Das Mich der Wahrnehmung (eBook)

Eine Autopsie

(Autor)

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2015 | 1. Auflage
228 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74348-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Mich der Wahrnehmung - Lambert Wiesing
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Wer wahrnimmt, weiß, wie es ist, ein Wahrnehmender zu sein. Dieses besondere Wissen des Menschen um seine eigene Lage ist das Thema einer Phänomenologie, die den Versuch wagt, um der sicheren Erkenntnis willen auf jede Modellbildung zu verzichten. Wenn sich die traditionellen Modelle der Wahrnehmung als Mythen erweisen, muß die Erfahrung des Wahrnehmens selbst zum Thema werden. Damit ändert sich aber die Perspektive: Nicht das Ich, das die Wahrnehmung hervorbringt, wird thematisiert, sondern die Wahrnehmung, die mich hervorbringt und in der Welt sein läßt. Dieses Mich der Wahrnehmung gilt es zu beschreiben.

<p>Lambert Wiesing, geboren 1963, ist Professor für Philosophie und Inhaber des Lehrstuhls für Bildtheorie und Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von 2005 bis 2008 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Im Suhrkamp Verlag hat er zuletzt veröffentlicht: <em>Luxus</em> (2015), <em>Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie</em> (stw 2171) und <em>Ich für mich. Phänomenologie des Selbstbewusstseins</em> (stw 2314).</p>

Phänomenale Gewißheit


Menschen, und wahrscheinlich nur Menschen, wissen, wie es ist, ein Mensch zu sein. Dieses Wissen ist ein phänomenales Wissen und ist – wie phänomenales Wissen überhaupt – eine besondere Art des Selbstbewußtseins: Indem Menschen leben, erfahren sie unter anderem auch persönliche Qualitäten des In-der-Welt-seins; sie haben ein Situationsbewußtsein, denn ihr Dasein in der Welt wird von ihnen selbst in jedem Moment in einer jeweiligen Weise erlebt. Dies ist nicht weiter verwunderlich – zumindest dann nicht, wenn man nicht in Zweifel ziehen möchte, daß es überhaupt Bewußtsein gibt. Wenn man also davon ausgeht, daß bewußte Erlebnisse etwas Reales sind, und wenn man ferner davon ausgeht, daß Reales nicht ohne Eigenschaften gedacht werden kann, dann muß ein jedes Erlebnis Eigenschaften haben, aufgrund deren das Erlebnis das jeweilige Erlebnis ist. Es läßt sich auch anders formulieren: Wer keine eigenen Erfahrungen machen will, sollte besser kein Mensch sein. Ein Menschenleben ohne phänomenales Wissen läßt sich nicht vorstellen. Man mag subtile Gedanken darüber anstellen, ob sich vielleicht auf irgendeinem Weg darüber hinaus auch erfahren läßt, wie es wäre, eine andere Person zu sein, wie es wäre, ein Mensch mit anderem Geschlecht zu sein, oder wie es wäre, eine Fledermaus zu sein; doch egal zu welchem Ergebnis diese Überlegungen gelangen, das besondere Merkmal phänomenalen Wissens ist damit nicht thematisiert und sollte dadurch auch nicht aus dem Blick geraten: Die Realität der eigenen Erlebnisse und Gedanken, der eigenen Wünsche und Erfahrungen, der eigenen Imaginationen und Wahrnehmungen, der eigenen Schmerzen und Hoffnungen wird durch keine Position innerhalb der gegenwärtigen Philosophie des Geistes in Zweifel gezogen. Das ist das Besondere an Phänomenen: Im Erleben eines Phänomens gibt es keine Differenz zwischen dem Sein und dem Zu-sein-scheinen. Man mag in der Rede über die Erlebnisse diese falsch kategorisieren, und es mag schwer sein, Kriterien für die richtige Beschreibung zu finden, aber das private Wissen um die Realität der Erlebnisse ist davon unberührt. Aus diesem Grund besitzt das phänomenale Wissen eine besondere epistemische Qualität: Phänomenales Wissen läßt sich nicht mit skeptischen Argumenten relativieren – das einzige, was man gegen phänomenales Wissen einwenden kann, ist, daß es überhaupt kein normales Wissen im traditionellen Sinne von wahrem, gerechtfertigtem Glauben ist. Kann man sinnvoll behaupten: Ich weiß, daß ich Bauchschmerzen habe? Wohl kaum. Denn in der Tat ist das, was wahr ist, aber prinzipiell nicht falsch sein kann, in einer anderen Weise wahr als das, was auch falsch sein könnte. Aus diesem Grund ist es angebracht, das phänomenale Wissen präziser als phänomenale Gewißheit anzusprechen; auch der alte Begriff der Intuition mag treffend sein. Vielleicht ist es auch sinnvoll, den Begriff der Erkenntnis für wahrheitsfähige Aussagen zu reservieren und statt dessen von Kenntnis zu sprechen. Doch für welche Terminologie (Intuition sive Kenntnis sive acquaintance sive Einsicht sive Gewißheit sive Evidenz) man sich auch entscheidet, es ist eindeutig, welches Phänomen gemeint ist: Die Eigenschaften von mentalen Zuständen können im Moment ihres Daseins keine Illusion sein. Der Mythos des Gegebenen interpretiert diese absolute Sicherheit modellhaft als eine Unmittelbarkeit der eigenen Bewußtseinsinhalte. Das phänomenale Wissen ist demnach ein so sicheres Wissen, weil das eigene Bewußtsein in der Selbstreflexion sich selbst unmittelbar zugänglich ist. Was immer als Kritik gegen dieses Modell und gegen die Rede von der Unmittelbarkeit vorgebracht wird, es wäre eine Verstellung der Situation, wenn dadurch die Realität dessen, was mit dem Bild der Unmittelbarkeit gemeint ist, angezweifelt würde. Nicht das Bild stellt eine zweifelhafte Realität dar, sondern das Bild stellt in zweifelhafter Weise eine zweifelsfreie Realität dar. Unabhängig davon, ob die Existenz von Qualia verteidigt oder bestritten wird, unabhängig davon, ob es eine Privatsprache gibt oder ob sie undenkbar ist, bewußte Phänomene haben genau die Eigenschaften, die sie für jemanden haben – und diese Einsicht in die Unzweifelhaftigkeit phänomenaler Gewißheiten ist alles andere als neu: Das phänomenale Wissen ist eine Spielart cartesianischer Selbstgewißheit.

