Mehr Licht (eBook)
544 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403071-5 (ISBN)
Olaf L. Müller, geboren 1966, studierte in Göttingen Philosophie und Mathematik (mit den Nebenfächern Informatik und Volkswirtschaftslehre). Nach Forschungsaufenthalten in Los Angeles (UCLA), Harvard und Krakau lehrte er in Göttingen und München (LMU). Seit 2003 ist er Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen: »Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben« (2015).
Olaf L. Müller, geboren 1966, studierte in Göttingen Philosophie und Mathematik (mit den Nebenfächern Informatik und Volkswirtschaftslehre). Nach Forschungsaufenthalten in Los Angeles (UCLA), Harvard und Krakau lehrte er in Göttingen und München (LMU). Seit 2003 ist er Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen: »Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben« (2015).
Müller zeichnet ein aufschlussreiches Bild von den Methoden und Denkweisen innerhalb der Naturwissenschaften […] Sein anschaulicher und prägnanter Stil macht die Lektüre zum Genuss.
Das Buch durchmisst anspruchsvolles Gelände. Dabei nimmt der Autor den Leser an die Hand, indem er jeden seiner Schritte kommentiert und reflektiert.
Auf jeden Fall regt das alles dazu an, über scheinbare Selbstverständlichkeiten nachzudenken – und eigene Experimente mit Spektren anzustellen.
Die Ergebnisse sind beachtenswert, vor allem dort, wo Müller die unausgesprochenen Grundannahmen Newtons analysiert.
Vorwort
Was wäre geschehen, wenn sich Newton und Goethe ans Prisma gestellt hätten, um zusammen zu experimentieren? Diese Frage hält mich seit fünfzehn Jahren auf Trab. Sie hat mein Leben verändert und zu diesem Buch geführt. Selbstverständlich habe ich keine definitive Antwort auf die Frage gefunden, doch die tentative Vermutung, zu der ich gelangt bin, ist beunruhigend genug: Möglicherweise sähe heute unsere Physik komplett anders aus.
Ich vermute und befürchte das, und mit beidem möchte ich Sie in diesem Buch konfrontieren. Ich werde einerseits zeigen, was für die Vermutung spricht und warum wir gleichwohl keine Chance haben, sie zu beweisen; sie wird auch am Ende meines Buchs in der Schwebe bleiben. Andererseits werde ich durchdenken, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Vermutung zuträfe. Verächter der Naturwissenschaft würden frohlocken, gewiss – aber in deren Gesellschaft möchte ich mich nicht begeben. Diese Leute machen es sich zu einfach. Ich werde dagegen vorführen, wie viel Respekt vor den Errungenschaften experimenteller Naturwissenschaft man aufbieten muss, um (im Verein mit Goethe) überhaupt seriöse Zweifel an ihrer Objektivität wecken zu können.
Ob meine Vermutung zutrifft, hängt von einigen unwesentlichen Faktoren ab, die man besser ausklammern sollte. So sind Goethe und Newton gleichermaßen dafür berüchtigt, dass sie keinen Widerspruch vertragen konnten – vor allem nicht in optischen Angelegenheiten. Schlimmer noch, beide haben sich im vergangenen Jahrhundert die unschmeichelhafte Diagnose eingefangen, verrückt gewesen zu sein; sie wurden auf die Couch gelegt, psychiatrisch durchleuchtet und posthum per Indizienbeweis für unzurechnungsfähig erklärt – ausgerechnet wegen ihrer auffälligen Empfindlichkeiten in optischen Streitfragen. Wären diese Diagnosen richtig, so hätte es wohl geknallt, wenn die beiden in der Dunkelkammer aufeinandergestoßen wären; wissenschaftlich wäre nichts weiter passiert. So gewendet ist das Gedankenspiel unergiebig. Interessant für Scotland Yard, uninteressant für Physik und deren Philosophie.
