Negative Dialektik des Unendlichen (eBook)

Kant, Hegel, Cantor

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
490 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74253-2 (ISBN)

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Negative Dialektik des Unendlichen -  Guido Kreis
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Kann es sein, dass unser Denken unauflösliche Widersprüche enthält? Die Paradoxien des Unendlichen sind ein guter Kandidat dafür. Kant hat in seiner transzendentalen Dialektik behauptet, dass wir das Unendliche nicht konsistent denken können. Hegel hält dagegen mit einer faszinierenden positiven Dialektik, die das Unendliche widerspruchsfrei denken will. Bei Cantor jedoch, der die moderne Auffassung des Unendlichen revolutioniert hat, kehren die Paradoxien wieder zurück. Guido Kreis zeigt, dass unsere Begriffe vom Unendlichen relativ zu unseren besten Theorien tatsächlich inkonsistent sind, und führt anhand dieser negativen Dialektik zugleich in die Grundformen der modernen Dialektik ein.

Guido Kreis ist Associate Professor für Philosophie an der Universität Aarhus.

1. Einleitung


1.1 Die Paradoxien des Unendlichen


Wir sind nicht in der Lage, das Unendliche widerspruchsfrei zu denken. Das hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft behauptet, und damit hat er, wie das folgende Buch zeigen soll, recht – jedenfalls soweit wir sehen können. Kant, der eine Kritik der Möglichkeiten und der Reichweite der menschlichen Erkenntnis durchführen wollte, hat dabei eine ebenso einfache wie elementare Frage aufgeworfen: Könnte es sein, daß sich das menschliche Denken in schwerwiegende Widersprüche verwickelt, die wir auch mit den besten uns zur Verfügung stehenden Theorien und Methoden grundsätzlich nicht zu lösen vermögen? Es ist nicht nötig, ein Fachphilosoph zu sein, um den Gehalt dieser Frage zu verstehen. Ihre Bedeutung ist auch in der vorphilosophischen Reflexion direkt zugänglich, und es ist ebenso unmittelbar klar, daß wir als rationale Wesen eine begründete Antwort auf diese Frage geben können sollten. Die Frage nach der Möglichkeit schwerwiegender Widersprüche im menschlichen Denken steht in dieser Hinsicht auf einer Ebene mit Fragen wie der nach dem Sinn des menschlichen Lebens oder der nach den universellen Normen des menschlichen Handelns. Wer sie stellt, rechnet mit der Möglichkeit eines elementaren Defektes der menschlichen Erkenntnis, und zwar nicht im Sinne eines Mangels der organischen Ausstattung, in der unsere kognitiven Leistungen realisiert sind, und auch nicht im Sinne von alltagsüblichen, hier und da auftretenden, durch reflexive Aufmerksamkeit freilich auch vermeidbaren Widersprüchen, sondern im Sinne einer elementaren Inkonsistenz und Insuffizienz unserer grundlegenden Begriffe.

Kants These besagt genauer, daß unsere Aussagen über die Welt, die als eine absolut unendliche Totalität definiert wird, unvermeidliche und schwerwiegende Widersprüche enthalten – jedenfalls dann, wenn wir annehmen, daß die Welt existiert. Die fraglichen inkonsistenten Grundbegriffe sind unsere Begriffe von absolut unendlichen Totalitäten, und die fraglichen Widersprüche sind die Paradoxien des Unendlichen. Die Welt läßt sich zum Beispiel definieren als die Gesamtheit von uneingeschränkt allem, was es überhaupt gibt; oder als das Universum uneingeschränkt aller Gegenstände, auf die sich unsere Aussagen beziehen können; oder als die Menge uneingeschränkt aller Tatsachen oder bestehenden Sachverhalte. Zwei Merkmale gehen in jede Definition des Weltbegriffs ein: Die Welt besteht aus dem, was es gibt, und sie ist dessen Totalität. Es handelt sich um eine unendlich große Totalität, und zwar genauer um eine absolut unendlich große Totalität, weil sie nicht weiter vermehrbar oder steigerungsfähig ist: Da die Welt uneingeschränkt alles enthält, kann es nichts Weiteres geben, das in dieser Totalität nicht enthalten wäre und noch hinzugefügt werden könnte.[1] Kants Behauptung besagt nun, daß jeder Versuch, die absolut unendliche Totalität dessen, was es gibt, zu bestimmen, zwangsläufig in Widersprüche führt, daß sich also über die Welt Paare von Aussagen treffen lassen, die zueinander im Verhältnis der Kontradiktion stehen. Ein Beispiel für ein solches Aussagenpaar ist nach Kant das folgende:

