Die Ambivalenz des Guten (eBook)

Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern

(Autor)

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2015 | 2. Auflage
936 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99654-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ambivalenz des Guten -  Jan Eckel
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Did emphasizing human rights prove to be truly an effective principle for fighting repression and violence - or did human rights remain only an unredeemed ideal put to use in the service of purely political interests?In the course of the 20th century human rights received international attention and became a hotly contested arena of political conflict. Untold groups and whole countries invoked the cause of helping others in order to protect themselves, their interests and their political goals. That caused this approach to become one of the decisive venues of international politics.This volume addresses for the first time the development of the international politics of human rights since the 1940s. It examines the many projects that were undertaken in the name of human rights, the dramatic controversies that ensued, and the ambivalent consequences that this path had for the remainder of the 20th century. This is an important and indispensable book for our understanding of the history of the past century and for developing a competent political discussion in the future.

Prof. Dr. Jan Eckel ist seit Oktober 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.

Prof. Dr. Jan Eckel ist seit Oktober 2016 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen.

Prolog
Internationale Menschenrechtspolitik vor 1945?
Die Frage der »Vorgeschichte« als historiographisches Problem


Wann aber sollte man mit der Darstellung einsetzen? Die Frage der »Vorgeschichte« der internationalen Menschenrechtspolitik, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte, verdiente ein umfangreiches Kapitel; man könnte sogar ein eigenes Buch über sie schreiben. Würde das den Rahmen dieser Studie sprengen, so sind einige grundlegende Betrachtungen gleichwohl nötig, um das Thema historisch zu situieren. Sie sollten jedoch nicht lediglich aufzeigen, welche historischen Ausdrucksformen sich der Vorgeschichte zurechnen lassen, und welche nicht. Vielmehr gilt es grundlegender darüber zu reflektieren, wie sich das entscheiden läßt – das heißt, es gilt die Frage der Vorgeschichte als ein historiographisches Problem zu begreifen. Dabei reduziert sich die Bedeutung früherer Episoden selbstverständlich nicht darauf, in welchem Verhältnis sie zu der Menschenrechtspolitik standen, die sich seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts herausbildete. Darin liegt nur eine mögliche Frageperspektive, die für eine Studie zum 20. Jahrhundert allerdings wichtig ist.

Ihren Ausgang können die Überlegungen von den bisherigen Versuchen nehmen, die langfristige Geschichte der Menschenrechte zu rekonstruieren – und vor allem von deren Defiziten. Denn einige Modelle, die die Perspektive der historischen Literatur bislang bestimmt haben, erweisen sich als problematisch. Das trifft zunächst auf diejenigen, einleitend bereits angesprochenen Texte zu, die die Menschenrechtsgeschichte als einen großen, stetig vor sich hinfließenden Strom der Entwicklung darstellen, der in allen Epochen sehr eng verwandte oder sogar identische Phänomene hervorgebracht habe. Diese Sicht ebnet die zeitlichen Differenzen ein und trägt dem historischen Wandel, der sich über die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinweg vollzog, nicht genügend Rechnung. Ebenso unbefriedigend sind die rein ideengeschichtlichen Genealogien, die andere Autoren entworfen haben.1 Sie leiden an den Problemen, die jede Ideenhistorie beeinträchtigen, die nicht sozial- oder wahrnehmungsgeschichtlich rückgebunden ist. Auch wenn sie historische Gedankengebäude mitunter scharfsichtig sezieren, lösen sie doch den Gehalt religiöser, philosophischer, staats- oder rechtstheoretischer Vorstellungen zu stark von ihren historischen Verwendungsweisen ab. Dafür setzen sie Ideen, die unterschiedlichen Zeitschichten entstammen, in eine sehr enge Beziehung und vermitteln oft den Eindruck, diese bauten konsistent aufeinander auf. Schließlich konzentrieren sich diese Arbeiten auf einen Ausschnitt der Menschenrechtsgeschichte, nämlich auf Rechtsideen.2

Erscheinen diese beiden Vorgeschichtsmodelle entwicklungsgeschichtlich zu glatt, so ist der radikale Gegenentwurf eher noch weniger erhellend.3 Denn legt man die Geschichte vor dem 20. Jahrhundert als eine Art Nicht-Genealogie der Menschenrechte an – als den ausschließlichen Nachweis dessen, was sich nicht als menschenrechtlich verstehen läßt, wo Menschenrechte nicht entstanden, wer sie nicht vertrat –, dann schüttet man zwar das Bad der ahistorischen Teleologien aus, aber das Kind der Menschenrechtshistorie gleich mit.

Will man sich von diesen Sichtweisen lösen, so sollte man sich zunächst vor Augen halten, daß die Frage nach der Vorgeschichte eine fundamental retrospektive und damit auch eine konstruktivistische Operation ist: Man bestimmt ein historisches Phänomen zu einem gegebenen Zeitpunkt und untersucht dann frühere Phasen darauf hin, was es vorbereitet haben oder wo es schon ähnlich aufgetreten sein könnte. Der erste Schritt muß folglich sein, die einzelnen Bestandteile festzulegen, die den Komplex der internationalen Menschenrechtspolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausmachten. Dazu ist einleitend schon einiges gesagt worden. Als wesentlich erscheinen explizite Bezugnahmen auf den Menschenrechtsbegriff, vermeintlich selbstlose Hilfsaktionen für Menschen, die nicht der eigenen (sozialen, politischen, religiösen) Gruppe zugerechnet wurden, damit auch Formen der Solidarität, die den Nationalstaat transzendierten, völkerrechtliche Vorstellungen und die Politik internationaler Organisationen. Man könnte den Kreis sogar noch weiter ziehen und auch Gerechtigkeitsvorstellungen, Freiheitskämpfe, Praktiken des Selbstschutzes und den Gedanken der einen Menschheit einbeziehen. In jedem Fall eröffnet eine solche Bestimmung ein weites und schwer überschaubares Feld historischer Phänomene, die darauf hin zu befragen wären, ob sie etwas und was genau sie mit der internationalen Menschenrechtspolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu tun hatten. Dazu gehören etwa die Tötungsverbote, mit denen die alten Religionen das gesellschaftliche Zusammenleben zu regulieren versuchten, die Diskussion, ob Ureinwohner als Menschen zu betrachten seien, die spanische Theologen nach der Entdeckung Amerikas führten, Naturrechtstheorien, das humanitäre »Kriegsrecht«, wie es sich seit der Gründung des Roten Kreuzes und den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 entwickelte, der Einsatz für die Kolonialreform am Ende des 19. und die Kampagnen gegen die »Kongo-Greuel« am Anfang des 20. Jahrhunderts, die internationalen Reaktionen auf den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, das Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit – und anderes mehr.