In der Tat scheint es einen Versuch wert zu sein, diesen bekannten, einfachen und grundlegenden Gedanken, daß das reflexive Bewußtsein vom eigenen Bewußtseinszustand absolut sichere Gewißheiten liefert, zu transformieren, um das Konzept einer nicht-modellierenden Philosophie zu entwerfen. Der Leitgedanke für ein solches Programm einer Philosophie ohne Modell lautet: Bei Descartes ist die sichere Selbsterkenntnis unterbestimmt; die phänomenale Selbstgewißheit umfaßt nicht nur die Gewißheit der eigenen momentanen Existenz, sondern auch die Weise dieser Existenz. So wie sicher ist, daß ich bin, wenn ich denke, so ist auch sicher, daß ich in einer so-und-so bestimmten Weise bin, wenn ich denke. Sowohl das Daß-ich-bin als auch das Wie-ich-bin ist mir unzweifelhaft bekannt. Denn ich kann ja nur sein, wenn es Merkmale meines Seins gibt. Jemand, der weiß, daß er ist, weiß eben auch, wie es ist, der zu sein, der er ist. Es handelt sich um einen Gedanken, der für phänomenologische Überlegungen ganz unspektakulär ist; in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung von 1945 ist er so formuliert: »Wir haben die Erfahrung von uns selbst, von dem Bewußtsein, das wir selber sind« (Berlin 1966, S. 12). Es ist genau diese Erweiterung der cartesianischen Selbstgewißheit auf die eigene Daseinsweise, welche in den Mittelpunkt rückt, wenn es um den Versuch geht, die Möglichkeiten und Perspektiven einer Philosophie »ohne irgend ein ideales Modell« darzustellen (S. 76). Dieses Projekt wäre zumindest dann möglich, wenn in dieser Philosophie nicht mehr behauptet werden würde, als durch selbst erfahrenes phänomenales Wissen gewiß ist. Es geht – so altmodisch dies auch klingen mag – um die Aktualisierung einer neuen Spielart der cartesischen Idee vom fundamentum inconcussum.