(1) Die Welt ist (der vergangenen zeitlichen Ausdehnung nach) unendlich.

(2) Die Welt ist (der vergangenen zeitlichen Ausdehnung nach) nicht unendlich.

Kant nennt ein derartiges Aussagenpaar eine kosmologische Antinomie (in diesem Fall handelt es sich um die Zeitvariante seiner ersten Antinomie), und er behauptet in der Kritik der reinen Vernunft, für die Wahrheit von jeder der beiden Aussagen unter den Voraussetzungen unserer natürlichen Einstellung zur Wirklichkeit ein erfolgreiches Argument führen zu können. Eine derartige Antinomie würde aber klarerweise gegen das Prinzip vom auszuschließenden Widerspruch verstoßen, denn die Wahrheit einer der beiden Aussagen impliziert automatisch die Falschheit der jeweils anderen, und daher ist es nicht möglich, daß beide Aussagen zugleich wahr sind. Kant behauptet aber, daß auf der Basis unserer natürlichen Einstellung zur Wirklichkeit und insbesondere unter der Annahme, daß die Welt existiert, beide Aussagen wahr sein müssen. Ihre Konjunktion wäre also eine wahre Kontradiktion.

Daß das menschliche Denken schwerwiegende Widersprüche in bezug auf das Unendliche enthält, scheint auch unabhängig von Kants Antinomienlehre weder unverständlich noch unwahrscheinlich zu sein. Hundert Jahre nach Kant hat Georg Cantor innerhalb der Mathematik durch die Entwicklung der Mengentheorie zum erstenmal das Rechnen mit unendlich großen Mengen ermöglicht. Cantor selbst hatte aber bereits entdeckt, daß sich in bezug auf manche dieser Vielheiten, und zwar genauer in bezug auf die absolut unendlichen Vielheiten, Paare von kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen ableiten lassen, die jeweils nicht zugleich wahr sein können. Zum Beispiel erlaubt Cantors Mengentheorie die Bildung des Begriffs einer Menge aller Mengen. Angenommen, diese Menge existierte. Dann gelten die beiden folgenden Aussagen:

(3) Die Menge aller Mengen enthält alle Mengen.

(4) Die Menge aller Mengen enthält nicht alle Mengen.

Während es sich bei Aussage (3) um eine begriffliche Wahrheit handelt, die unter der Annahme der Existenz der Menge aller Mengen aus der Definition dieser Menge folgt, läßt sich durch die Anwendung eines ingeniösen Beweisverfahrens, das Cantor in anderem Zusammenhang entwickelt hatte, auch die Wahrheit der Aussage (4) demonstrieren. Die Menge aller Mengen, wenn sie denn existierte, muß nach Definition alle Mengen enthalten, und zugleich kann sie unmöglich alle Mengen enthalten, weil sich für jeden beliebigen Kandidaten einer Menge aller Mengen stets eine weitere existierende Menge aufweisen läßt, die in ihr nicht enthalten sein kann. Das Paradox der Menge aller Mengen wird heute Cantors Paradox genannt. Die Entdeckung dieser und weiterer mengentheoretischer Paradoxien hat die moderne Mathematik in eine Grundlagenkrise gestürzt, die erst mit der Axiomatisierung der Mengentheorie im zwanzigsten Jahrhundert mathematisch überwunden werden konnte.