Daher möchte ich noch einmal neu ansetzen. Ich klammere etwaige Verrücktheiten oder Charakterschwächen der beiden Personen aus und frage unter psychologisch idealisierten Annahmen: Was wäre geschehen, wenn Goethe und Newton gemeinsam am Prisma gestanden hätten und wenn sie beide über ihren Schatten gesprungen wären? Was also, wenn sie einander ihre besten Experimente gezeigt und dann darüber rational diskutiert hätten? Auch darauf habe ich keine definitive Antwort, doch gewinnt meine beunruhigende Vermutung nun an Gewicht – vielleicht hätte Newton eine andere Optik geschrieben, und Goethes Farbenlehre wäre ungeschrieben geblieben. Und vielleicht wäre dann auch unsere heutige Physik ganz anders.
Ich finde dieses Gedankenspiel verstörend und reizvoll; es ist mehr als bloße Spielerei. Hinter dem Gedankenspiel steckt eine These, die ich in meinem Buch begründen werde. Sie lautet: Goethe und Newton waren einander in optischen Angelegenheiten ebenbürtig. Sie hätten sich gegenseitig ernst nehmen müssen, jeder hätte vom andern lernen können, und das Ergebnis ihres rationalen Gedankenaustauschs zur Optik wäre nicht auszudenken.
Da die naturwissenschaftlich informierte Welt Newton als den rechtmäßigen Gewinner im Streit über das Licht und die Farben ansieht, steckt in meiner These eine Provokation: Nicht nur hätte Goethe von Newton viel lernen können (geschenkt, geschenkt), sondern auch Newton von Goethe – und zwar, wie gesagt, in seinem ureigensten Metier, in der Optik. Goethe hat dort eine faszinierende Symmetrie entdeckt, die Newtons Argusaugen entgangen war und die das gesamte Reich der newtonischen Experimente verdoppelt. Hier in modernen Worten eine erste grobe Fassung dessen, worauf Goethes Entdeckung hinausläuft: Man nehme die Farbfotografie eines beliebigen Experiments von Newton; dann kann man auch das Negativ dieses Fotos als Bild eines Experiments deuten – und zwar eines Experiments, das wirklich so ausgeht, wie das Negativ zeigt. Jedes Experiment Newtons hat also ein komplementäres Gegenstück (das bei Newton und an unseren Schulen unter den Tisch fällt). Das Gegenstück entsteht aus dem ursprünglichen Experiment durch Umkehrung der Beleuchtung – durch Vertauschung der Rollen von Licht und Dunkelheit. Daher rede ich oft von einer Symmetrie zwischen Helligkeit und Finsternis. Diese Symmetrie ist bis heute nicht recht gewürdigt worden; vermutlich hat man sie noch nicht einmal richtig verstanden. Beides möchte ich mit meinem Buch ändern. Und da gutes Verständnis vor jeder Würdigung kommt, werde ich alles tun, um Ihnen Goethes Entdeckung Schritt für Schritt zu erklären. Irgendwelche besonderen Vorkenntnisse werden Sie für meinen Gedankengang nicht brauchen.
Falls sich jemand dafür interessiert, will ich kurz erzählen, wie ich auf diese Symmetrie gestoßen bin und was sie mit mir angestellt hat. Mit den Argumenten für sie und den Konsequenzen aus ihr hat das nichts zu tun; sie kommen erst nach diesem Vorwort auf den Tisch, und wer schon ungeduldig wird, sollte sofort in die Einleitung springen, die auf S. 27 beginnt.
Aus der Vorgeschichte dieses Buchs kann man allerlei über unser Universitätssystem lernen. Während ich noch befürchtete, mein späteres Leben außerhalb der Universität als Fahrradkurier fristen zu müssen, und kurz bevor unter Wissenschaftsfunktionären das makabre Wort von der Verschrottung einer ganzen Wissenschaftlergeneration – meiner Generation – kursierte, da sagten mir meine akademischen Karriereberater: Immer bloß systematisch mit Blick auf die Gegenwart zu philosophieren, reicht nicht; du musst wenigstens ein einziges philosophiehistorisches Thema besetzen, egal welches – sonst bist du verloren.
Da ich stets einen weiten Bogen um jede Form der Philosophiegeschichte gemacht hatte und daran nichts ändern wollte, legte ich mir einen kleinen Umweg in die Vergangenheit zurecht: Ich knöpfte mir Goethes Farbenlehre vor und plante, ihren physikalischen Teil (den ich nur vom Hörensagen kannte) als ernst gemeinten Beitrag zur Optik beim Wort zu nehmen, um ihn mit den Mitteln der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie ein für allemal zu erledigen. Das hatte bislang keiner gemacht und müsste ein Kinderspiel sein; dachte ich.
