende Meldung läßt aber keinen Zweifel, daß tatsächlich ein Notfall vorliegt. Zwischen dem Zwölf-Ton-Alarmzeichen und der eigentlichen Meldung muß eine zweiminütige Pause liegen. Nur so ist sichergestellt, daß andere Schiffe die nachfolgende Meldung empfangen können. Beim Notruf der „München“ wird die vorgeschriebene Zeit aber nicht eingehalten.
Merkwürdig, denkt Petrakes Stilianos. Der Funker des deutschen Schiffes muß in großer Eile sein. Es scheint akute Gefahr zu bestehen.
03.13 Uhr: Stilianos will mit der „München“ Kontakt aufnehmen. Der Funker morst: „DEAT DEAT DEAT de SYZV SYZV SYZV HW QSA?“ Er bittet um Antwort und fragt, wie stark seine Zeichen ankommen.
Keine Antwort.
Es ist für den griechischen Funkoffizier das erste Mal, daß er die Erstaussendung eines Notrufs empfängt. Alle von ihm bis dahin empfangenen Notrufe waren von anderen Schiffen oder Küstenfunkstellen weitergeleitete Nachrichten.
Zwei Minuten später: Erneut empfängt der Funker der „Marion“ einen unvollständigen Notruf der „München“. Wieder kann er seinen deutschen Kollegen kaum aufnehmen. Die Qualität der Sendung ist zu schlecht, wird zu stark gestört. Nur das Wort „forward“ wird erneut klar empfangen.
Stilianos arbeitet fieberhaft. Zwischen 03.15 und 03.18 Uhr ruft er die „München“ mindestens noch einmal. Sein Funktagebuch, sonst von Petrakes Stilianos sorgfältig auf dem laufenden gehalten, verkommt zu einem Schmierblock. Nur die wichtigsten Angaben werden mit flüchtiger Schrift notiert. In vielen Fällen fehlen die genauen Zeitangaben.
03.18 Uhr: Stilianos informiert die Brücke seines Schiffs und gibt den empfangenen Notruf an alle erreichbaren Stationen weiter. Bis 03.39 Uhr strahlt er mindestens fünfmal einen Funkspruch an alle Stationen aus. Stilianos fordert allle, die ihn hören, auf, ihre Sendungen einzustellen. Dann wiederholt er die Seenotmeldung mit Positionsangabe.
Der von Petrakes Stilianos empfangene Notruf sorgt auf der Brücke der „Marion“ für Hektik. Der wachhabende Offizier geht sofort zum Kartentisch, um die empfangene SOS-Position mit der eigenen zu vergleichen. Rund 375 Seemeilen, zirka 695 Kilometer, müßte die „Marion“ Richtung Westen laufen, um das Schiff in Seenot zu erreichen. Anders ausgedrückt: Die „Marion“ müßte fast genau gegen den Orkan ansteuern.
Der Kapitän des griechischen Schiffs wird geweckt. Er läßt sich über die aktuelle Situation informieren. Dann beschließt er, trotz des Sturms der „München“ zu Hilfe zu kommen. Es dürfte aber zig Stunden dauern, bis die „Marion“ an der SOS-Position eintrifft.
03.39 Uhr: „Marion“ unterrichtet die Küstenfunkstelle Arcachon-Radio bei Bordeaux in Frankreich: „SOS – from Marion – SYZV – position 45° 29N, 22° 20W, QRT – SOS -position 45° 15N, 27° 30W, DEAT – DEAT – SOS at T 325 am in 500 kHz – try to hear anything about SOS but still nil.“ Stilianos teilt den Franzosen die Position der „Marion“ und die empfangene SOS-Position mit. Seine Versuche, die „München“ über Funk zu erreichen, seien fehlgeschlagen, läßt er Arcachon-Radio noch wissen.
03.40 Uhr: Arcachon-Radio fragt die „Marion“, in welcher Qualität man empfangen werden könne. „Marion“ antwortet, daß der Empfang stark gestört sei (QRM 5). Arcachon-Radio fordert daraufhin das griechische Schiff auf, die Frequenz zu wechseln. Die Verbindung verbessert sich durch den Frequenzwechsel kaum.
Eine weitere Minute vergeht. Arcachon-Radio fragt nach der Route der „Marion“. Petrakes Stilianos gibt den Kurs seines Schiffes durch und wiederholt den empfangenen Notruf. Die Küstenfunkstelle möchte daraufhin noch die Position der „Marion“ wissen. Der griechische Funker gibt 47° 30‘ Nord, 12° 30‘ West an, zirka 220 Seemeilen von der SOS-Position der „München“ entfernt. Später korrigiert er die Positionsangabe, weil er sich zunächst vertan hat.
Stilianos hat währenddessen sein zweites Empfangsgerät auf 500 Kilohertz eingeschaltet. Durch den Funkverkehr mit Arcachon-Radio kann er später nicht mehr mit letzter Sicherheit sagen, ob die „München“ noch weitere Notrufe ausstrahlte. Er erinnert sich aber daran, etwas von „50 Grad Steuerbord“ gehört zu haben, kann die Sendung aber keiner Funkstelle oder keinem Rufzeichen zuordnen.
Um 04.13 Uhr, gut eine Stunde nach dem ersten SOS der „München“, übernimmt Arcachon-Radio die Leitung des Seenotverkehrs. Alle 30 Minuten strahlt die französische Küstenfunkstelle auf 500 und 2182 Kilohertz SOS-Relais aus. Verschiedene Küstenfunkstellen rund um den Atlantik empfangen diese Meldung.
Ein Notfall auf hoher See. Wer ist für die Koordinierung der Such- und Rettungsmaßnahmen zuständig? 1978 gibt es für solche Fälle noch kein internationales Abkommen.
Die Männer von Arcachon-Radio informieren die britische Küstenwache. Sie wissen, daß sich die Briten auch ohne internationale Verpflichtung für das Gebiet, in dem sich der Notfall ereignet hat, rettungsdienstlich zuständig fühlen. Großbritannien orientiert sich bei Seenotfällen an denselben internationalen Zuständigkeitsgebieten, wie sie auch für die Zivilluftfahrt gelten.
04.23 Uhr: Die Meldung des...
Erscheint lt. Verlag | 10.1.2011 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte |
ISBN-10 | 3-8391-5948-2 / 3839159482 |
ISBN-13 | 978-3-8391-5948-4 / 9783839159484 |
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