Scène 18

Neue französische Theaterstücke
Buch
260 Seiten
2015
Theater der Zeit (Verlag)
978-3-95749-046-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Scène 18 -
17,00 inkl. MwSt
"Scène 18“ präsentiert fünf zeitgenössische Stücke für jüngere Zuschauer aus dem frankophonen Sprachraum. Dabei reicht die Bandbreite von der feministischen Neuinterpretation bekannter Märchen („Gretel und Hänsel“ von Suzanne Lebeau, der Grande Dame des quebecer Kinder- und Jugendtheaters) bis hin zu Luc Tartars chorischem Slangstück „Feuer fangen“ über erwachende Sexualität. Während sich der in Frankreich lebende Togolese Gustave Akakpo auf die Tradition der Farce besinnt, um die Steinigung „entehrter“ junger Frauen in patriarchalischen Gesellschaften anzuprangern („Steinchen für Steinchen“), entwickelt der montrealer Autor David Paquet in „2 Uhr 14“ vor dem Hintergrund eines Amoklaufs eine zart verschrobene Komödie über die Probleme des Heranwachsens. Am Schnittpunkt zwischen Traumwelt und sozialer Realität hat der Franzose Eddy Pallaro seinen Text „Annas Traum“ angesiedelt, der von den Ängsten und Unsicherheiten eines jungen Mädchens erzählt, das bei seinem alleinerziehenden Vater lebt.

Leyla-Claire Rabih studierte Theaterwissenschaft in Frankreich und Regie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch" in Berlin. Sie arbeitet in Deutschland und Frankreich als Regisseurin und inszeniert dabei überwiegend zeitgenössische Dramatik. Frank Weigand lebt als freiberuflicher Journalist und Übersetzer in Berlin. Sein Hauptinteresse gilt zeitgenössischen Theatertexten aus dem gesamten frankophonen Raum.

„Kindgerechte“ Auseinandersetzungen? Zur Textauswahl von SCÈNE 18 Vor nunmehr acht Jahren erschien in der Reihe SCÈNE ein Band zum Thema Kinder- und Jugendtheater, der bereits einen ersten Eindruck von der Fülle dramatischer Texte für junges Publikum im französischen Sprachraum lieferte. Fast alle der damals vorgestellten Autoren und Theatermacher (Joël Pommerat, Fabrice Melquiot, Joël Jouanneau & Marie-Claire Le Pavec, Daniel Danis, Jean Cagnard und Philippe Aufort) arbeiten auch heute noch erfolgreich und haben sich innerhalb der Institution etabliert. An diese erste Momentaufnahme wollen wir mit dem vorliegenden Buch anschließen – nicht zuletzt da das französische Kultusministerium im vergangenen Jahr die „Belle Saison“ initiiert hat: ein zweijähriges Programm zur besonderen Förderung und Verbreitung der Bühnenkunst für Kinder und Jugendliche. So populär wie heute war das Kinder- und Jugendtheater jedoch nicht immer: Trotz einer langen Tradition pädagogischer Theaterpraxis (vor allem bei den Jesuiten) etablierte es sich in Frankreich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei wurde es zunächst keineswegs als eigenständige Kunstform betrachtet, sondern als pädagogisches Werkzeug, das auf unterhaltsame Art und Weise moralische Prinzipien vermitteln sollte. Bis in die 1960er Jahre hinein sprachen Aufführungen für Kinder noch in erster Linie deren Sinne an. Texte spielten eine eher untergeordnete Rolle. Die zunehmende künstlerische Bedeutung von Kinder- und Jugendtheater fällt mit seiner institutionellen Anerkennung zusammen. Ab 1960 werden in Frankreich mehrere Organisationen gegründet, die die Kunstform weiterentwickeln und gleichzeitig über ihre Praxis nachdenken (z. B. ASSITEJ oder BATTE). Diese Vereinigungen arbeiten eng mit Schulen und den Bewegungen für kulturelle Bildung zusammen. Zu Beginn der 1980er Jahre würdigt die nationale Kulturpolitik die Arbeit dieser Praktiker. Es entstehen sechs Centres dramatiques