Jubelschreie, Trauergesänge (eBook)

Deutsche Befindlichkeiten
eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403242-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Jubelschreie, Trauergesänge -  Günter de Bruyn
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Günter de Bruyns meisterhafte Essays und Reden über »Deutsche Befindlichkeiten« ?Jubelgesänge, Trauergesänge? versammelt Essays und Reden zur Situation der Zeit nach 1989 und zur deutschsprachigen Literatur von Theodor Fontane bis Martin Walser. Ein einzigartiges Kompendium der Traditionen und Tendenzen des Deutschland von heute.

Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Titel »Der neunzigste Geburtstag« (2018). Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow.Literaturpreise:Heinrich-Mann-Preis (1964)Lion-Feuchtwanger-Preis (1982)Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (1987)Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1989)Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1990)Ehrendoktor der Universität Freiburg (1990)Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1993)Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1996)Brandenburgischer Literaturpreis (1996)Jean-Paul-Preis (1997)Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, Berlin (1998)Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2000)Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2000)Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2002)Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2006)Hanns Martin Schleyer-Preis (2007)Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (2008)Preis für deutsche und europäische Verständigung der Deutschen Gesellschaft e.V. (2010)Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2011)

Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Titel »Der neunzigste Geburtstag« (2018). Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis (1964) Lion-Feuchtwanger-Preis (1982) Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (1987) Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1989) Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1990) Ehrendoktor der Universität Freiburg (1990) Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1993) Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1996) Brandenburgischer Literaturpreis (1996) Jean-Paul-Preis (1997) Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, Berlin (1998) Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2000) Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2000) Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2002) Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2006) Hanns Martin Schleyer-Preis (2007) Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (2008) Preis für deutsche und europäische Verständigung der Deutschen Gesellschaft e.V. (2010) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2011)

Zur Zeit


Zur Erinnerung


Brief an alle, die es angeht

Dieser Brief, sehr geehrte Herren, möchte Sie dazu bringen, die Arbeit des Umwälzens, mit der Sie beschäftigt sind, für einige Minuten ruhen zu lassen und den stetig nach vorn, in die Zukunft, gerichteten Blick kurz zurück oder nach innen zu wenden – sich also zu erinnern, bevor das Vergessen beginnt. Nicht die Forderung nach moralischer Bilanzierung (die unnötig ist: man kennt ja die bekannten Namen der Schuldigen) und auch nicht das zu erwartende Unverständnis der Nachgeborenen (die wieder einmal nicht werden begreifen können, daß die gleichen Funktionäre, Richter, Offiziere oder Zensoren, die das Unrecht begangen hatten, nach der Wende Gelegenheit bekamen, es auch zu verfluchen), gibt mir Anlaß, diese ungewöhnliche Bitte zu äußern, sondern, viel simpler, die reine Neugierde, die man, erhabener, auch Chronistenpflicht nennen könnte, käme dabei nicht, wie zu vermuten, etwas anderes, Ihnen Angenehmeres, heraus.

Jeder von uns, so geht meine Überlegung, der die letzten vierzig Jahre (oder Teile von ihnen) zwischen Oder und Elbe verbrachte, bemerkt, wenn er sich umwendet, um seinen Lebensweg überblicken zu können, Punkte oder ganze Regionen, in denen er oder seine Umgebung zum Spielball von Kräften wurde, die sich ihm nie oder nur in Verkleidung zeigten, so daß er, auch wenn er darüber nicht psychisch erkrankte, noch immer im Dunkeln tappt. Da diese heimlichen oder auch unheimlichen Mächte, die unser aller Leben bewegten oder tangierten, keine transzendenten, sondern höchst irdische waren, brauchte es Menschen, um sie wirksam werden zu lassen, also uns alle vielleicht, ganz sicher aber Sie, meine Herren.

