Hegel und wir (eBook)

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2015 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74067-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hegel und wir -  Albrecht Koschorke
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Welche Faktoren lassen eine kulturelle Großerzählung entstehen und wirkmächtig werden? Insbesondere die grandiose narrative Syntheseleistung, die Hegel mit seiner Geschichtsphilosophie gelingt, provoziert nach wie vor eine Antwort auf diese Frage. Und so ist es der große Epiker Hegel, der sich in das Gewand der philosophischen Systematik kleidet, den Albrecht Koschorke in den Mittelpunkt seiner Frankfurter Adorno-Vorlesungen stellt. In Hinsicht auf den nach 1806 finanziell ruinierten, territorial zersplitterten und auch politisch-kulturell fragmentierten Agrarstaat Preußen, um den sich das System des späteren Hegel zentriert, hat seine philosophische Erzählung einen eher kontrafaktischen als beschreibenden Charakter. Überhaupt ist die Erzeugung schöpferischer Gebilde, die sich dann als politische selbstständig machen, ein generelles Merkmal der Ära der Nationalmythologien - wohingegen symbolische Integration durch Erzählen unter heutigen postnationalen Vorzeichen nur in weit geringerem Ausmaß gelingt. Vor diesem Hintergrund geht es Koschorke nicht zuletzt um die Erzählbedingungen der europäischen Gegenwart. Er zeigt, warum es ein umschließendes, nach innen stark integrierendes Europa-Narrativ, wie es die Politik zumal in Zeiten der Eurokrise fordert, nicht gibt - und auch nicht geben sollte.

<p>Albrecht Koschorke, geboren 1958, ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Seit 2006 gehört er dem Konstanzer Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an und ist seit 2010 Sprecher des Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne«. 2002 wurde er mit dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2003 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet.</p>

Vorwort


 

 

Anfang der 1980er Jahre, als Student im dritten oder vierten Semester, schien es mir an der Zeit, Adornos Werke durchzuarbeiten. Aus dieser Phase rühren heftige Anstreichungen in den betreffenden Suhrkamp-Taschenbüchern meiner kleinen Arbeitsbibliothek. Besonders in der Ästhetischen Theorie gibt es kaum einen Absatz, den der frenetische Leser, der ich damals gewesen sein muss, nicht mit Bleistift und Lineal traktiert hat. Manchmal sind ganze Seiten unterstrichen und mit dicken vertikalen Balken versehen, die auf dem schmalen Seitenrand des sparsamen Satzspiegels der stw-Bände kaum Platz finden. Ich wohnte während meiner Studienzeit in einer zum Abriss vorgesehenen Siedlung im Münchner Norden und gab mich meinen Adorno-Lektüren vorzugsweise in einem zur Siedlung gehörenden, gemeinschaftlich genutzten Kleingarten hin. Ich erinnere mich noch, wie ein Nachbar, werdender Elektroingenieur, gar nicht mit ansehen konnte, wie ich Stunde um Stunde berserkerhaft meine Linealbahnen durch das Buch zog. Er schlug vor, der Verlag solle doch die Bücher gleich unterstrichen ausliefern, dann könnte ich in der eingesparten Zeit etwas anderes tun.

Aus heutiger Wahrnehmung ist mir die Hingabe, mit der ich mich damals dem Studium von Adornos Schriften gewidmet habe, etwas rätselhaft. Nicht dass mir Adorno ganz unverständlich geworden wäre. Aber irgendwie ist mir die Pointe abhandengekommen; sie erreicht mich nicht mehr. Die Naherwartung der Apokalypse, die damals die treibende Kraft der Lektüre gewesen sein muss, scheint sich verflüchtigt zu haben, obwohl sie heute vielleicht noch zwingendere Gründe geltend zu machen hätte als in den Zeiten des Kalten Krieges. Wenn ich jetzt lese:

 

Je totaler die Gesellschaft, je vollständiger sie zum einstimmigen System sich zusammenzieht, desto mehr werden die Werke, welche die Erfahrung jenes Prozesses aufspeichern, zu ihrem Anderen. […] Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind.[1]

 

