»Endlich frei« (eBook)
330 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-22247-3 (ISBN)
Dr. Josef Giger-Bütler ist Psychotherapeut mit eigener Praxis in Luzern. Seit vielen Jahren ist er auf die Therapie und Heilung von Depressionen spezialisiert.
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Wenn die depressiven Menschen sprechen würden
Depressive Menschen sprechen nicht über sich, sie sagen nicht, wie es in ihnen aussieht. Sie erwarten aber auch nicht, dass sich jemand für sie interessiert. Sie wollen keine Aufmerksamkeit, sondern in Ruhe gelassen und nicht befürsorgt werden. Würden sie aber sprechen, dann wären alle erstaunt. Man könnte sehen, welche Höllenqualen sie durchleben und wie groß ihr tägliches Leiden ist. Die depressiven Menschen sollen es wissen, damit sie sehen, wie sehr auch andere leiden. Ihr Erleben ist nicht etwas, für das es keine Worte gibt. Vielleicht können sie, wenn sie dieses Buch lesen, sich besser verstehen und zulassen, dass ihr Leben eben doch so grausam ist, wie sie es empfinden, dass sie ihren Gefühlen vertrauen können und sie sich nicht einfach etwas vormachen. Ich beschreibe das aber auch für all diejenigen, die nicht depressiv sind, damit sie sehen können, was sich im Innern depressiver Menschen abspielt. Es würden sich Abgründe auftun, wenn sie schildern, wie sie sich geplagt fühlen, sich Vorwürfe machen, weshalb sie etwas so und nicht anders gemacht haben, wie sie alle möglichen Varianten durchspielen, bevor sie etwas angehen und es doch nicht umsetzen, wie sie sich ständig unter Druck und unsicher fühlen. Es ist beklemmend, zu hören, wie sie sich nichts zutrauen, an allem zweifeln, obwohl sie doch eigentlich wissen müssten, dass sie das können, wie sie Dinge scheinbar souverän und kompetent erledigen und doch das Gefühl haben, nicht zu genügen, wie sie sich immer gefangen, unfrei, gehetzt und überfordert fühlen und wie sie den Zwang verspüren, immer alles so zu machen, wie sie glauben, dass es von ihnen erwartet wird. Man könnte noch viel aufzählen, um aufzuzeigen, wie viel in depressiven Menschen vorgeht: Wie es ständig in ihrem Kopf denkt, wie sie von Ängsten, Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen geplagt sind, wie sie sich nicht auf sich verlassen können, wie wenig sie sich kennen, und wie sehr es sie belastet und unsicher macht, von sich nichts zu wissen, sich nicht zu kennen und nicht mit sich vertraut zu sein. Die Gefühle der Unvertrautheit, der bodenlosen Unsicherheit und der Lebensangst fressen sie auf, vermiesen alles und zerstören jegliche Lebensfreude.
»Auch arbeiten und sich ablenken helfen nicht gegen die depressiven Gedanken und Gefühle. Im Gegenteil. Das Anschauen von eigentlich schönen Dingen verstärkt nur die öden und verzweifelten Empfindungen der Sinnlosigkeit.«
Sie kommen sich klein und lächerlich vor, wenn sie die anderen sehen, wie diese alles leicht nehmen, sich kaum Gedanken machen und doch gut und zufrieden leben können. Es ist erschütternd, zu erfahren, wie sehr depressive Menschen leiden müssen. Beim noch genaueren Hinsehen und Hinhören zeigen sich Zusammenhänge und lässt sich eine innere Logik erahnen, die der Schlüssel ihres Erlebens und Verhaltens ist.
Und der wichtigste Schlüssel, quasi der Königsweg des Verstehens, ist die Erfahrung der Müdigkeit und der Erschöpfung, die die treuesten Begleiter der depressiven Menschen sind. Sie sind allgegenwärtig. Um sie herum kommen sie nicht, auch wenn sie viele ihrer Handlungen und Gefühle nicht verstehen und verwirrt sind durch das ständige Auf und Ab, das ständige Gedanken- und Gefühlswirrwarr und sie sich weder auf Gefühle noch auf Gedanken verlassen können. Die Müdigkeit ist wie ein riesiger Stein auf ihrem Weg, der sie immer wieder bremst und alle ihre Handlungen und Gefühle bestimmt. Um die Müdigkeit kommen sie nicht herum. Sie verfolgt sie, sie ist Teil ihres Lebens, lässt sich nicht abschütteln und nicht auf die Seite legen. Und das, obwohl sie es immer wieder versuchen. Denn müde sein, nicht das machen und so machen können, wie sie es wollen, ertragen sie kaum. Alles andere wäre einfacher auszuhalten als diese immer währende Müdigkeit. Und deshalb ist auch das Akzeptieren dieser Müdigkeit für sie so schwer, kommen ihnen auch die fehlende Geduld und das fehlende Verständnis für sich in den Weg. Es ist nicht allein die Müdigkeit, die sie schlecht ertragen, es ist genauso die Erfahrung, dass sie mit ihr dünnhäutig und verletzlich sind, kompliziert und umständlich. So sehen sie sich nicht gern, das macht sie unzufrieden mit sich und übel gelaunt. Und aus diesem Frust heraus verstärken sie ihre Anstrengungen noch, machen noch mehr, laden sich noch mehr auf, um nur nicht von dieser Müdigkeit in die Knie gezwungen zu werden. Was ihnen genauso das Bein stellt, ist ihre Ungeduld. »Müde kann man ja sein, aber doch nicht über Wochen und Monate hinweg.« Die Ungeduld ist es auch, die alles so schwierig macht, wenn es darum geht, diese Müdigkeit anzunehmen und sich Ruhe zu gönnen. Das ist ein riesiger Energieaufwand, den sie erbringen müssen und der ihnen um vieles schwieriger erscheint, als alles wieder so zu machen wie früher. »Sich annehmen ist ja schon recht, aber doch nicht so und in diesem Zustand.« Wenn sie es trotzdem versuchen, wird die Angst, die sie schon die ganze Zeit in sich tragen, übergroß: Angst vor der Leere, vor dem Loch, Angst vor der Zukunft und vor dem, was noch kommen könnte.