Um Ihnen für das, was ich meine, nicht Beispiele aus dritter Hand zu geben, die Legion wären und leicht, da sie von Rufmorden, Verschleppungen, Inhaftierungen handelten, den Charakter von Horrorvisionen annähmen, will ich nur welche aus einem normalen, unsensationellen, von keiner Verfolgung oder Verhaftung gestörten, fast zurückgezogenen Leben wählen, aus meinem eignen nämlich, bei denen ich mich für jede Einzelheit auch verbürgen kann. Da erging, um ganz vorn und bei so Harmlosem, wie der Literatur, anzufangen, in den frühen fünfziger, also den erinnerungsvergoldeten Aufbau-Jahren aus dem Dunkel, das bisher nie gelichtet wurde, der nicht öffentlich gemachte, aber genau überwachte Befehl an die öffentlichen Bibliotheken, alle pazifistische, kosmopolitische und dekadente Literatur auszusondern und in die Papiermühlen zu bringen, eilig, unbürokratisch und rücksichtslos. Da es sich dabei vorwiegend um Literatur handelte, die die Nazijahre, in denen sie hatte verbrannt werden sollen, nur durch Zufall oder lebensgefährdendes Verantwortungsbewußtsein überstanden hatte, waren die Skrupel, Hitlers Vernichtungswerk an Freud, Hodann, Döblin, Gide, Kafka, Berta von Suttner oder der frühen sowjetischen Literatur fortzusetzen, bei den Bibliothekaren so groß wie die Angst vor den Strafen, die unter der Hand angedroht wurden, und von denen die fristloser Entlassung die mindeste war. Die Erfahrensten, weil sie am besten die Schande als solche erkennen konnten, wechselten damals (es war in Berlin) den Sektor, die anderen versuchten, soweit ihr Wissen zur Reifung eines schlechten Gewissens reichte, zu sabotieren, meist sicher so hilflos wie ich. Unter der nicht widerlegbaren und immer anfechtbaren Maxime: besser ich Guter sitze, wendig, geduckt, auf dem wichtigen Posten, als daß ein Böser größeres Unheil anrichten könnte, ließ ich mich in eine der Kommissionen beordern, die die Aufgabe hatten, Kommandos wie Kollektivbeschlüsse erscheinen zu lassen, mit dem Ergebnis, daß meine Einsprüche nur falschgesetzte Kommas verhindern konnten, auf einem der vertraulich zu behandelnden Rundschreiben aber, neben vielen anderen, auch mein Name erschien. Die Schamröte von damals will noch heute nicht weichen. Der vergebliche Versuch, mich vor der höheren Instanz in mir zu rehabilitieren, bestand darin, für den Reißwolf bestimmte Bücher vom Henkerkarren weg zu entwenden. Bis auf die dreibändige Erstausgabe von Musils »Mann ohne Eigenschaften«, die ich, weil ich sie, jung und dumm wie ich war, nicht zu schätzen wußte, verschenkte, stehen (das ist eine Selbstanzeige) die »Drei Soldaten« und »Manhattan Transfer«, der »Clerambault« und der »Wolf Solent«, »Im Westen nichts Neues« und »Berlin Alexanderplatz« noch immer, stumm anklagend, in meinem Regal.

Fehlte in diesem Beispiel dem unheilstiftenden Dunkel die Personifizierung, so handelte es sich im nächsten, bei dem es mir schwerfällt mich kurzzufassen, nur um eine bestimmte, für mich leider namenlose Person. Ich will ihr, um sie für sich selbst erkennbar zu machen, den Namen Vernehmer geben – in der Hoffnung, daß dieser Herr sich, falls er diesen Brief liest, dabei an meinen Freund Herbert erinnert, von dem er sich fast zwölf Monate lang diese Anrede gefallen ließ. Herbert, der Untersuchungshäftling, der ein Jahr in einer Einzelzelle verbringen mußte, der dann, um dem Staat Kosten zu ersparen, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, anschließend nach Haus gehen konnte und drei Tage und Nächte bei mir saß, um seine Isolationserlebnisse loszuwerden, war nämlich Pazifist, und zwar einer von der Sorte, die sich, ob es verboten ist oder nicht, zu ihrer Haltung bekennt. Aufgefordert, den ihn täglich verhörenden Anonymus mit seinem militärischen Rang anzureden, verweigerte er das mit Hinweis auf seinen Antimilitarismus, der solcherart Hierarchie zu respektieren verbiete, schlug dafür vor, ihn Herr Vernehmer zu nennen, und dieser ging darauf ein. Es war ihm nämlich an gutem Einvernehmen mit seinem Gesprächspartner in Anstaltskleidung gelegen, weil sich bei ihm das Ziel, Verborgenes über die Strafsache (die für Herbert Geheimnis blieb) zu erforschen, mit dem, etwas dazuzulernen, verband. Herbert, der mitteilungsbedürftig war, durfte reden und reden; besonders gewünscht waren berufliche, also bibliothekarische Fragen, und Herr Vernehmer machte sich nicht nur, was sozusagen natürlich war, bei Personen (meine darunter) Notizen, sondern war auch an Systematik, Freihandaufstellung, Fernleihe und Bibliographie interessiert. Da er eine rasche Auffassungsgabe hatte, war er terminologisch bald sicher und konnte geschickt über Ausleihtechniken und Katalogfragen diskutieren, so daß ihm Herbert am Haftende guten Gewissens versichern konnte: er habe den einjährigen Lehrgang seines zweiten Bildungsweges mit Erfolg absolviert. Da bald darauf mein Freund seinem Leben ein Ende setzte (woran ich nicht ausschließlich den beiden Kollegen des Herrn Vernehmer, die ihn regelmäßig in seiner Wohnung vertraulich besuchten, die Schuld geben möchte), und ich den Beruf wechselte, ist keinem von uns der Bildungsbeflissene in seinem zu erwartenden Doppelberuf mehr begegnet. Ich aber versuchte seitdem immer, wenn ich Bibliotheken betrat, ihn herauszufinden, und frage mich heute, da seine eine, die geheime, Dienststelle aufgelöst wurde, ob man den Armen mit nur einem Gehalt einfach sitzen läßt.