– kann ich weder die Gesellschaftsdiagnose noch die entfremdungstheoretische Prämisse ganz teilen; und selbst wenn ich beide bejahte, bliebe meine Lektüre doch taub. Was hat mich damals für solche Diagnosen so empfänglich gemacht? Worin bestand die Erregungsqualität des Satzes:

 

Denn Kommunikation ist die Anpassung des Geistes an das Nützliche, durch welche er sich unter die Waren einreiht, und was heute Sinn heißt, partizipiert an diesem Unwesen.[2]

 

– warum musste ich diesen Satz mit fünf Seitenstrichen und einem großen Ausrufezeichen versehen? Welche Kunsterfahrungen, auf die ich als Dreiundzwanzigjähriger zurückblicken konnte, haben mich dazu bewogen, einen Passus über das Verhältnis zwischen Kunst und Ideologie[3] mit der beflissenen Anmerkung »Kunst = Sublimierung lädierter Existenz« zu versehen, die in dem gegebenen Zusammenhang nichtssagend und überdies sicher falsch war? Wenn ich mir diese Fragen stelle, scheint nur eine Alternative zu bleiben: Entweder sehe ich mich, den Kontinuitätsriss in meiner Lesebiographie überspringend, von meinem damaligen Standpunkt her als jemanden an, der inzwischen alle Verdinglichungen, gegen die Adorno anschrieb, mit postapokalyptischem Gleichmut hinnimmt, ja nicht einmal mehr registriert. Dann bin ich fatalerweise zu einem jener verwalteten Menschen im Spätkapitalismus geworden, vor denen Adorno mich damals zu warnen versuchte. Oder ich blicke vom Standpunkt des Älteren zurück und bin versucht, mich selbst als jemanden zu belächeln, der sich in Studentenjahren ohne existenziell zwingenden Grund in einem eher philosophischen als praktischen Leiden an der Gesellschaft gefiel. Aber warum ist mir damals der bildungsbürgerlich indignierte Ton von Adornos modernekritischen Auslassungen nicht aufgestoßen? In meinen ersten Seminararbeiten finde ich Adorno-Imitate wie das berühmte postponierte Reflexivpronomen, und erst ein barsches Machtwort meiner akademischen Lehrerin Renate von Heydebrand hat mich davon kuriert, als Literaturstudent im Hauptstudium nach Art des Meisters die altertümelnde Verbform »ward« statt »wurde« zu verwenden.

Es wäre eine eigene Studie wert, warum manche Schreibweisen schneller altern als andere. Adornos Texte sind nach meinem Eindruck binnen weniger Jahrzehnte rapide gealtert, vielleicht mit Ausnahme einiger Aufsätze aus den Noten zur Literatur. Mit der Rezeption der Poststrukturalisten ist er nach und nach aus den Literaturverzeichnissen kulturwissenschaftlicher Abhandlungen verschwunden – anders als Walter Benjamin, der seinen in den 1980er Jahren erworbenen Status als theoretischer Kultautor, zumal in den USA, bis heute erfolgreich verteidigen konnte. Dafür lassen sich verschiedene Gründe angeben, die ich hier nicht auflisten will. Ein wichtiger Faktor, der allerdings beide Autoren betrifft und die Diskrepanz ihres akademischen Nachlebens nicht zu erklären vermag, besteht in der schweren philosophischen Bürde, die sie mit sich herumtragen: nämlich der Dialektik in Gestalt von Hegels und, daran anschließend, Marx' Geschichtsphilosophie.

