Der Nürnberger Prozeß (eBook)

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2015 | 1. Auflage
768 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31530-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Nürnberger Prozeß -  Joe J. Heydecker,  Johannes Leeb
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Zum 70. Jahrestag - das Standardwerk zum Nürnberger Prozess in neuer Ausstattung Am 20. November 1945 begann in Nürnberg der vielleicht denkwürdigste Prozess der deutschen Geschichte. In 218 Tagen wurden 240 Zeugen gehört und 16.000 Protokoll-Seiten gefüllt. Am Ende dieser großen Abrechnung der Alliierten mit dem Nationalsozialismus stand die Verkündung von 12 Todesurteilen. Aber der Prozess war mehr als nur ein Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher. Angeklagt war auch ein verbrecherisches System, das international anerkannte Rechtsnormen gänzlich geleugnet hatte. Damit gilt Nürnberg auch als Meilenstein auf dem Weg zu einem internationalen Strafrecht, das Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ahnden erlaubt. Der Journalist Joe J. Heydecker, einer von wenigen deutschen Berichterstattern in Nürnberg, schrieb zusammen mit Johannes Leeb das 1958 erstmalig veröffentlichte Standardwerk, das die zwölf Jahre der NS-Diktatur im Spiegel dieses Prozesses bilanziert. Zum 70. Jahrestag ist es nun in einer neuen Ausstattung erhältlich.

Joe J. Heydecker (1916-1997) war Journalist und Berichterstatter während des gesamten Nürnberger Prozesses, er lebte bis zu seinem Tod in Wien.

Joe J. Heydecker (1916–1997) war Journalist und Berichterstatter während des gesamten Nürnberger Prozesses, er lebte bis zu seinem Tod in Wien. Johannes Leeb, geboren 1932, Journalist. Zuletzt stellvertretender Chefredakteur von Weltbild. Er lebt in München. Johannes Leeb, geboren 1932, Journalist. Zuletzt stellvertretender Chefredakteur von Weltbild. Er lebt in München.

2 Innenminister Wilhelm Frick wird ›aufgepickt‹ – Rundfunkkommentator Hans Fritzsche bietet die Kapitulation Berlins an – Nicht auf der Anklagebank: Dr. Josef Goebbels


Wilhelm Frick, der einstige Reichsinnenminister, ist in der Nähe von München von Offizieren der amerikanischen 7. Armee ›aufgepickt‹ worden, wie es in der ersten Meldung darüber heißt. Von den anderen Gesuchten fehlt jede Spur.

Wie ist die Lage in Berlin?

Um elf Uhr vormittags, am 21. April 1945, fröstelt die Stadt unter einer eisgrauen Wolkendecke aus Trümmerstaub, Qualm und klebrigem Nebel. In den Straßen irren verzweifelte Menschen umher, zehntausend, hunderttausend Flüchtlinge. Der blutige Besen der heranrückenden Russen schiebt sie nach Westen.

Hitlerjungen, Frauen und alte Männer bauen Straßensperren. Drohender Donner kündigt die Front an. Rauch steigt aus den Resten niedergewalzter Stadtteile. Der schwelende, beißende Geruch des Untergangs hängt über Berlin.

Durch die Ritzen der vernagelten Fenster zieht ein kühler Aprilwind in den privaten Filmsalon des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda in der Hermann-Göring-Straße. Durch die Erschütterungen naher Einschläge ist da und dort der Verputz von Decke und Wänden gebröckelt. Die kostbaren Sessel machen einen verstaubten, zerschlissenen Eindruck.

Im Zwielicht des trostlosen Raumes haben sich gut zwei Dutzend Männer versammelt. Fünf Kerzenstümpfe werfen einen flackernden Schein auf die ernsten, eingefallenen Gesichter der Anwesenden; es gibt hier keinen elektrischen Strom mehr.

Das ist die äußere Kulisse der letzten Konferenz, die Dr. Josef Goebbels mit seinen Mitarbeitern abhält. Jede Einzelheit, jedes Wort, das hier gesprochen wurde, ist uns von einem Augenzeugen überliefert worden – von dem späteren Nürnberger Angeklagten Hans Fritzsche.

Der Minister trägt einen peinlich korrekten dunklen Anzug, der blütenweiße Kragen schimmert im Dämmerlicht, und der Rundfunkkommentator Fritzsche empfindet dies als schreienden Kontrast zu dem trübseligen Salon und den grausamen Verwüstungen in der ganzen Stadt. Dr. Goebbels lässt sich in einem Sessel nieder und beginnt zu sprechen. Er hat lässig die Beine übereinandergeschlagen.