Den beiden Herren meines dritten Beispiels, die sich, viel später, Eintritt in meine Wohnung verschafften, kann ich die Intelligenz eines Herrn Vernehmer zu meinem Bedauern nicht nachsagen; ehrlich gesagt, war ich über die Mißachtung, die sich in dieser Botenwahl ausdrückte, gekränkt. Sie gaben vor, alles über meine Arbeiten, die sie angeblich liebten, zu wissen, waren auf ihre Rolle als Liebhaber der Literatur aber so mangelhaft vorbereitet, daß es peinlich war, ihnen zuzuhören, und erst als meine Weigerung, das Gespräch fortzusetzen, ihre schmierige Freundlichkeit zu schmieriger Drohung machte, wirkten sie echt. Um den Komödienstoff, den sie mir boten, hier nicht zu verschenken, will ich von den Verwicklungen, die sie heraufbeschworen, um erneut in meine Wohnung gelangen zu können, schweigen und von ihnen nur das erzählen, was meine Forderung nach Gründung eines Zentralen Erinnerungsbüros (ZEB) unterstützt. Ihre Taktik, mich zu Auskünften gefügig zu machen, bestand in der Warnung vor der geschickten Taktik des Gegners, der angeblich im Begriff war, Auskünfte von mir zu erpressen; meine Taktik, sie loszuwerden, aber gründete sich in der Herstellung von Öffentlichkeit. Da die Überrumplung in meiner Wohnung am Vorabend eines Kongresses erfolgte, konnte ich morgens schon mehreren Kollegen von meinen ungebetenen Gästen erzählen und dabei die Beobachtung machen, daß das mir Widerfahrene durchaus keine Auszeichnung war. Einige von ihnen konnten sich nämlich für meinen Bericht mit einem ähnlichgelagerten revanchieren, zwei reagierten mit sichtlich gespieltem Erstaunen und die anderen verstummten ängstlich und wandten sich ab. Obwohl die Abwimmlung meiner unsensiblen Beschützer von nun an nur telefonisch erfolgte, bekam ich sie in den nächsten Jahren, wenn auch niemals wieder als Paar, noch mehrmals zu sehen. Der an Körperlänge und Geisteskraft Ärmere von ihnen, der sich in meiner Wohnung Herr Grube genannt hatte, gehörte in literarischpolitischen Spannungszeiten, wenn es darauf ankam, den Schriftstellern Angst zu machen, zu jenen müßig vor Haustüren umherschlendernden oder in Autos sitzenden Zivilisten, deren Mimik, der jeweiligen Lage entsprechend, unauffällig-gelangweilt oder gewalttätigdrohend war. Dem Längeren und Hübscheren von ihnen, der sich mit dem Namen Wolf bei mir eingeführt hatte, begegnete ich am Rande einer Literaturgroßveranstaltung wieder und später anläßlich eines Buchbasars. Als ich mich auf der Suche nach einer Toilette in einen der Nebenräume verirrte, fand ich dort ihn und einen Verbandsfunktionär im Gespräch. Die leise Verlegenheit, die sich bei meinem Gruß auf seinem Gesicht...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2014
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Anglistik / Amerikanistik
Schlagworte Deutschland • Essays • Reden • Traditionen
ISBN-10 3-10-403242-4 / 3104032424
ISBN-13 978-3-10-403242-9 / 9783104032429
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