Die Erfindung des Manuskripts (eBook)

Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit
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2015 | 1. Auflage
671 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-73998-3 (ISBN)

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Die Erfindung des Manuskripts -  Christian Benne
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Die Entstehung der literarischen Moderne ging seit dem 18. Jahrhundert damit einher, dass die Anzahl literarischer Manuskripte ebenso wuchs wie deren Bedeutung. Der Buchdruck hatte die Handschrift keineswegs überflüssig gemacht, sondern provozierte im Gegenteil einen neuen, am Autographen ausgerichteten Literaturbegriff. Verantwortlich dafür war ein vielfältiges Zusammenspiel von ästhetischen, epistemologischen, juristischen und wissenschaftshistorischen Faktoren. In seinem grundlegenden Buch entwickelt Christian Benne eine Theorie literarischer Gegenständlichkeit und geht dabei exemplarisch auf verschiedene europäische Literaturen ein. Er zeigt, welche Folgen die »Erfindung des Manuskripts« hatte und immer noch hat - nicht zuletzt für die Debatte über die Zukunft des Buches.

<p>Christian Benne ist Professor f&uuml;r Europ&auml;ische Literatur an der S&uuml;dd&auml;nischen Universit&auml;t Odense.</p>

2. Theorie der Gegenständlichkeit


2.1. Literaturwissenschaftliche Ontologieangst


In Valérys philosophischem Dialog Eupalinos wird von einem Strandspaziergang des jungen Sokrates berichtet, der auf einen merkwürdigen, nicht bestimmbaren Gegenstand stößt. Er ist von reinstem Weiß, glänzend poliert, zugleich hart und zart und besitzt eine »forme singulière«.[1] Weil er sich nicht entscheiden kann, ob es sich um ein von Menschenhand erschaffenes Kunstwerk oder aber ein von der Zeit, also der Natur geformtes Gebilde handelt, wirft er es zurück ins Meer.[2] Das Problem lässt ihn freilich nicht los und bringt ihn schließlich auf die Idee, dass es sich im Grunde auch bei Gegenständen ergebe, die wir zu kennen glauben. Seine Spekulation erstreckt sich nun auf die Unterschiede von Kunst- und Naturprodukten. Bei diesen übersteige die Komplexität des Ganzen immer die Summe der Teile, bei jenen, also den Kunstwerken, sei es umgekehrt. Ihre vergleichsweise Unordnung sei der Tatsache geschuldet, dass sich der Künstler nie um alle »Eigenschaften der Substanz (qualités de la substance)« des Materials kümmere, das er bearbeite, sondern sich mit der Erfüllung konkreter Ziele begnüge. Ein Tisch sei weniger komplex als die Holzfasern, aus denen er besteht.[3]

Hans Blumenberg, der dieses vergessene Werk wiederentdeckte, hat Valérys Faden kongenial weitergesponnen.[4] Sokrates, so seine Hauptthese, habe sich in dem Moment, da er das unbekannte Objekt in die Fluten warf und »mit den Fragen über den Gegenstand begann, die nicht mehr Frage an den Gegenstand sein konnten«, für die Philosophie und gegen die ästhetische Einstellung entschieden.[5] Blumenberg liest hier eine Wesensbestimmung des Künstlers heraus, insofern Valéry ihn »die Freiheit der Anschauung, des regard pur«[6] wiedergewinnen lasse, um sich dem Gegenstand als dem gänzlich Unbekannten auszuliefern. So wolle denn auch das Kunstwerk im Unterschied zur Wissenschaft »die Rätsel des Gegebenen« nicht auflösen, sondern diese ersetzen durch »die beglückende, Genuß bietende Unauflösbarkeit des menschlichen Werkes, dessen Realitätscharakter als Widerstand damit äquivalent dem Gegebenen, aber ohne den Stachel der theoretischen Unruhe, ist«.[7] Sokrates muss das objet ambigu ins Meer werfen, weil er seiner Unerkennbarkeit keine Darstellung entgegenzusetzen hat, es also nicht künstlerisch »zum Sprechen verbinden mag«, aber auch noch nicht die richtigen philosophischen Fragen zu stellen weiß. Die ästhetische Einstellung hingegen muss sich um dergleichen gar nicht bekümmern und hätte gar keinen Anlass, den Gegenstand des Blickfeldes zu verweisen. Dies liegt nicht daran, dass der Künstler den Gegenstand einfach als solchen genießt, sondern weil er »durch den Gegenstand hindurch bzw. an ihm sein eigenes Nichteingeschränkt-Sein durch die faktische Welt, seine Freiheit gegenüber dem ›Gegebenen‹« zelebriert, wo Sokrates noch der Welt des Faktischen verhaftet ist.[8]