nationaux pour l’enfance et la jeunesse (CDNEJ), nationale Zentren für junges Publikum. Ihre Eröffnung legitimiert das Kinder- und Jugendtheater als Kunstform und erschließt ihm ein neues und größeres Publikum. In der Folgezeit entstehen nicht nur zahlreiche Festivals mit internationaler Ausstrahlung (Momix, méli‘mômes, À pas contés), sondern auch spezielle Spielstätten und Netzwerke. Seit 2005 wird der nationale Theaterpreis Molière auch in der Kategorie Kinder- und Jugendtheater verliehen. Trotz des Formenreichtums in den Bereichen Nouveau Cirque und Objekttheater nimmt der Text einen festen, unangefochtenen Platz im Kinder- und Jugendtheater ein. Schreibzentren wie die Chartreuse Villeneuve lez Avignon laden regelmäßig Dramatiker für junges Publikum zu Residenzaufenthalten ein. Seit 2004 nimmt sogar die Comédie Française Kinder- und Jugendtheatertexte in ihr Repertoire auf, und auch das Festival d’Avignon zeigt junges Theater auf seinen großen Bühnen. Auch die Verlage haben längst auf dieses Phänomen reagiert. Neben der Pionierarbeit des Belgiers Emile Lansman ist hier vor allem der Kinderbuchverlag École des loisirs von Bedeutung, der in seiner Theaterreihe hauptsächlich die Werke anerkannter Dramatiker (z. B. Catherine Anne und Olivier Py) veröffentlicht. 1999 tun sich das Théâtre de Sartrouville und der Verlag Actes Sud-Papiers zusammen, um die am Haus aufgeführten Texte in der Reihe „Heyoka Jeunesse“ zu veröffentlichen – darunter auch Autoren wie Jean-Claude Carrière, Wajdi Mouawad oder Jean-Claude Grumberg, die zuvor noch nie für ein junges Publikum gearbeitet hatten. Seit 2001 publizieren auch die beiden größten Theaterverlage Frankreichs, L’Arche Éditeur und Les Éditions Théâtrales, Texte aus dem Kinder- und Jugendbereich. Theatertexte mit literarischem Eigenwert stehen auch im Mittelpunkt der vorliegenden Ausgabe von SCÈNE. Als Anthologie, die sich in erster Linie dem Vermitteln von Texten und Autoren widmet, reagieren wir damit auf das zeitweilige Verschwinden des Autors aus der zeitgenössischen Produktion für Kinder und Jugendliche in Deutschland. So waren von zwölf Aufführungen der letzten Ausgabe des wichtigsten deutschen Kinder- und Jugendtheaterfestivals, Augenblick mal!, nur drei auf der Grundlage von Texten entstanden. Bei den anderen handelte es sich um „Projekte“, die vor allem mit tänzerischen oder performativen Elementen arbeiteten und Text bestenfalls als Material verstanden. Texte, die mehr sind als bloßes Material für die Aufführung, und Themen, die Kinder und Jugendliche als Zuschauer ernst nehmen, ohne in soziales „Betroffenheitstheater“ abzugleiten – so lässt sich die programmatische Ausrichtung von SCÈNE 18 zusammenfassen. Jedes der fünf vorgestellten Stücke hinterfragt außerdem auf seine Weise die Klischees und gut gemeinten pädagogischen Konventionen, mit denen in diesem Bereich leider immer noch häufig gearbeitet wird. So erteilt die prominenteste Autorin dieser Ausgabe, die Quebecerin Suzanne Lebeau, weltweit anerkannte „Grande Dame“ des Kinder- und Jugendtheaters, jeglicher Art von scheinbar „kindgerechter“ Selbstzensur eine Absage. Anstatt eine „künstliche zweidimensionale Parallelwelt in Pastellfarben zu erfinden, die vielleicht schöner ist aber falsch“, tritt sie dafür ein, den jungen Zuschauern „von der Welt zu erzählen, in der sie leben“. Gretel und Hänsel, Lebeaus Neuinterpretation des Grimm’schen Märchens für ein Publikum ab 6 Jahren, verblüfft daher nicht nur durch die Entscheidung, Gretel, die ältere Schwester, zur Protagonistin zu machen. Die Darstellung der Rivalität zwischen