Ein seltsames Wesen (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-03561-4 (ISBN)
Robert R. Provine ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of Maryland Baltimore County. Er ist weltweit der einzige Wissenschaftler, der sich ganz auf die Erforschung merkwürdiger menschlicher Verhaltensweisen spezialisiert hat.
Robert R. Provine ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of Maryland Baltimore County. Er ist weltweit der einzige Wissenschaftler, der sich ganz auf die Erforschung merkwürdiger menschlicher Verhaltensweisen spezialisiert hat.
Das Weltuntergangsgähnen
Das Weltuntergangs-Gähnen ist die übermächtige Mutter allen Gähnens: Es hat eine so starke Ansteckungskraft, dass es uns mit seinem Zauber völlig hilflos macht, zu Sklaven unwiderstehlicher Gähnanfälle. Mein Motiv, ein Weltuntergangs-Gähnen zu schaffen, war nicht Größenwahn, sondern wissenschaftliches Interesse. Wenn man ein Super-Gähnen gestalten will, muss man im ersten Schritt die Bestandteile des normalen Gähnens verstehen, welche üblicherweise die Ansteckung verursachen, und dann ihren Effekt so weit wie möglich verstärken. Die Idee geht auf einen Monty-Python-Sketch zurück: Darin kommt ein Weltuntergangs-Witz vor, der so wirksam ist, dass er bei den Feinden auf dem Schlachtfeld tödliche Lachanfälle hervorruft – deshalb wird die Pointe des Witzes bis unmittelbar vor dem Einsatz weggelassen, damit nicht die eigenen Streitkräfte seiner verheerenden Wirkung ausgesetzt sind. Ein als Waffe eingesetztes Weltuntergangs-Gähnen ist zwar für die Kriegsführung ein ähnlich fragwürdiges Hilfsmittel, aber der Gedanke eines künstlichen, übermäßig wirksamen (supranormalen) Reizes ist in der Tierverhaltensforschung gut bekannt und diente unserer Arbeit als Leitfaden. Die Möglichkeit, einen wirksamen Gähnreiz zu erzeugen, ist vor allem deshalb so nützlich, weil man dazu das Übertragungsmittel des Reizes kennen muss.
Bevor man ein Manhattan-Projekt zur Entwicklung eines Weltuntergangs-Gähnens in Gang setzen kann, muss die Volksweisheit bestätigt werden, dass Gähnen tatsächlich ansteckend ist. Zu diesem Zweck wurden Versuchspersonen einer fünf Minuten langen Videosequenz ausgesetzt, in der eine Aufnahme von einem gähnenden erwachsenen Mann dreißigmal wiederholt wurde; alle zehn Sekunden wurde eine sechs Sekunden lange Aufnahme des Gähnens präsentiert.1 Das Ergebnis: Gähnen ist eindeutig ansteckend. Die Versuchspersonen, die das Gähnen sahen, gähnten mehr als doppelt so häufig (55 Prozent) als jene, die zur Kontrolle eine vergleichbare Abfolge von aufgezeichnetem Lächeln sahen (21 Prozent). Diese Ergebnisse sind sehr zuverlässig; dass das Gähnen bei mehr als der Hälfte der Beobachter ansteckend wirkt, wurde auch in anderen Labors bestätigt.
Gähnen ist kein einfacher Reflex wie das Zucken des Knies, das nahezu augenblicklich auf den Reiz (ein leichter Schlag auf die Kniesehne) folgt und proportional zur Stärke des Reizes ist. Das künstlich hervorgerufene, ansteckende Gähnen zeigte sich während des Testzeitraumes von fünf Minuten nach einer unterschiedlich langen Latenzphase, und wenn es auftrat, hatte es eine typische Intensität, das heißt, Form und Stärke wiederholten sich regelmäßig.1 Das Gähnen ist in seiner Struktur komplexer als klassische Reflexe wie der Kniesehnenreflex, setzt langsamer und zu variableren Zeitpunkten ein und dauert auch länger. In der Sprache der klassischen Verhaltensforschung ist das Gähnen ein stereotypes Verhalten (Instinktverhalten), das durch den Schlüsselreiz des beobachteten Gähnens ausgelöst wird. (Ich bevorzuge zur Beschreibung solcher motorischer Muster den Begriff «stereotypes Verhalten» gegenüber «Instinktverhalten», weil es eher an eine starke, zentrale Tendenz denken lässt und nicht an die nicht haltbare Vorstellung von Unveränderlichkeit.) Vom Gähnen als motorischem Ablauf wird später noch genauer die Rede sein.
