Die Discorsi: Das Wesen einer starken Republik (eBook)
76 Seiten
e-artnow (Verlag)
978-80-268-2659-0 (ISBN)
Erstes Buch
Innere Politik
Das Auffinden neuer Einrichtungen und Staatsordnungen war bei der neidischen Menschennatur stets ebenso gefährlich wie das Entdecken unbekannter Meere und Länder, denn die Menschen neigen mehr zum Tadeln als zum Loben. Da es mir aber angeboren ist, stets ohne Rücksicht alles zu tun, was nach meiner Ansicht dem Gemeinwohl nutzt, habe ich einen Weg einzuschlagen beschlossen, der noch unbegangen ist und der mir gewiß Mühe und Beschwerden kosten wird, aber auch Lohn eintragen kann, falls man meine Bestrebungen mit Nachsicht beurteilt. Sollte dies Unterfangen durch die Armut des Geistes, die geringe Erfahrung in der Gegenwart, die schwache Kenntnis der Vergangenheit auch mangelhaft und wenig nutzbringend sein, so bahne ich damit doch einem andern den Weg, der mit mehr Talent, Beredsamkeit und Scharfsinn meine Absicht verwirklichen kann. Dies sollte mir, wo keinen Lohn, so doch auch keinen Tadel eintragen. Dieser erste Absatz fehlt in einigen älteren Ausgaben einschließlich der »Testina« (1550).
Ich sehe, wieviel Ehre man dem Altertum erweist, wie oft man, um nur dies Beispiel zu erwähnen, das Bruchstück einer alten Bildsäule zu hohem Preise kauft, um es zu besitzen, wie man sein Haus damit schmückt, es von den Künstlern nachahmen läßt, und wie diese dann eifrig bestrebt sind, es in allen ihren Werken anzubringen. Andrerseits sehe ich die kraftvollsten Unternehmungen der Geschichte, die Taten der alten Reiche und Republiken, der Könige, Feldherren, Bürger, Gesetzgeber und aller, die für ihr Vaterland gearbeitet haben, viel mehr bewundert als nachgeahmt. Ja man weicht überall derart von ihnen ab, daß uns von jener alten Tugend kein Hauch mehr geblieben ist. So muß ich mich denn zugleich wundern und betrüben, zumal ich sehe, wie man im bürgerlichen Rechtsstreit und bei Krankheiten immerfort auf die Urteile oder Heilmittel zurückgreift, die von den Alten gefällt oder verordnet wurden. Denn was sind die bürgerlichen Gesetze anderes als Urteilssprüche der alten Rechtsgelehrten, die, in ein System gebracht, das Muster unsrer jetzigen Rechtsprechung bilden? Ebenso ist die Heilwissenschaft nichts andres als die von den alten Ärzten gemachte Erfahrung, auf die die jetzigen ihre Wissenschaft gründen. Nichtsdestoweniger greift bei der Einrichtung der Republiken, der Erhaltung der Staaten, der Regierung der Reiche, der Einrichtung des Heerwesens und der Kriegführung, bei der Rechtsprechung über die Untertanen und der Erweiterung der Herrschaft kein Fürst oder Freistaat, kein Feldherr oder Bürger auf die Beispiele der Alten zurück.
Das kommt nach meiner Ansicht nicht sowohl von unsrer schwächlichen Erziehung noch von dem Schaden, den ehrgeiziger Müßiggang vielen Ländern und Städten der Christenheit zugefügt hat, als vielmehr von dem Fehlen jeder wahren Geschichtskenntnis, da man beim Lesen der Geschichte weder ihren Sinn begreift, noch den Geist der Zeiten erfaßt. Zahllose Leser finden nur Vergnügen daran, die bunte Mannigfaltigkeit der Ereignisse an sich vorüberziehen zu lassen, ohne daß es ihnen einfällt, sie nachzuahmen. Sie halten die Nachahmung nicht nur für schwierig, sondern für unmöglich, als ob Himmel, Sonne, Elemente und Menschen in Bewegung, Gestalt und Kräften anders wären als ehedem.
