Begrenzte Abhängigkeit

Wirtschaft' und 'Politik' im 20. Jahrhundert

(Autor)

Buch | Softcover
444 Seiten
2015
Campus (Verlag)
978-3-593-50289-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Begrenzte Abhängigkeit - Stefan Scholl
65,00 inkl. MwSt
Historische Politikforschung
Über kaum ein gesellschaftliches Verhältnis wird so viel und so heftig gestritten wie über jenes zwischen Wirtschaft und Politik. Dies hat nicht zuletzt die jüngste Finanzkrise wieder belegt. Wie viele und welche politischen Eingriffe verträgt die Wirtschaft? Gibt es einen»Primat der Ökonomie« über die Politik? Wie lässt sich das richtige Verhältnis der beiden Bereiche zueinander festlegen? Das Buch unternimmt einen kritischen, historisch gesättigten Einblick in diesen Diskurs und zeigt, wie sich vom 19. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre im Sprachgebrauch von Unternehmerverbänden und liberalen Ökonomen und Politikern ein Grundmuster der »begrenzten Abhängigkeit« von Wirtschaft und Politik herausbildete.

Stefan Scholl lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Siegen.

Inhalt

I. Einleitung9
1. Fragestellung11
2. Diskursanalyse und Historische Semantik17
3. Forschungsstände und Anknüpfungspunkte22
4. Gang der Untersuchung32

II. Historische Grenzziehungen zwischen 'Wirtschaft' und 'Politik' - ein einführender Überblick35
1. 'Oikos' und 'Polis' in der Antike36
2. Grenzen der Erlaubtheit des Ökonomischen im Mittelalter39
3. 'Ökonomie' im Namen des Staates - 17./18. Jahrhundert40
4. Die Einführung der "Herrschaft der politischen Ökonomie" - 18./19. Jahrhundert45
5. Ökonomen und ökonomische Diskurse im 19. Jahrhundert53
5.1. Bewahrungen des Politischen in der deutschen Nationalökonomie53
5.2. Depolitisierungsversuche: 'Wissenschaft' und 'Politik'60
5.3. Grenzverschiebungen: Beobachtungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik um die Jahrhundertwende70

III. 'Wirtschaft' und 'Politik' als Antipoden in der Weimarer Republik79
1. Neue Verknüpfungen und alte Trennungsversuche: Bestimmungen des Wandels von Wirtschaft und Politik81
1.1. Dominanz des Ökonomischen als Hoffnung und Gefahr83
1.2. Trennung von Ökonomie und Politik?88
1.3. Was ist das Schicksal: Wirtschaft oder Politik?93
1.4. Pejorative Semantiken: 'Politisierung', 'Parteipolitik' und 'Politiker'100
2. Nationalökonomie und Wirtschaftsverbände als Fürsprecher 'der Wirtschaft' gegenüber 'der Politik'106
2.1. Die akademische Nationalökonomie: 'Wirtschaft', 'Wissenschaft' und 'Politik'106
2.2. Unternehmerschaft und 'Politik'112
3. Debattenschwerpunkte119
3.1. 'Politische' Diskussionen über die Wirtschaftsordnung: 'Gemeinwirtschaft', 'Sozialisierung', 'freie Wirtschaft'120
3.2. Betriebsrätegesetz, 'Wirtschaftsdemokratie' und Reichswirtschaftsrat126
3.3. 'Politische Eingriffe': Finanz-, Sozial- und Lohnpolitik141
3.4. Internationale 'Politik' als Hindernis für eine Rückkehr zur Weltwirtschaft157
4. Die Weltwirtschaftskrise als Kulminationspunkt der Grenzziehungskämpfe164
4.1. Krisendeutungen: Wirtschaftsversagen oder Politikversagen165
4.2. Entwicklungsnarrative zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik171

IV. 'Primat der Politik' und 'Politisierung der Wirtschaft'? Bestimmungen des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik im Nationalsozialismus180
1. Vage wirtschaftspolitische Programmatik bis 1933185
2. Gegen die 'falsche' Ordnung von Wirtschaft und Politik: Kritik an Weimarer Republik und Liberalismus193
3. Proklamierte Neuordnung: Politikbegriffe und das Ökonomische197
3.1. Der 'Primat der Politik' vor 'der Wirtschaft'197
3.2. Der nationalsozialistische Politikbegriff201
3.3. Die Stellung 'der Wirtschaft' im Verhältnis zur 'Politik'205
4. Entwürfe einer 'politischen' Wirtschaftslehre212
5. Einschränkungen: Eigendynamik des Ökonomischen und Beibehaltung liberaler Wirtschaftssemantiken219