Was er sagt, ist weit davon entfernt, Gegenstand einer Mitarbeiterbesprechung zu sein. Er redet eigentlich zu einem anderen Publikum. Er spricht ein Verdammungsurteil über das ganze deutsche Volk, spricht von Verrat, Reaktion, Feigheit.

»Das deutsche Volk hat versagt«, bricht es aus Goebbels hervor. »Im Osten läuft es davon, im Westen hindert es die Soldaten am Kampf und empfängt den Feind mit weißen Fahnen.« Seine Stimme gellt, als spräche er im Sportpalast: »Was fange ich mit einem Volk an, dessen Männer nicht einmal mehr kämpfen, wenn ihre Frauen vergewaltigt werden?«

Dann wird er wieder kühl. Ein ironisches Zucken spielt um seine Mundwinkel. »Nun«, sagt er leise, »das deutsche Volk hat sich dieses Schicksal ja selbst gewählt. Denken Sie an die Volksabstimmung vom November 1933 über Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund. Damals hat sich das deutsche Volk in freier Wahl gegen eine Politik der Unterwerfung und für eine solche des kühnen Wagnisses entschieden.« Mit einer leichten Handbewegung setzt er hinzu: »Dieses Wagnis ist nun eben missglückt.«

Ein, zwei Mitarbeiter springen auf, wollen Goebbels ins Wort fallen. Der Minister übergeht sie mit eisigem Blick. Ohne auf ihre Demonstration zu achten, fährt er in seiner Rede fort: »Ja, das mag für manche Leute eine Überraschung sein, auch für meine Mitarbeiter. Aber ich habe ja niemanden gezwungen, mein Mitarbeiter zu sein, so wie wir auch das deutsche Volk nicht gezwungen haben. Es hat uns ja selbst beauftragt. Warum haben Sie mit mir gearbeitet? Jetzt wird Ihnen das Hälschen durchgeschnitten.«

Goebbels erhebt sich. Er lächelt unmerklich über die Röte oder Blässe, die seine letzten, zynischen Worte in die Gesichter der Anwesenden getrieben haben. Er hinkt zu der hohen, rotgoldenen Flügeltür des Filmsalons, dreht sich noch einmal um und sagt pathetisch: »Aber wenn wir abtreten, dann soll der Erdkreis erzittern!«

Vorläufig erzittert nur die Tür, die er hinter sich zuwirft. Die Versammelten sind aufgestanden. Niemand sagt etwas. Alle sehen sich betreten an. Allen ist klar, dass das Ende gekommen ist. Sie schlagen ihre Kragen hoch und eilen auf die Straße.

Die russische Artillerie belegt das Regierungsviertel mit schweren Brocken. Fritzsche springt geduckt an den Ruinenwänden entlang, arbeitet sich durch Trümmer und Seitenstraßen vorwärts. Er ist jetzt wie aus einem Traum erwacht. Er hastet durch Berlin, sucht nach irgendwelchen Menschen, die ihm genauen Aufschluss über die Lage geben könnten, kehrt schließlich ratlos zur Villa von Dr. Goebbels zurück.

Hier findet er nur noch fluchende SS-Leute, ein paar verstörte Sekretärinnen, leere Zimmer, durchwühlte Schreibtische und Schränke, zurückgelassene Koffer. Der Leiter des Ministeramtes, Curt Hammel, steht verloren in Hut und Mantel herum. Als er Fritzsche sieht, sagt er tonlos: »Goebbels ist in den Führerbunker gefahren. ›Es ist aus‹, waren seine letzten Worte. Die Russen stehen am Alexanderplatz. Ich versuche jetzt, nach Hamburg durchzukommen. Wollen Sie mit? Ich habe einen Platz im Wagen frei.«

Fritzsche lehnt ab. Er will in Berlin bleiben. Er eilt ins Propagandaministerium und löst die Rundfunkabteilung auf, entlässt seine Mitarbeiter. Dann holt er seinen BMW aus der Garage und fährt zum Alexanderplatz, um nachzusehen, ob die Russen wirklich schon dort sind. Artilleriefeuer und ein Panzergefecht zwischen Danziger Straße und Ringbahn veranlassen ihn zur Umkehr. Im Rundfunkhaus erfährt er, dass die Verteidigung Berlins fortgesetzt werden soll.

Ein paar Tage noch hält sich der Kern der Stadt. Dann hört Fritzsche, das Ohr an einen verglimmenden Batterieempfänger gepresst, über den Sender Hamburg die Nachricht von Hitlers Tod. Mit Staatssekretär Werner Naumann vom Propagandaministerium rennt er hinüber zur Reichskanzlei. Er hat einen festen Plan. Berlin muss sofort kapitulieren. Aber er hütet sich vorerst noch, diesen Gedanken Martin Bormann zu unterbreiten. Fritzsche will von Bormann nur erreichen, dass sinnlose Aktionen unterbleiben. Er spielt mit seinem Kopf, aber es gelingt ihm, Hitlers mächtigsten Gefolgsmann umzustimmen.