Philosophisch entscheidend ist aber, daß sich die Struktur dieser Paradoxien auch von mathematischen Mengen auf nicht mathematische Gegenstände übertragen läßt, und zwar insbesondere auf die absolut unendliche Totalität der Welt. Wenn wir die Welt zum Beispiel als Menge aller Tatsachen definieren und annehmen, daß diese Menge existiert, dann erhalten wir folgendes Beispiel für eine Paradoxie des Unendlichen:

(5) Die Menge aller Tatsachen enthält alle Tatsachen.

(6) Die Menge aller Tatsachen enthält nicht alle Tatsachen.

Während es sich bei Aussage (5) wiederum um eine begriffliche Wahrheit handelt, die unter der Annahme der Existenz der Welt aus ihrer Definition folgt, hat Patrick Grim auf seinerseits ingeniöse Weise gezeigt, daß sich die Wahrheit der Aussage (6) durch die Anwendung von Cantors mathematischem Beweisverfahren auf den Weltbegriff ebenfalls demonstrieren läßt. Die Menge aller Tatsachen, wenn sie denn existierte, muß nach Definition alle Tatsachen enthalten, und zugleich kann sie unmöglich alle Tatsachen enthalten, weil sich für jeden beliebigen Kandidaten einer Menge aller Tatsachen stets eine weitere Tatsache angeben läßt, die in ihr nicht enthalten sein kann.

Nun könnte man dieses Ergebnis für ein Scheinproblem halten, das nur dann entsteht, wenn man mengentheoretische Begriffe auf den Weltbegriff anwendet, indem man die Welt von vorneherein als Menge, also als einen zusätzlich zu allen übrigen Gegenständen in der Welt existierenden weiteren Gegenstand, definiert. Die naheliegende Konsequenz wäre die, auf eine mengenbezogene Definition der Welt zu verzichten. Aber das hilft nicht weiter. Grim hat gezeigt, daß schon unter der Annahme, daß alle Tatsachen existieren, auch die beiden folgenden Aussagen wahr sind:

(7) Alle Tatsachen sind alle Tatsachen.

(8) Alle Tatsachen sind nicht alle Tatsachen.

Grims Beweis für die Wahrheit von (8) kann in einer Weise formuliert werden, in der der Begriff der Menge und andere mengentheoretische Begriffe keine Rolle mehr spielen und bei der es ganz irrelevant ist, ob sich unter den fraglichen Tatsachen überhaupt Tatsachen über Mengen befinden. Nicht erst der Mengenbegriff ist demnach inkonsistent, sondern schon der reine begriffliche Gehalt einer absolut unendlichen Totalität, der begriffliche Gehalt von Ausdrücken wie alle Tatsachen, alle Gegenstände oder, mit einer prägnanten Abkürzung, von alles.[2] Die Aussagen (7) und (8) sind daher die stärkste Variante von Grims Paradox. Es verstößt ebenfalls gegen das Prinzip des auszuschließenden Widerspruchs, denn die Konjunktion der beiden Aussagen (7) und (8) wäre wiederum eine wahre Kontradiktion.

Die Aussagenpaare (1) und (2) (Kants erste Antinomie) und (7) und (8) (Grims Paradox) sind exemplarische Kandidaten für Kants These, daß das menschliche Denken schwerwiegende Widersprüche enthält. Schwerwiegend sind sie in dem Sinne, daß wir sie, soweit zu sehen ist, auch mit den besten uns zur Verfügung stehenden Theorien und Methoden nicht befriedigend auflösen können. Die Auflösung dieser Widersprüche kann, wenn überhaupt, nur durch einen radikalen Verzicht auf das eine oder andere...

Erscheint lt. Verlag 6.12.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Dialektik • Hegel • Kant • STW 2162 • STW2162 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2162 • Theoretische Philosophie • Wissenschaft
ISBN-10 3-518-74253-1 / 3518742531
ISBN-13 978-3-518-74253-2 / 9783518742532
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