den beiden Geschwistern, die Gretel immer wieder in Versuchung führt, sich ihres lästigen jüngeren Bruders zu entledigen, nimmt grausames kindliches Konkurrenzdenken auf eine Art und Weise ernst, die moralische Schmerzgrenzen überschreitet. Lebeaus Märchengeschwister sind keine passiven Opfer der Umstände, sondern selbstständige und selbstbewusste Erzähler der eigenen Geschichte. Ungerechtigkeit, Gewalt und Verantwortung stehen dabei im Mittelpunkt – das märchenhafte Dekor erscheint beinahe sekundär. Ohne je didaktisch zu werden, ist Lebeaus Text eine eindrucksvolle Lektion zu den Themen persönliche Verantwortung und Loyalität. Eine ähnlich klischeefreie Verschränkung von märchenhaften Elementen und handfesten Konflikten aus der realen Welt findet sich in Annas Traum des französischen Dramatikers Eddy Pallaro, einem Stück für Kinder ab 8 Jahren. Das Mädchen Anna lebt bei ihrem alleinerziehenden, ständig arbeitsuchenden Vater, ohne dass der Text diese Situation als außergewöhnlich oder erklärungsbedürftig schildern würde. Im Traum begegnet das Kind einem Pferd, das ihr dabei hilft, die Probleme des Alltags zu bewältigen. Pallaros Sprache ist bewusst einfach gehalten, wobei die lakonischen Dialoge voll von subtilem Witz sind. Das Verhältnis zwischen Anna und ihrem Vater ist eine Beziehung auf Augenhöhe: Sie leben zusammen, teilen ihre Sorgen miteinander, und oft scheint das Kind mehr Verantwortung für den Vater zu übernehmen als umgekehrt. Auf unprätentiöse Art und Weise gelingt dem Autor der Spagat zwischen Märchenwelt und sozialem Realismus. Der soziale Aspekt steht in der Arbeit von Luc Tartar häufig im Vordergrund. Im Rahmen von Workshops oder Residenzaufenthalten an Schulen entwickelt er seine Stücke oft gemeinsam mit dem jungen Publikum. So auch bei Feuer fangen, einer Textfläche zum Thema sexuelles Erwachen, für Zuschauer ab 14. Die Initialzündung geschieht mitten auf dem Schulhof: Latifa und Jonathan küssen sich – und die ganze Welt sieht zu. Die Mitschüler, die Lehrer, der Schulleiter und eine ältere Dame, die die Jugendlichen regelmäßig mit Präservativen versorgt, werden von der Entdeckung von Liebe und Sexualität in ihren Grundfesten erschüttert. Alle entdecken eine Kraft, die die Welt neu zu definieren scheint. Gleichzeitig lernen die beiden Protagonisten, was es bedeutet, einander zu lieben, während quasi ununterbrochen der Blick der Gesellschaft auf ihnen lastet. Verfasst ist dieses moderne „Frühlingserwachen“ in einer mehrstimmigen chorischen Form, in der sich Jugendslang und stärker poetisch-literarisches Vokabular vermischen. Teilweise setzt der Überschwang der Sprechenden die gängigen Regeln von Syntax und Grammatik außer Kraft, so dass Gefühle und Gedanken quasi „ohne Punkt und Komma“ hervorbrechen. Im Vergleich dazu ist Die gespaltene Frucht des in Togo geborenen, seit einigen Jahren in Paris lebenden Gustave Akakpo geradezu klassizistisch. Sein Text bedient sich der Fabel und Struktur klassischer Komödien à la Molière oder Marivaux, um Rollenbilder, kulturelle Klischees und Traditionen zu hinterfragen. Angesiedelt ist die Handlung in einem imaginären afrikanischen Land, in dem der Einfluss Europas auf die traditionelle Kultur trifft. Ein junger Mann, gerade aus dem Ausland zurückgekehrt, nötigt ein noch jungfräuliches Mädchen zum Geschlechtsverkehr. Als die Gemeinschaft dies entdeckt, soll das Mädchen gesteinigt werden, um die Ehre des Dorfes und ihres Verlobten reinzuwaschen. Zwar sind die Dorfältesten nicht wirklich mit Begeisterung bei der Sache, doch die Tradition verlangt es so. Durch ein