Die Natur tut alles für eine möglichst große Ansteckungskraft. Unsere Abfolge von aufgezeichneten Gähnreizen erwies sich unabhängig davon, ob die Aufnahmen aufrecht, seitlich gekippt oder kopfstehend vorgeführt wurden, als gleichermaßen wirksam – der Gähn-Detektor des Gehirns ist nicht richtungsspezifisch.3 Außerdem ist er weder von Farben noch von Bewegung abhängig: Die Videoaufnahmen wirkten ebenso stark, wenn sie in Farbe oder kontrastreichem Schwarzweiß gezeigt wurden, und das Gleiche galt, wenn der normalerweise bewegte Reiz in Form eines unbewegten, im Gähnen begriffenen Gesichts präsentiert wurde.
Als Nächstes wurde untersucht, welche Merkmale ein gähnendes Gesicht haben muss, damit es das Gähnen auslöst.3 Dies war ein entscheidender Schritt für die Gestaltung des Weltuntergangs-Gähnens, und dabei ergaben sich einige große Überraschungen. Die meisten Menschen nehmen fälschlich an, der aufgerissene Mund sei das charakteristische Kennzeichen des Gähnens. Als aber bewegte, gähnende Gesichter so verändert wurden, dass der Mund verdeckt war, lösten sie das Gähnen ebenso wirksam aus wie das vollständige Gesicht (Abbildung 1). Der Befund, dass Gesichter ohne Mund eine solche Wirkung haben können, war anfangs beunruhigend. War in der großen, arbeitsintensiven Studie mit 360 Teilnehmern etwas schiefgegangen? Wie ich aber zu meiner Erleichterung feststellen konnte, zeigten auch ergänzende Daten, dass der Mund nicht notwendig war. Der körperlose, gähnende Mund löst das Gähnen nicht wirksamer aus als das zur Kontrolle dienende Lächeln. Ohne den Zusammenhang des gähnenden Gesichts ist der offene Mund ein zweideutiger Reiz – er könnte ebenso gut schreien oder singen. Das auffälligste Merkmal des gähnenden Gesichts hat also nicht die ansteckende Wirkung. Unser neurologischer Gähn-Detektor spricht vielmehr auf den Gesamteindruck an; dazu gehören die zusammengekniffenen Augen, nicht aber besondere Gesichtszüge. Weitere Hinweise dürften in der Dehnung und Haltungsänderung des Oberkörpers liegen (beispielsweise in der Schrägstellung des Kopfes und dem Heben der Schultern).
Anstandsdamen, aufgepasst: Unser zufälliger Beitrag zur Etiketteforschung legt die Vermutung nahe, dass das Bedecken des Mundes mit der Hand eine höfliche, aber nutzlose Geste ist: Es wird nicht verhindern, dass das eigene Gähnen sich auf die Anwesenden überträgt. Außerdem gibt unsere Beobachtung einen Hinweis darauf, warum es Künstlern so schwerfällt, gähnende Menschen in Gemälden und Karikaturen darzustellen – das Klischee vom aufgerissenen Mund reicht als Merkmal nicht aus. Um die Zweideutigkeit zu vermindern, werden deshalb häufig ergänzende Hinweise aus dem Zusammenhang gegeben, beispielsweise eine Hand, die den Mund abdeckt, oder ausgestreckte Arme. Manche Comic-Zeichner geben auch angesichts der Herausforderung auf und zeichnen ein «GÄHN» in einer Sprechblase über den Kopf der Figur.