Von diesem Irrtum möchte ich die Menschen befreien, und darum habe ich es für nötig gehalten, über alle Bücher des Titus Livius, die uns die mißgünstige Zeit nicht geraubt hat, das niederzuschreiben, was ich auf Grund alter und neuer Begebnisse zu ihrem besseren Verständnis beizutragen vermag, damit die Leser dieser Betrachtungen den Nutzen daraus ziehen können, dessentwegen man Geschichtskenntnis erwerben soll. Für diesen Gedanken vgl. Polybios I, 1, II, 56,12, III, 131; Diodor I, 1. Das Unternehmen ist schwierig, aber mit Hilfe derer, die mich ermutigt haben, diese Last auf mich zu nehmen, glaube ich es doch so weit zu bringen, daß einem andern nur noch ein kurzer Weg bis zum Ziele bleibt.
Erstes Kapitel
Vom Ursprung der Städte im allgemeinen und der Entstehung Roms.
Liest man die Urgeschichte Roms, wie es gegründet wurde und welches seine Gesetzgeber waren, so wundert man sich nicht, daß sich jahrhundertelang so hohe Tugend in dieser Stadt erhielt und daß aus ihr allmählich ein Weltreich entstand. Um zunächst von ihrem Ursprung zu reden, schicke ich voraus, daß alle Städte entweder von Eingeborenen der Gegend oder von Fremden erbaut werden.
Das erste tritt ein, wenn die Bewohner sich infolge ihrer zerstreuten Siedlungsweise nicht sicher fühlen. Wegen der Lage der Wohnorte oder der geringen Kopfzahl kann nicht jeder für sich dem Angriff eines Feindes standhalten; auch können sie sich im Fall eines feindlichen Angriffs nicht rasch genug zur Verteidigung sammeln. Geschähe es aber auch rechtzeitig, so müßten viele ihre Wohnsitze verlassen, und diese fielen dann rasch ihren Feinden zur Beute. Um diesen Gefahren zu entgehen, ziehen sie von selbst oder auf Veranlassung eines, der bei ihnen in besonderem Ansehen steht, an einem ausgesuchten Ort zusammen, wo sie bequemer leben und sich leichter verteidigen können. Derart entstanden unter vielen andern Städten Athen und Venedig. Ersteres wurde unter der Führung des Theseus von den zerstreuten Bewohnern aus ähnlichen Gründen erbaut. Venedig entstand, als sich viele Leute auf einige Inseln an der Spitze des Adriatischen Meeres geflüchtet hatten, um den ewigen Kriegen zu entgehen, die in Italien nach dem Untergang des römischen Reiches durch die fortwährenden Barbareneinfälle ausbrachen. Diese Flüchtlinge begannen miteinander ohne einen besonderen Fürsten zu leben, der ihnen Einrichtungen gab; sie schufen sich selbst die Gesetze, die ihnen zu ihrer Selbsterhaltung geeignet erschienen. Das gelang aufs beste, dank der langen Ruhe, die ihnen ihre Lage gab; denn das Meer verwehrte den Zugang, und die Völker, die Italien verheerten, hatten keine Schiffe, um sie anzugreifen. So konnte sich Venedig aus ganz kleinen Anfängen zu seiner jetzigen Größe erheben.