In seiner einschlägigen und für mein Thema überaus inspirierenden Studie hat Günter Figal aus einer ähnlichen Konstellation heraus den Begriff der Gegenständlichkeit entwickelt, den ich mir zu eigen machen und für meine Zwecke neu intepretieren werde.[9] Das Gegenständliche ist bei Figal buchstäblich das Entgegenstehende, das nicht schon immer im Erwartungshorizont oder Erkenntnisinteresse, im »zuerst suchenden, dann fixierenden Blick« enthalten war, dem sich die Philosophie aber nicht entziehen kann, da es nicht außerhalb ihrer Wahrnehmung liegt. Figal nennt eine fremde Person, die in unser Gesichtsfeld tritt; man könnte auch, um ein in seiner Studie nicht genanntes Beispiel zu nennen, auf den Fund verweisen – Sokrates’ objet ambigu.[10]

Die Geste des Entgegenstellens als ein dem Erleben nur Äußerliches stammt laut Figal aus einem spezifischen Unbehagen. Werden nämlich »die Dinge nicht als Objekte vom Bewußtsein gehalten« oder erweisen sie sich nicht von vornherein als nützlich, fallen sie scheinbar »aus dem Bereich des Menschlichen heraus« und haben weder »Wert« noch »Bedeutung«.[11] Dahinter steht die prägende Furcht, einer wissenschaftlichen Welt- und Selbstbeschreibung aufzusitzen, die nicht auf das Leben selbst bezogen ist und dieses deshalb bedroht. Hier liegt das vielleicht wichtigste Motiv der Philosophie Husserls und auch Heideggers, hier liegt der Grund, warum sie Freiheit auch gegenüber der Wissenschaft gewinnen wollten. Die Lösung von den Gegenständen der Wissenschaft bringt aber nicht die Gegenstände selbst zum Verschwinden. Sie lässt somit die Frage nach der Objektivierung offen, also die eigentlich unbestrittene Tatsache, dass es auch etwas außerhalb des Bewusstseins gibt. Die »Beschreibung und Analyse des nicht objektivierten Lebens in seinem Vollzug« führt, mit Figals treffendem Begriff, zu »Entgegenständlichkeitsversuchen«, die das Erleben der Gegenstände und die »Selbstobjektivierung aus diesem Erleben« privilegieren.[12] Da die Gegenständlichkeit aber durchaus nicht unwesentlich ist, tauche sie an anderer Stelle, etwa in der Kunst, wieder auf. Die Reaktion auf das Entgegenstehende sei, etwa in der Malerei, seine Darstellung als der Versuch, es in seiner Gegenständlichkeit gelten zu lassen. Freilich geht es dann schon nicht mehr um »die gegenständlich gewordene Sache selbst, sondern [um] ihre Darstellung«.[13] Die Darstellung trete an die Stelle der Sache, weil diese durch sie dargestellt und damit die Darstellung selber gegenständlich geworden sei. Sie ist nun auch Gegenstand. Zum Wesen der Philosophie gehöre es, sich einerseits »von den Texten, die ihre Gegenstände sind«, zu lösen, andererseits das Gegenständliche selbst »darstellend zu erfassen«.[14] Sie ist für Figal durch ihr doppeltes Wesen charakterisiert, zu dem die Ausrichtung sowohl auf Gegenständliches wie auf Gegenstände gehört – das Vermögen, Darstellung zu reflektieren und selbst Darstellung zu sein.