Gähnen ist so wirksam, dass schon der Gedanke daran es verursachen kann. Tatsächlich löste ich damit in mehreren Studien das Gähnen aus: 92 Prozent der Versuchspersonen gähnten innerhalb von 30 Minuten, nachdem sie daran gedacht hatten.1, 4
Abb. 1: Welche Merkmale eines Gesichts lösen das ansteckende Gähnen aus? Versuchspersonen, die Videoaufnahmen gähnender Gesichter sahen, gähnten ungefähr doppelt so häufig wie solche, die ein Lächeln zu sehen bekamen. Als mit bearbeiteten Bildern geprüft wurde, welche Teile des Gesichts die stärksten Auslöser sind, erwies sich der geöffnete Mund nicht als besonders wirksamer Reiz. Dagegen lösten gähnende Gesichter mit verdecktem Mund das Gähnen ebenso häufig aus wie unveränderte Bilder. (Aus: Provine 2005.)
Und wie viele Leser mittlerweile bemerkt haben dürften, wird das Gähnen auch ausgelöst, wenn man etwas darüber liest. Im Test berichteten 28 Prozent der Versuchspersonen, die fünf Minuten lang einen Artikel über das Gähnen gelesen hatten, sie hätten während dieser Zeit selbst gegähnt; in einer Kontrollgruppe, die einen Artikel über Schluckauf gelesen hatte, waren es dagegen nur elf Prozent (Abbildung 2). Wurde das Kriterium auf diejenigen erweitert, die eigenen Angaben zufolge entweder gegähnt oder die Versuchung zu gähnen empfunden hatten, wuchs der Abstand zwischen Gähnen und Schluckauf auf 76 gegenüber 24 Prozent, also auf das Dreifache.
Abb. 2: Menschen, die über das Gähnen lesen, gähnen selbst häufiger, als wenn sie etwas über den Schluckauf lesen, einen anderen unbewussten Akt. Schluckauf ist nicht ansteckend. Gähnen und Schluckauf (Kapitel 1 und 8) unterliegen einer sozialen Hemmung; in diesem Punkt unterscheiden sie sich von vielen, aber nicht allen unbewussten Handlungen. (Aus: Provine 2005.)
Durch die Entdeckung, dass es ein so breites Spektrum von Auslösern für das Gähnen gibt, verminderte sich meine Begeisterung für das Projekt des Weltuntergangs-Gähnens erheblich. Man kann eine ganze Berufslaufbahn damit zubringen, die lange Liste der möglichen Reize, die zum Gähnen führen, zu erforschen. Kein einzelner Reiz hat ein so großes Potenzial, dass man ihn zum Auslöser des Super-Gähnens weiterentwickeln könnte, und die maximale Häufigkeit, mit der das Gähnen kurzfristig ausgelöst wird, liegt bei 50 Prozent. Ich konnte also nicht wie geplant das perfekte, unwiderstehliche Gähnen hervorrufen, indem ich einfach einen Mund von der richtigen Form und Größe konstruierte, der sich genau mit der richtigen Geschwindigkeit öffnete und schloss.5 Verringert wurde meine Enttäuschung allerdings durch die Erkenntnis, dass wir bereits über eine recht gute Annäherung an das Weltuntergangs-Gähnen verfügen. Sogar das Geräusch des Gähnens, das einem Seufzer ähnelt, kann sowohl bei Menschen mit normaler Sehfähigkeit6 als auch bei Blinden7 das Gähnen auslösen, und neutrale Reize können durch Verknüpfung die Eigenschaft eines Gähn-Auslösers erlangen. Mein Ruf als...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2014 |
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Übersetzer | Dr. Sebastian Vogel |
Zusatzinfo | Zahlr. s/w Ill. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Natur / Technik ► Naturwissenschaft |
Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
Technik | |
Schlagworte | Anthropologie • Empathie • Erbrechen • Essen • Evolution • Evolutionspsychologie • furzen • Homo sapiens • Instinkt • Kitzeln • Kratzen • Lachen • Mensch • Neurowissenschaft • Orgasmus • pränatale Entwicklung • Psychologie • Schluckauf • Sex • soziales Wesen • Weinen |
ISBN-10 | 3-644-03561-X / 364403561X |
ISBN-13 | 978-3-644-03561-4 / 9783644035614 |
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