Vom cartesischen Cartesianismus zum phänomenologischen Cartesianismus


In philosophischen Lehrbüchern wird das Hauptanliegen von René Descartes zumeist darin gesehen, daß er in seinen Meditationes de prima philosophia von 1641 den Skeptizismus durch sichere Erkenntnis überwinden will – dies ist richtig. Allerdings bleibt durch diese Darstellung unbeachtet, daß Descartes keineswegs nur den Skeptizismus, sondern mindestens ebenso das Modellieren in der Philosophie verabschieden will. Descartes ist weit davon entfernt, methodisch erfolgreiche Modelle als eine Perspektive für die philosophische Arbeit zu akzeptieren. Von einem philosophischen Beitrag verlangt Descartes, daß seine Wahrheit durch keine Art von noch so radikaler Skepsis angezweifelt werden kann – und kein Modell kann und will eine derartige Unerschütterlichkeit liefern. Descartes geht zu Recht davon aus, daß ein radikaler Skeptiker gegen Modelle jeglicher Art immer gute Argumente anführen wird, wieso ihnen keine unanzweifelbare Wahrheit zugesprochen werden sollte. Oder besser gesagt: Mit einem richtig verstandenen Modell würde sich ein Skeptiker eigentlich gar nicht befassen, denn dieses hätte keinen Wahrheitsanspruch, den man anzweifeln, sondern einen Methodenanspruch, den man verbessern kann. Und genau aus diesem Grund liefert das Modellieren, auch wenn dies nicht so oft betont wird, für Descartes genausowenig eine philosophische Perspektive wie der Skeptizismus: In beiden Fällen gelangt Descartes nicht zu seinem eigentlichen Ziel, nämlich zu Gewißheiten über das menschliche Dasein. Denn dies darf nicht aus den Augen verloren werden: Auch Descartes verfolgt mit den Meditationen explizit das Ziel, zu erfahren, »wer ich denn bin, der ich jetzt notwendig bin« (II. Med., 4. Absatz).

Die Argumentation ist bekannt: Descartes nimmt die Selbstgewißheit des denkenden Ich als ein fundamentum inconcussum. Diese eigene Existenzsicherheit ist in der Tat ein Musterbeispiel für eine phänomenale Gewißheit, denn ein Zweifel an ihrer Wahrheit bestätigt nur ihre Gültigkeit. Man kann an der Berechtigung aller Wahrheitsansprüche zweifeln, nur nicht daran, als Zweifelnder eine Existenz zu haben, denn wenn ich an allem zweifle, so erlebe ich mich selbst doch eben in dieser Situation, ein Zweifelnder zu sein. Doch diese berühmte Einsicht in das cogito, ergo sum ist an sich noch nicht unbedingt sehr bedeutend. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Was macht man mit dem klassischen Gedanken cogito, ergo sum? Wozu verwendet man die Einsicht, daß ich selbst von mir selbst sicher weiß, im Moment irgend etwas zu sein? Bei der Beantwortung dieser Frage gehen nämlich die Meinungen durchaus auseinander. Schaut man sich die gegenwärtig dominierenden Positionen innerhalb der Philosophie des Geistes an, so stellt sich der Eindruck ein, daß das cogito, ergo sum kaum noch eine relevante Rolle für das Nachdenken über Bewußtseinsfragen spielt; als hätten sich nach Descartes neue Argumente aufgetan, die berechtigterweise an seinem Beweis der Selbstgewißheit zweifeln lassen – doch dies ist ja keineswegs der Fall. Das gegenwärtige Desinteresse am Cartesianismus resultiert nicht aus einem Zweifel an der Sicherheit phänomenalen Wissens, sondern allein aus einem Zweifel, daß sich diese phänomenale Einsicht philosophisch irgendwie gewinnbringend verwenden ließe, daß sie relevant sei. Nicht zuletzt durch die Sprachanalytische Philosophie hat sich die Präferenz von der...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Phänomenologie • Philosophie • STW 2171 • STW2171 • Subjekt • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2171 • Thüringer Forschungspreis 2018 • Wahrnehmung • Wissenschaft • Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung 2015
ISBN-10 3-518-74348-1 / 3518743481
ISBN-13 978-3-518-74348-5 / 9783518743485
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