Zum depressiven Erleben gehört also ganz wesentlich die Müdigkeit, und zwar sowohl die psychische wie auch die physische als Grund- und Dauerzustand. Es gibt nichts in ihrem Leben, was nicht auch entscheidend von ihr geprägt ist. Depressive Überforderung führt zwangsläufig zu Ermüdung und zur körperlichen Erschöpfung. Ständig müssen, immer über die eigenen Verhältnisse leben, zehrt unweigerlich an den Kräften. Leben müssen, obwohl sie sich dem Leben nicht gewachsen fühlen, kostet Kraft, und mit zunehmender Dauer übersteigt das ihre gewohnte Belastbarkeit und wird zu einem Gehen auf dem Zahnfleisch.
»Ich bin nur damit beschäftigt, über die Runden zu kommen, so beschäftigt mit allem, was noch gemacht werden muss, was noch fertig gestellt werden muss, dass ich immer meine, dass ich es nicht mehr schaffe. Ich habe das Gefühl, dass es an allen Ecken und Enden brennt. Ich habe fast keine Kraft mehr und muss mit letzter Anstrengung versuchen, all das zu machen, was ich noch machen muss. Ich bin ständig am Rennen und für mich habe ich gar keine Zeit. Ich weiß nicht, was ich für mich tun könnte, wann ich überhaupt die Zeit und die Kraft hernehmen könnte, etwas für mich zu tun. Ich bin immer am Laufen und Röcheln und immer mit dem Gefühl: ›Jetzt schaffe ich es dann nicht mehr.‹
Ich bestehe nur noch aus Müssen. Ich muss im Beruf, muss für die Kinder da sein, auch meine Frau will etwas von mir. Und was immer ich mache, mache ich mit schlechtem Gewissen, weil es eh nicht genügt, was ich tue, und in diesem Zustand erst recht nicht. Es genügt nie, was ich mache, ich schaffe nie, was ich meine erreichen zu müssen. Es hört nie auf, und die Angst ist immer da, was ist, wenn ich nicht mehr mag, wenn ich nicht mehr durchkomme. Manchmal wünsche ich mir das, dann hat alles ein Ende.«
Die Erschöpfung bestimmt und prägt ihre Stimmung und Verfassung, macht ihnen alles so unendlich mühsam und die kleinste Verrichtung zur Schwerstarbeit. Alles, was sie mit links erledigen könnten, ermüdet, wie wenn sie tagelang im Steinbruch arbeiten würden. Nie fühlen sie sich ausgeruht, nie stark, unbelastet und frei. Sie erleben sich wie nach einer schweren Krankheit geschwächt, saft- und kraftlos und ohne Energie. Immer fühlen sie sich matt und schwach, obwohl sie nach außen genau das Gegenteil davon ausstrahlen: immer bereit und voller Initiative, unermüdlich und mit einem riesigen Durchhaltevermögen, wie wenn sie Energie für zwei hätten.
»Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr. Ich bin froh, wenn mich die anderen in Ruhe lassen. Es ist eine tiefste Erschöpfung, mit der ich schon jahrelang lebe. Es ist nicht wie nach einer Wanderung. Es ist eine Erschöpfung, von der sich nicht erholen lässt, die nicht nachlässt und die macht, dass ich in mir, in meinem Körper, in der Beziehung, überall, nicht zu Hause bin. Ich fühle mich nie frei, nie erholt, immer unter Druck, eingeengt, unfrei, belastet. Es sind auch nie Impulse da, was ich tun möchte oder könnte, sondern nur Anforderungen: Ich sollte das oder das tun und das immer mit dem Gefühl ›Aber ich mag doch nicht‹ oder ›Das wird doch nie besser‹. Aber ich will nicht, dass andere sehen, wie es mir geht. Dann wäre ich abgeschrieben, dann hätte das Durchbeißen all die Jahre keinen Sinn gehabt.«
Auch wenn sie ihre als krankhaft erlebte Müdigkeit nicht verstehen, bei allem Suchen und Nachdenken nicht herausfinden, woher sie kommt, sie als unverhältnismäßig, übertrieben und ungerechtfertigt erleben, kommen sie nicht umhin, sie als gegeben und dominant...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2015 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-407-22247-5 / 3407222475 |
ISBN-13 | 978-3-407-22247-3 / 9783407222473 |
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