V. 'Wirtschaft' und 'Politik' im "Goldenen Zeitalter": Zwischen Interdependenz, Harmonie und gegenseitiger Gefährdung227
1. Interdependenz und gegenseitige Beeinflussung230
1.1. Wirtschaftliche Freiheit als Fundament politischer Demokratie: Das Interdependenzpostulat des Ordoliberalismus231
1.2. Diagnostizierte Wechselwirkungen und postulierte Notwendigkeiten der Zusammenarbeit aus Unternehmersicht243
2. Internationale Verknüpfungen: Europäische Integration und Ost-West-Handel266
2.1. Europa als 'politische' Union oder als Wirtschaftsraum?266
2.2. 'Politisierung' des internationalen Handels im Zeichen des Kalten Krieges?276
3. Gefährdungspotenziale 'der Politik' gegenüber dem Ökonomischen281
3.1. Bedeutungszunahme des Politischen und Politisierungsanzeigen282
3.2. 'Politische' Fehltritte auf 'ökonomischen' Bereichen291
3.3. Ausgemachte Verursacher der 'Politisierung': Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Mitbestimmung303
3.4. Konjunktursteuerung und Planung - möglichst ohne 'Politik'316

VI. Ausblick: Problematisierungen des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik "nach dem Boom"336
1. Niedergangsnarrative und Problemdeutungen von 'Wohlfahrtsstaat' und 'Demokratie'338
2. Ausrichtung von Politik an 'wirtschaftlichen' Imperativen und die aufkommende Kritik an der 'Ökonomisierung des Politischen'351

VII. Schlussbetrachtung359

VIII. Quellen- und Literaturverzeichnis367
1. Seriell ausgewertete Periodika367
2. Gedruckte Quellen368
3. Literatur414

IX. Danksagung444

»Mit seiner Studie hat Stefan Scholl einen Grundstein gelegt für eine Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts. Statt vorauszusetzen, dass es sich bei 'Wirtschaft' und 'Politik/Staat' um zwei genuine Gegenstandsbereiche handelt, die spezifischen Eigengesetzlichkeiten folgen, spürt er den diskursiven Grenzkämpfen vom späten 18. bis ins späte 20. Jahrhundert nach.« Wencke Meteling, H-Soz-Kult, 26.05.2016»Scholls Buch zeigt beispielhaft, was eine kulturgeschichtlich erweiterte Politikgeschichte leisten kann und erinnert zugleich den Leser daran, auch in aktuellen Debatten kritisch zu hinterfragen, wer welche Begriffe wie besetzt und vor allem welche Interessen hinter solchen Grenzziehungen stehen.«, Politische Studien, 05.12.2016

»Mit seiner Studie hat Stefan Scholl einen Grundstein gelegt für eine Diskursgeschichte des 20. Jahrhunderts. Statt vorauszusetzen, dass es sich bei ›Wirtschaft‹ und ›Politik/Staat‹ um zwei genuine Gegenstandsbereiche handelt, die spezifischen Eigengesetzlichkeiten folgen, spürt er den diskursiven Grenzkämpfen vom späten 18. bis ins späte 20. Jahrhundert nach.« Wencke Meteling, H-Soz-Kult, 26.05.2016

»Scholls Buch zeigt beispielhaft, was eine kulturgeschichtlich erweiterte Politikgeschichte leisten kann und erinnert zugleich den Leser daran, auch in aktuellen Debatten kritisch zu hinterfragen, wer welche Begriffe wie besetzt und vor allem welche Interessen hinter solchen Grenzziehungen stehen.«, Politische Studien, 05.12.2016

I. Einleitung

"[W]hat is at stake is not the degree of effectiveness of a fully constituted object - the economy - on the rest of the social development, but to determine the extent to which the economy is constituted as an autonomous object, separated by a boundary of essence from its factual conditions of existence."