Hier bietet sich ein Anknüpfungspunkt zwischen Adornos Denken und der Fragestellung, der ich im Folgenden nachgehen will – ein Bezug, der über ratlose Lektürereminiszenzen hinausreicht. Was diesen Aspekt angeht, kann ich für mich fast von einem Vermächtnis Adornos sprechen, denn die Auseinandersetzung damit reicht wieder in meine Studienzeiten zurück.[4] Im Kunstwerk-Aufsatz hat Benjamin bekanntlich die Probe auf das revolutionäre Prinzip des Marxismus gemacht, indem er ganz im Sinn von Marx' Frühschriften die unterdrückten Massen zum Subjekt einer neuen, emanzipatorischen Ästhetik erklärte. Wie für Marx das Proletariat »nur das Geheimnis seines eigenen Daseins« ausspricht, wenn es »die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet«, weil es »die faktische Auflösung dieser Weltordnung« ist,[5] sah Benjamin in der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst, insbesondere des Films, neue massenmediale Bedingungen gegeben, die aus der Masse als dem entfremdetsten Subjekt das »fortschrittlichste« machen sollte.[6] Gegen diese revolutionäre Zuversicht hat Adorno Einspruch erhoben. In einem Brief an Benjamin warnt er vor »blindem Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats im geschichtlichen Vorgang – des Proletariats, das doch selber bürgerlich produziert ist«:[7] Man müsse »das tatsächliche Bewußtsein der tatsächlichen Proletarier« im Auge behalten, »die vor den Bürgern nichts aber auch gar nichts voraushaben außer dem Interesse an der Revolution, sonst aber alle Spuren der Verstümmelung des bürgerlichen Charakters tragen«.[8] Letztlich geht es hier, durch Marx hindurch, um die an Hegels Dialektik zu richtende Frage, wie aus der Negation der Negation eine Position hervorspringen kann, die nicht den dauerhaften Abdruck der Negation – der Entfremdung, des erlittenen Unrechts, des Leids und des Hasses – in sich trägt. Der dialektische Prozess, der sich bei Hegel im Medium der Selbsterfüllung und letzthinnigen Überwindung aller Trennungen und Widersprüche vollzog, war bei Marx zum Agens eines absoluten Bruchs mit der bisherigen Geschichte geworden. Ein solcher Bruch lässt sich jedoch mit den Mitteln der idealistischen Dialektik, die ihrem Wesen nach eine Reproduktionslogik des Identischen ist, nicht bewerkstelligen. Die Versöhnung der Antagonismen bei Hegel beruhte auf dem berühmten Satz, dass das Ganze, als das durch seine geschichtliche Entwicklung »sich vollendende Wesen«, mit dem Wahren zusammenstimme.[9] Wo aber keine verborgene Teleologie die versöhnte Einheit der Welt sichert, wo die Wahrheit etwas jenseits des immanenten Selbstvollzugs der Geschichte Ausstehendes ist, führt in einem alle Momente einschließenden dialektischen Vermittlungsgeschehen kein Weg zu ihr hin.

Hegel hatte System und Geschichte miteinander verschmolzen, weil er glaubte, die Totalität der historischen Welt als ein aus Systemgründen notwendiges Zu-sich-selbst-Kommen von Vernunft und Freiheit bestimmen zu können. Noch der junge Marx wollte, unter Anleihen an geschichtsphilosophisch-anthropologischen Entwürfen um 1800, das revolutionäre Heraustreten der Menschen aus dem gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhang als Resurrektion ihres ursprünglichen und wirklichen Wesens verstanden wissen.[10] Im Weiterdenken des Marxismus durch die Kritische Theorie verliert die geschichtliche Totalität ihren entelechischen Sinn. Sie wird zu einem Zwangszusammenhang, aus dem es auszubrechen gilt, sei es durch Wiedereinführung einer messianischen Differenz zwischen Geschichtsverlauf und Erlösungshoffnung wie bei Benjamin, sei es durch das Abschreiten der Aporien einer negativen Dialektik und negativen Ästhetik bei Adorno. Wenn der Hegelianismus die manisch-grandiosen Aspirationen des bürgerlichen Geschichtsdenkens im 19. Jahrhundert zum Ausdruck bringt, dann nimmt demgegenüber die Gleichung von Geschichte und System im Verlauf des 20. Jahrhunderts paranoische Züge an. Ging es bei Hegel noch vorrangig um die Frage, wem überhaupt Einlass in die Welt des Fortschritts des Geistes gewährt wird – eine Welt, die Hegel mit Attributen sowohl des Universellen als auch des Exklusiven ausstattet –, dreht sich unter den Vorzeichen von Adornos Diktum, dass das Ganze das Unwahre sei,[11] die Suchrichtung um: Wie findet man aus dem...

Erscheint lt. Verlag 7.6.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Frankfurter Adorno-Vorlesungen • Hegel • Nationalmyhtologien
ISBN-10 3-518-74067-9 / 3518740679
ISBN-13 978-3-518-74067-5 / 9783518740675
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