Hat man sie einmal identifiziert, so besteht der zweite Schritt darin, diese Phänomene in ihrem historischen Kontext zu betrachten und auf diese Weise ihre zeitgenössische Bedeutung zu erschließen. Die Perspektive verschiebt sich damit von der »Geschichte der Menschenrechte« zu »Menschenrechten in der Geschichte«, wie es Michael Geyer formuliert hat.4 Nur auf diese Weise läßt es sich vermeiden, vorschnelle Bezüge zu späteren Äußerungen menschenrechtlicher Politik herzustellen und übermäßig gerade Linien zu ziehen. Drei Beispiele, die in der menschenrechtshistorischen Diskussion immer wieder als Referenzpunkte fungiert haben, sollen hier ausreichen, um anzudeuten, wie eine so begriffene Vorgeschichte der internationalen Menschenrechtspolitik aussehen würde: die Rechteerklärungen des Revolutionszeitalters, der Einsatz für die Abschaffung der Sklaverei sowie schließlich die sogenannten humanitären Interventionen des 19. Jahrhunderts.

Seit dem 16. und dem 17. Jahrhundert trat vermehrt eine säkularisierte, zum Teil auch vorpositiv gedachte Rechtsvorstellung zum Vorschein, die vom einzelnen Menschen ausging und darauf abzielte, seine Existenz zu sichern.5 Sie wurde in ganz unterschiedlichen Situationen artikuliert, stets sporadisch und weitgehend zusammenhanglos. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstand ein Rezeptionszusammenhang, in dem sich der Menschenrechtsbegriff, in diesem Sinn verstanden, verfestigte. Wie ein Fanal wirkte hier die Französische Revolution, die diesen Begriff weithin popularisierte und mit einer besonderen Aura versah. Das transatlantische Revolutionsgeschehen, das ja schon einige Jahre zuvor mit der Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien begonnen hatte, brachte noch ein weiteres historisches Novum: Denn die amerikanischen Siedler und die französischen Antimonarchisten etablierten die öffentliche Rechteerklärung als einen symbolischen Sprechakt, mit dem sich Gruppen als politische Gemeinschaft konstituierten.

Ein einheitliches politisches Modell entwickelte sich in der Revolutionsepoche gleichwohl nicht. Die verschiedenen Rechteerklärungen dieser Jahre dienten unterschiedlichen Zwecken. Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 etwa, zeitgenössisch eine marginale Äußerung, die sich erst seit dem frühen 19. Jahrhundert zu einem gleichsam sakralen Gründungsdokument entwickeln sollte, war im wesentlichen eine Liste von Beschwerden, die sich gegen den König von England richteten.6 Sie war nach Art der traditionellen Klageschriften verfaßt, und viele der Monita, die sie aufführte, waren schon gegen frühere englische Könige vorgebracht worden. Den Menschenrechtsbegriff verwandten die Autoren der Erklärung nicht. Sie rekurrierten jedoch auf naturrechtliche Ideen, wobei sie sich, aus einem reichhaltigen staatstheoretischen Schrifttum schöpfend, auf gedanklichen Linien bewegten, die zu dieser Zeit bereits konventionell waren. Der Rekurs auf das Naturrecht hatte einen spezifischen Sinn, denn er sollte die Trennung von der britischen Krone rechtfertigen und dadurch die Souveränität des neuen Staats begründen. »Regierungen werden eingesetzt«, hieß es in der Erklärung, um die »unveräußerlichen Rechte« wie »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück« zu sichern. Leiste die Regierung dies nicht, dann sei es »das Recht des Volkes, sie zu ändern oder abzuschaffen«. Die Intention des Dokuments war es nicht, individuelle Rechte festzuschreiben – welche es lediglich implizit aussprach. Diese Facette der Erklärung sollte erst in der Rezeption des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund rücken.

Die Federal Bill of Rights von 1789 dagegen, die später in Form der Ten Amendments in die Verfassung der Vereinigten Staaten inkorporiert wurde, gewährte einige individuelle Rechte. Doch war dies wiederum nicht ihr primärer Zweck. Die Federal Bill entstand als ein Kompromiß, der gedacht war, die tiefe politische Kluft zwischen den Föderalisten und den Anti-Föderalisten zu überbrücken und letztere in die neue Union zu integrieren. In erster Linie zielte sie folglich darauf ab, die Befugnisse der neuen Bundesregierung zu begrenzen und die Autonomie der einzelnen amerikanischen...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2015
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Geschichte /Zeitgeschichte • Globalgeschichte • Internationale Politik • Menschenrechte • Verstoß gegen Menschenrechte • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-647-99654-8 / 3647996548
ISBN-13 978-3-647-99654-7 / 9783647996547
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