Im zweiten Falle wird eine Stadt von Fremden erbaut, und zwar entweder von freien Männern oder von abhängigen. Dahin gehören die Kolonien, die von einer Republik oder von einem Fürsten angelegt werden, um sich der überschüssigen Menschen zu entledigen, oder um ein neu erobertes Gebiet ohne Kosten zu sichern. Viele solcher Städte hat das römische Volk in allen Teilen seines Reiches erbaut. Oder sie werden von einem Fürsten gegründet, nicht zum Wohnsitz, sondern zu seinem Ruhme, wie die Stadt Alexandria von Alexander dem Großen. Da aber diese Städte nicht freien Ursprungs sind, so machen sie selten so große Fortschritte, daß sie zu Hauptstädten eines Reiches emporsteigen. In ähnlicher Weise wurde auch Florenz erbaut, sei es durch die Soldaten des Sulla, sei es von den Bewohnern der Berge von Fiesole, die sich im Vertrauen auf den langen Frieden, der mit Oktavian in die Welt kam, in der Arnoniederung ansiedelten. Da es aber unter römischer Herrschaft entstand, konnte es sich in den ersten Zeiten nur so weit ausdehnen, als es ihm die Gefälligkeit der Kaiser erlaubte.
Frei sind die Städtegründer, wenn ein Volk unter einem Herrscher oder selbständig neue Wohnsitze aufsucht, weil es durch Krankheit, Hunger oder Krieg zum Verlassen der Heimat gezwungen ist. Solche Völker lassen sich entweder in den Städten nieder, die sie in den eroberten Ländern finden, wie die Juden unter Moses, oder sie erbauen neue, wie die Römer unter Aeneas. In diesem Falle zeigt sich die Leistung des Erbauers und das Glück seiner Schöpfung. Je größer der Mann, um so wunderbarer erscheint das Gelingen. Seine Größe erkennt man an zweierlei: an der Wahl des Ortes und an seiner Gesetzgebung.
Die Menschen arbeiten entweder aus Not oder aus eignem Antrieb, und zwar zeigt sich da die größere Arbeitsamkeit, wo die Arbeit am wenigsten von unserm Belieben abhängt. Es fragt sich also, ob es nicht besser wäre, Für diesen Gedanken vgl. Herodot IX, 122. zur Städtegründung unfruchtbare Gegenden zu wählen, wo die Menschen mehr zur Arbeit gezwungen sind und sich weniger dem Müßiggang ergeben können, somit desto einträchtiger leben, da sie bei der Armut der Gegend weniger Anlaß zu Zwistigkeiten haben. So war es bei Ragusa Ragusa an der dalmatinischen Küste, eine altgriechische Kolonie, wurde nach dem Avareneinfall von 656 als Republik neu gegründet. Es stand seit 1204 unter der Schutzherrschaft Venedigs mit ähnlicher Verfassung wie dieses und wurde 1453 den Türken tributpflichtig. und bei vielen andern, an ähnlichen Orten erbauten Städten. Nun wäre eine solche Wahl ohne Zweifel die klügste und nützlichste, wenn die Menschen sich mit dem Ihrigen begnügten und nicht andern gebieten wollten. Da sie sich aber nur durch Macht sichern können, so muß man durchaus die unfruchtbaren Gegenden meiden und sich an den fruchtbarsten Orten niederlassen, wo man sich dank der Ergiebigkeit des Bodens ausbreiten und nicht nur jeden Angreifer abwehren, sondern auch jeden niederwerfen kann, der der eignen Ausbreitung entgegentritt. Was aber den Müßiggang betrifft, zu dem eine günstige Lage verleiten kann, so müssen die Einwohner durch Gesetze zu den Pflichten gezwungen werden, zu denen sie die Lage nicht zwingt. Hier muß man die weisen Gesetzgeber nachahmen, die in den lieblichsten und fruchtbarsten Ländern gewohnt haben, wo die Menschen leicht träge und zu jeder männlichen Anstrengung untauglich werden: um der Gefahr des Müßigganges infolge des milden Himmelsstrichs vorzubeugen, nötigten sie die zum Kriegsdienst...
Erscheint lt. Verlag | 30.11.2014 |
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Übersetzer | Friedrich Von Oppeln-Bronikowski |
Verlagsort | Prague |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Politische Theorie | |
Schlagworte | Boccaccio • Dante • Der Fürst • Rousseau • Staatstheorie • Titus Livius |
ISBN-10 | 80-268-2659-0 / 8026826590 |
ISBN-13 | 978-80-268-2659-0 / 9788026826590 |
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