humorvolles Verkleidungs- und Verwirrspiel gelingt es der Schwester der Verurteilten und dem von Gewissensbissen geplagten jungen Mann zu guter Letzt doch noch, die Dorfbewohner davon zu überzeugen, dass sich „Traditionen weiterentwickeln“ müssen. In Akakpos Sprache trifft Klassizismus auf poetisch geformtes „afrikanisches“ Französisch und zeitgenössischen Slang. Tempo, Situationskomik und ein beinahe musikalischer Rhythmus verleihen dem didaktischen Anliegen des Autors Leichtigkeit: Die gespaltene Frucht soll das Publikum ab 16 zum Nachdenken über geschlechtsspezifische Ungleichheiten in jeder beliebigen Gesellschaft anhalten. Ähnlich wie Akakpo nimmt auch der Quebecer Autor David Paquet einen tragischen Ausgangspunkt als Anlass zu einer Komödie für ein Publikum ab 16, die bei ihm aber weniger grell satirisch als melancholisch-surreal daherkommt. Vor dem Hintergrund des Amoklaufs an einer Schule zeichnet 2 Uhr 14 in kurzen, clipartigen Szenen die letzten Stunden im Leben der Opfer nach. Die übergewichtige Jade, François, der sich in eine alte Frau verliebt hat, der einsame Musterschüler Berthier, die aggressive Katrina und der ausgebrannte Lehrer Denis – sie alle beschließen gleichzeitig, ihr Leben von Grund auf zu ändern. Zwischen realem Schulmilieu und surrealer Traumwelt lässt der Autor seine liebenswerten, oft peinlich unbeholfenen Protagonisten nach ein bisschen persönlichem Glück und Würde suchen. Als um Punkt 2 Uhr 14 all diese Leben mit dem Amoklauf von Mitschüler Charles enden, wirkt dies vor allem wie ein tragisch ungerechter Zufall. Meilenweit von gängigen Problemstücken zum Thema Amok entfernt, ist Paquets comicartiges Schuldrama eher eine trotzige Hymne an das Leben und – ähnlich wie bei Luc Tartar – an die Jugend und die Pubertät, eine Zeit, in der noch alles möglich scheint. Dieses Vermeiden von stereotypen Opfer-Täter-Zuschreibungen macht die theatrale Kraft dieses Textes aus: Ohne aufdringliche Botschaft wird hier das Leben gefeiert, zu dem eben auch Tod und Grausamkeit gehören. In der Zusammenschau fällt auf, wie hilflos sich in allen fünf Texten die Erwachsenen gebärden. Selbst verwirrt, in prekären Situationen gefangen oder überfordert, sind sie nicht in der Lage, die Probleme der Kinder und Jugendlichen zu lösen oder sie gar zu „retten“. Sie halten sich verzweifelt an einer Welt fest, die ihnen Stück für Stück entgleitet. Die Kinder und Jugendlichen dagegen sind es, die sich der Welt stellen und ihre eigenen Überlebensstrategien entwickeln. Daher sind die auf den ersten Blick wenig „kindgerechten“ Themen dieser Auswahl – sexuelle Nötigung, Amoklauf, Grausamkeit unter Geschwistern – keineswegs Schockeffekte, sondern vermutlich der beste Weg, um sich gemeinsam mit der jüngeren Generation mit einer Welt auseinanderzusetzen, die wir längst alle nicht mehr verstehen. Wir wünschen unseren fünf Texten großartige deutschsprachige Inszenierungen. Mögen sie Zuschauer jeden Alters gleichermaßen zum Lachen, Weinen und Nachdenken anregen! Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand im Juli 2015

Erscheint lt. Verlag 21.11.2015
Reihe/Serie Scène ; 18
Sprache deutsch
Maße 135 x 205 mm
Gewicht 278 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Drama, Theaterstücke, Drehbücher • Dramatik aus Frankreich • Frankreich, Literatur; Dramensammlungen • Französische Theaterstücke • Moderne und zeitgenössische Dramen (ab 1900) • Stücke aus Frasnkreich • Theaterstück
ISBN-10 3-95749-046-4 / 3957490464
ISBN-13 978-3-95749-046-9 / 9783957490469
Zustand Neuware
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