Das glatte Gegenteil ist passiert. Es war alles andere als ein Kinderspiel, und jetzt (anderthalb Jahrzehnte später) lege ich sogar eine Verteidigung der wichtigsten Idee Goethes zur Optik vor – ironischerweise mit den Mitteln der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie.
Auch mit ihren Mitteln: Wie Sie sehen werden, kommt die Wissenschaftsphilosophie erst im TEIL IV meines Buchs zu ihrem Recht – zuvor dominieren Experimente das Geschehen, und zwar im TEIL I Newtons Experimente, im TEIL II Goethes, im TEIL III die Rezeption dieser Experimente zu Goethes Lebzeiten sowie wichtige Experimente aus letzter Zeit.
Wie ist es dazu gekommen, dass ich nun das Gegenteil dessen vorlege, was ursprünglich geplant war? Einfach: Wissenschaftliche Forschung lässt sich nicht vorausplanen, geisteswissenschaftliche Forschung noch weniger – und philosophische schon gar nicht. In meinem Fall lief es so: Ich bin in Goethes Farbenlehre auf eine überraschende Serie von Experimenten gestoßen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Sie weisen allesamt in dieselbe Richtung und lassen sich mit Hilfe dessen auf den Punkt bringen, was ich Goethes Theorem nennen werde. Sie waren Goethe äußerst wichtig; ihr symmetrischer Witz ist aber von fast allen Kommentatoren übersehen oder unterschätzt worden – von Goethes Kritikern genauso wie von seinen Fans.
Beispielsweise ist dem Physik-Nobelpreisträger Max Born vor einem halben Jahrhundert folgendes Missgeschick passiert: In einem vielzitierten Vortrag aus dem Jahr 1962 äußerte er eine berechtigte Kritik an einigen Experimenten und Schlüssen, die sich bei Goethe in der Tat finden und auf die viele wohlmeinende Leser leider immer wieder zurückgekommen waren (die Kritik bezieht sich auf Goethes Kantenspektren, siehe Farbtafel 02 links und Mitte). Im Eifer des Gefechts übersah Born, dass Goethe in der Farbenlehre klar genug angedeutet hat, warum diese Kritik anhand anderer Experimente völlig in sich zusammenbricht (und zwar bei Experimenten mit Komplementärspektren, dazu Farbtafel 06). Peinlicher noch, die fraglichen Andeutungen Goethes sind wenige Jahre vor Borns Vortrag experimentell abgesichert worden; Born hätte es also besser wissen können – und bei sauberer Arbeitsweise auch wissen müssen.
Lang, lang ist’s her, mögen Sie vielleicht denken. Doch Borns Missgeschick ist kein Einzelfall und gehört nicht der Vergangenheit an. Im kürzlich erschienenen Goethe-Handbuch zur Naturwissenschaft kommt die allerwichtigste Einsicht aus Goethes Farbenlehre ebenfalls nicht vor; dort ist keine Rede von der durchgängigen Symmetrie zwischen Licht und Dunkel, die Goethe entdeckt hat. Und das Handbuch ist von exzellenten Kennern der gigantischen Literatur zu Goethes Naturwissenschaft zusammengestellt worden. (Der fragliche Band ist übrigens – abgesehen von diesem einen blinden Fleck – ganz vorzüglich. Er hat 1800 engbedruckte Spalten.)
Jetzt fragen Sie sicher: Wie ist das möglich? Wie können ganze...
Erscheint lt. Verlag | 26.3.2015 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik |
Geisteswissenschaften | |
Technik | |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • Experiment • Farbe • Farbenlehre • Finsternis • Goethe • Goethezeit • Isaac Newton • Johann Wolfgang Goethe • Licht • Neuzeit • Optik • Physik • Prisma • quine • Sachbuch • Streit • Weimar |
ISBN-10 | 3-10-403071-5 / 3104030715 |
ISBN-13 | 978-3-10-403071-5 / 9783104030715 |
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