"More fundamentally, political economy requires analysis of the way in which ideas about what constitutes the political and the economic have emerged historically."

Als die Finanz- und Wirtschaftskrise im Herbst 2008 erstmals verstärkt medial thematisiert wurde, kam es geradezu explosionsartig zu einer Verdichtung der Überlegungen und Äußerungen zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik: "Die Botschaft heißt: Wir haben das Sagen! Die Politik hat sich ermannt. Sie hat in dieser Krise zu neuem Selbstbewusstsein gegenüber der Wirtschaft gefunden." Die Politik "reiß[e] das Gesetz des Handelns nun wieder an sich", denn "die Krise ist generell der Augenblick des Politischen, und das Politische ist der Ort demokratisch legitimierter Entscheidung. Den wiederzugewinnen, darauf kommt es an." IG-Metall-Vorsitzender Berthold Huber forderte den "Primat der Politik über die Ökonomie" ebenso wie Franz Müntefering oder Jürgen Rüttgers. Nach dem jahrelangen Vorherrschen einer 'naiven Marktgläubigkeit' wurde nun weithin die 'Rückkehr der Politik' diagnostiziert.
Ungeachtet der relativen Unbestimmtheit dieser Äußerungen trafen sie schnell auf konkurrierende Deutungsmuster. "Politik" habe zwar "verantwortungsbewusst gehandelt, als sie mit erheblichen Staatseingriffen das Finanzsystem stabilisierte", doch sie befinde sich in der Gefahr, "jene Maßlosigkeit an den Tag zu legen, die sie zu Recht Teilen der Bankelite vorwirft." Man befürworte zwar ausdrücklich den "Primat der Politik", so der Chefsvolkswirt der Deutschen Bank, Thomas Mayer, allerdings müsse die Politik sich diesen Primat gegenüber den Märkten durch Nachhaltigkeit erst verdienen. Die Rede von einer 'Rückkehr der Politik' wurde deshalb teilweise heftig kritisiert: "Politik als Retter - Wer rettet uns vor der Politik?", fragte etwa Frank Schirrmacher. Der Vorsitzende der Ludwig-Erhard-Stiftung, Hans Dieter Barbier, wies in Bezug auf das erste Konjunkturprogramm der deutschen Bundesregierung darauf hin, dieses sei "mal wieder ganz und gar politisch geraten", und gab zu bedenken, dass "'das Politische' so gut wie immer seinen ökonomischen Preis" habe. Überhaupt, so der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, habe man das Gefühl, "als ob alle Dämme brechen, eine Inflationierung des Denkens einsetzt. Es scheint eine Politisierung in die Wirtschaft einzuziehen, die letztlich wirtschaftliche Maßstäbe aushöhlt." Sehr schnell kam im Verlauf der Krisendiskussionen zudem die Rede von der politischen Alternativlosigkeit gegenüber den Kräften der Märkte wieder auf. Speziell am Beispiel der Hilfe für die besonders krisengeplagten EU-Länder wurde darauf insistiert, "dass sich die Marktkräfte langfristig durch politisch verordnete Notoperationen nicht domestizieren lassen. Die Politik hat keine Chance gegen den Markt." Als Korrektiv (besonders umverteilungs-)'politischer' Auswüchse galten die Märkte manchen gar schon länger als "fünfte Gewalt" in der Demokratie. Angela Merkels auf einer Pressekonferenz im September 2011 geäußerte Hoffung, "die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist", ist daher nur ein prominentes Beispiel eines Politikbegriffs, dem es in erster Linie darum geht, das Vertrauen der Märkte zu erlangen.

1. Fragestellung

Diese wenigen aktuellen Belegstellen deuten an, dass die Frage nach dem richtigen Verhältnis von Wirtschaft und Politik Bestandteil heftiger Deutungskämpfe und Auseinandersetzungen ist. Dass dies auch in der Vergangenheit der Fall war, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung: Es soll danach gefragt werde

Erscheint lt. Verlag 11.5.2015
Reihe/Serie Historische Politikforschung ; 23
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 142 x 214 mm
Gewicht 540 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeine Geschichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • Eingriffe • Politik • Wirtschaft
ISBN-10 3-593-50289-5 / 3593502895
ISBN-13 978-3-593-50289-2 / 9783593502892
Zustand Neuware
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