Philosophisch geglückt war Blumenbergs Valéry-Interpretation in diesem Sinne, weil er Valérys suggestiven Text gleichsam als objet ambigu behandelt und ihn zum Sprechen bringt, ohne auf Philosophie zu verzichten – er denkt ihn weiter in einer zugleich ästhetischen wie wissenschaftlichen Einstellung. Wo der Philosoph abstrakt über den Gegenstand reflektiert, setzt sich das Leben allerdings über ihn hinweg. Der Ästhetiker oder Künstler wiederum widmet sich dem Gegenstand selbst mit Hingabe, versäumt aber, so zumindest in Blumenbergs überspitzter Lesart, die Reflexion über die Bedingungen der Erkennbarkeit. Bei Valéry geht es indes nicht so sehr um den Gegensatz zwischen Philosophie und Ästhetik als vielmehr um den Gegensatz zwischen dem forschenden Geist, der in Selbstaufgabe alles wissen will, und dem Leben, das alle Aspekte dem Interesse des Lebens unterordnet. Wer nur leben möchte, bedarf keiner umfassenden Ideen, sondern lediglich des Eindrucks der Härte oder Formbarkeit des Materials.[15] Der junge Sokrates hatte sich zunächst gegen die Idee entschieden, ohne doch deshalb das Leben zu entdecken, das war Valérys Pointe. Sokrates setzt sich gleichsam zwischen die Stühle von Philosophie und Leben und wird damit zum Urbild des Dilemmas vieler Geisteswissenschaften. Dass sich etwa die Philologie zwischen Wissenschaft (z. B. Quellenforschung) und Kunst (z. B. Essay) entscheiden muss wie zwischen Geist und Leben, Theorie und Praxis gehört mittlerweile zu ihren tradierten Klischees und ist geradezu Teil ihres Selbstverständnisses geworden.

Herausgekommen ist dabei, so meine These, ein fauler Kompromiss (oder, je nach Standpunkt, ein goldener Mittelweg), den man in der Literaturwissenschaft vorbildlich beobachten kann: Sie ist weder besonders wissenschaftlich noch ausgeprägt künstlerisch. Valérys Sokrates verkörpert den Ausgangspunkt dieses Kompromisses in der Absage an eine echte ontologische Auseinandersetzung mit seinem Gegenstand. In seiner Verzweiflung verweigert der junge Sokrates dessen Reflexion in seiner konkreten Erscheinung und setzt sich mit ihm erst wieder in der geistigen Repräsentation auseinander, in der er bereits für die Welt der Ideen zugerichtet ist. Überdies schließt das Scheitern der ontologischen Bestimmung von vornherein jede künstlerische Aneignung oder Weiterentwicklung aus, die des Gegenstandes bedürfte. Valérys Sokrates ist damit der erste Repräsentant einer Geisteshaltung, die ich hier als Ontologieangst bezeichnen möchte.

Die Ontologieangst ähnelt Figals Entgegenständlichkeitsversuch, aber sie ist mehr als ein Versuch. Der Begriff der Angst darf cum grano salis als psychoanalytischer Unterton verstanden werden: Es handelt sich um eine Furcht vor intellektuellen Tabuverletzungen des theoretischen Über-Ich, um die Furcht, als theoretisch naiv und postmetaphysisch unversiert zu gelten. Noch immer gibt es in zahlreichen Disziplinen ein informelles Denkverbot hinsichtlich ontologischer Fragestellungen, das zwar angesichts der traditionellen metaphysischen Ontologie, etwa der Lehre von den Substanzen und ihren Akzidenzien, seine Berechtigung gehabt haben mag, aber längst kontraproduktiv geworden ist. Dies gilt namentlich für die von der Subjektphilosophie geprägten Geisteswissenschaften, darunter an erster Stelle die Philologien. Ihre Ontologieangst hat nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern die intellektuelle Kultur der vergangenen Jahrzehnte insgesamt geprägt. Ontologieangst bezeichnet über die moralische Angst hinaus die doppelte Angst vor dem Gegenstand in seiner Gegenständlichkeit – und die Versagensangst gegenüber der realen Gefahr,...

Erscheint lt. Verlag 6.4.2015
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Buchdruck • Handschrift • Literarische Moderne • STW 2147 • STW2147 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2147
ISBN-10 3-518-73998-0 / 3518739980
ISBN-13 978-3-518-73998-3 / 9783518739983
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