Im Garten vor dem Führerbunker, zwischen rauchgeschwärzten Mauern, zwischen Benzinfässern und verbrennenden Geheimakten – oder was ist es sonst? – ruft Bormann einige SS-Leute zusammen und befiehlt ihnen in Fritzsches Anwesenheit: »Der Werwolf ist aufgelöst. Sämtliche Werwolfaktionen sind einzustellen, ebenso die Vollstreckung von Todesurteilen.«

Fritzsche stolpert ins Propagandaministerium zurück. Um 21 Uhr wollen alle, die noch im Bunker der Reichskanzlei sitzen, einen Ausbruchsversuch machen. Danach wird Fritzsche als Ministerialdirektor der letzte hohe Regierungsbeamte sein, der in der Hauptstadt des Deutschen Reiches zurückbleibt. In dieser Eigenschaft will er Marschall Georgi Schukow die Kapitulation Berlins anbieten.

Er verständigt einige Lazarette von seinem Entschluss, einige Befehlsbunker und Wehrmachtseinheiten. Dann schreibt er dem Sowjetmarschall einen Brief. Der Dolmetscher Junius vom Deutschen Nachrichten-Büro übersetzt das Schreiben ins Russische.

Da wird die Tür aufgerissen.

General Wilhelm Burgdorf, Hitlers letzter Adjutant, stürzt mit flackernden Augen in das Kellergelass. »Sie wollen kapitulieren?«, herrscht er Fritzsche an.

»Ja«, antwortet der Ministerialdirektor trocken.

»Dann muss ich Sie niederschießen!«, schreit Burgdorf. »Der Führer hat in seinem Testament jede Kapitulation verboten. Es muss bis zum letzten Mann gekämpft werden!«

»Auch bis zur letzten Frau?«, fragt Fritzsche.

Der General zieht seine Pistole. Doch Fritzsche und ein Rundfunktechniker sind schneller. Sie stürzen sich auf Burgdorf. Der Schuss kracht, sirrt als Querschläger von der Decke zurück. Mit vereinten Kräften bugsieren sie den Adjutanten zur Tür hinaus.

Burgdorf versucht noch, zur Reichskanzlei zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin richtet er jedoch die Waffe gegen sich selbst und setzt seinem Leben ein Ende.

Fritzsches Brief gelangt tatsächlich durch die Kampflinie auf die russische Seite. Im Morgengrauen des 2. Mai erscheinen die Parlamentäre im Propagandaministerium: ein sowjetischer Oberstleutnant, mehrere andere russische Offiziere und ein deutscher Oberst als Lotse. Marschall Schukow lässt Fritzsche auffordern, zu ihm zu kommen.

Schweigend marschiert die Gruppe durch ein Berlin, das keine Ähnlichkeit mehr hat mit der einstigen Hauptstadt. Pferdekadaver, Ruinen, ausgebrannte Fahrzeuge, gefallene Soldaten, herabhängende Drähte, tote Hitlerjungen, weggeworfene Panzerfäuste, zerfetzter Hausrat, stinkende Kellerlöcher säumen den Weg der Unterhändler. Am Anhalter Bahnhof überschreiten sie die Frontlinie. Ein russischer Jeep wartet.

Wie sieht es auf der anderen Seite aus, dort, wo die Rote Armee schon eingezogen ist?

»In zwei Weltkriegen habe ich viele Bilder des Kampfes gesehen«, sagt Fritzsche selbst darüber. »Keines ist auch nur in irgendeiner Beziehung dem Bilde vergleichbar, das sich mir auf dem kurzen Weg vom Wilhelmplatz bis Tempelhof bot, der...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2015
Vorwort Johannes Leeb, Eugen Kogon, Robert M. Kempner
Zusatzinfo zahlr. s/w Fotos
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte 70. Jahrestag • Deutschland • Diktatur • Genozid • Gericht • Gesellschaft • Holocaust • Holocaust-Genozid • Internationales Strafrecht • Joe J. Heydecker • Johannes Leeb • Krieg • Kriegsverbrechen • Kriegsverbrecher • Nationalsozialismus • NS-Diktatur • Nürnberger Prozeß • Nürnberger Prozesse • Politik • Standardwerk • Verbrecher • Verfahren • Völkermord • Völkermord-Verfahren • Zeitgeschichte • Zeit-Geschichte
ISBN-10 3-462-31530-7 / 3462315307
ISBN-13 978-3-462-31530-1 / 9783462315301
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