Gibt es alles oder nichts? (eBook)

Eine philosophische Detektivgeschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2014 | 1. Auflage
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02801-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gibt es alles oder nichts? -  Jim Holt
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Es ist die schwierigste und zugleich faszinierendste Frage aller Zeiten: Warum gibt es unser Universum? Weshalb ist es entstanden? Wieso existieren Materie und Bewusstsein, Raum und Zeit? Lässt sich überhaupt eine Antwort finden - oder ist das nur der Traum eines verrückten Philosophen? Jim Holt hat sich auf die Suche nach einer Lösung gemacht. Wie ein Detektiv geht er Spuren nach, spekuliert, kombiniert, experimentiert und sucht wichtige Zeugen auf: Physiker, Theologen, Philosophen und nicht zuletzt John Updike. Am Ende seiner spannenden Erkundung steht die Frage nach unserem eigenen Platz im Universum, nach unserer Existenz und unserer Endlichkeit.

Jim Holt ist Autor und Essayist. Er schreibt über Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften vor allem für die New York Times Book Review und die New York Review of Books. Sein Buch «Gibt es alles oder Nichts?» war in den USA ein Bestseller und wurde in 18 Sprachen übersetzt, die New York Times zählte es überdies zu den fünf besten Sachbüchern des Jahres.

Jim Holt ist Autor und Essayist. Er schreibt über Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften vor allem für die New York Times Book Review und die New York Review of Books. Sein Buch «Gibt es alles oder Nichts?» war in den USA ein Bestseller und wurde in 18 Sprachen übersetzt, die New York Times zählte es überdies zu den fünf besten Sachbüchern des Jahres. Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u.a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt. 

1 Dem Geheimnis trotzen


And this grey spirit, yearning in desire

To follow knowledge like a sinking star

Beyond the utmost bound of human thought.

 

Alfred Lord Tennyson, Ulysses

Ich möchte Sie ernsthaft vor dem Versuch warnen, für alles einen Grund und eine Erklärung finden zu wollen … Das zu versuchen und tatsächlich den Grund für alles zu entdecken, ist sehr gefährlich, denn es bringt nur Enttäuschung und Unzufriedenheit, zerrüttet Ihren Geist und macht Sie unglücklich.

 

Königin Viktoria, in einem Brief an ihre Enkelin Prinzessin Viktoria von Hessen, 22. August 1883

… wer war denn das erste Wesen im Weltraum bevor … sonst jemand da war der alles geschaffen hat er denn ah das wissen sie nicht genauso wenig wie ich …

 

James Joyce, «Mollys Monolog», Ulysses

Ich erinnere mich noch lebhaft an den Augenblick, als mir das Geheimnis der Existenz zum ersten Mal zu Bewusstsein kam. Es war Anfang der siebziger Jahre. Ich war ein Milchbart und Möchtegernrebell an einer Highschool im ländlichen Virginia. Wie es Milchbärte und Highschool-Rebellen gelegentlich tun, hatte ich angefangen, mich für Existenzialismus zu interessieren, eine Philosophie, die offenbar Anlass zu der Hoffnung gab, meine jugendlichen Unsicherheiten zu beseitigen oder sie zumindest auf eine höhere Ebene zu verlagern. Eines Tages ging ich in die Bücherei des örtlichen Colleges und schaute mir einige eindrucksvoll wirkende Folianten an: Sartres Das Sein und das Nichts und Heideggers Einführung in die Metaphysik. Auf den einleitenden Seiten letzteren Buches mit dem vielversprechenden Titel begegnete ich zum ersten Mal der Frage: «Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?»[1] Ich weiß noch, wie mir dieser Satz mit seiner Kompromisslosigkeit, Reinheit, schieren Wucht die Sprache verschlug. Hier war die absolut ultimative Warum-Frage, die eine hinter all den anderen, die die Menschheit jemals gestellt hatte. Wo war sie, so fragte ich mich, während meines ganzen, zugegebenermaßen kurzen, geistigen Lebens gewesen?

Es heißt, die Frage «Warum ist etwas und nicht nichts?» sei so tiefsinnig, dass sie nur einem Metaphysiker einfallen könne, aber auch so einfach, dass nur ein Kind auf sie zu kommen vermöge. Damals war ich zu jung, um ein Metaphysiker zu sein. Aber warum war mir die Frage als Kind nicht eingefallen? In der Rückschau liegt die Antwort auf der Hand. Meine natürliche metaphysische Neugier war durch meine religiöse Erziehung erstickt worden. Von frühester Kindheit an wurde mir gesagt – von meiner Mutter und meinem Vater, von den Nonnen, die mich in der Grundschule unterrichteten, von den Franziskanermönchen im Kloster jenseits des Hügels –, dass Gott die Welt erschaffen habe, und zwar aus dem vollkommenen Nichts. Deshalb gab es die Welt. Deshalb gab es mich. Warum es Gott selbst gab, ließ man ein wenig im Ungewissen. Anders als die Welt, die Er so großzügig erschaffen hatte, war Gott ewig. Außerdem war er allmächtig und auch in jeder anderen Hinsicht von unendlicher Vollkommenheit. Deshalb brauchte er vielleicht keine Erklärung für seine Existenz. Da er allmächtig war, hätte er sich aus eigener Kraft zur Existenz bringen können. Er war, um es lateinisch zu sagen, causa sui.

Das ist die Geschichte, die man mir als Kind erzählte. Es ist die Geschichte, die eine große Mehrheit der Amerikaner noch glaubt. Für diese Gläubigen gibt es kein «Geheimnis der Existenz». Wenn man sie fragt, warum es das Universum gibt, sagen sie, es existiert, weil Gott es geschaffen hat. Wenn man sie fragt, warum es Gott gebe, hängt die Antwort davon ab, ob sie theologisch mehr oder weniger bewandert sind. Sie sagen vielleicht, Gott sei selbst verursacht, das heißt, er sei der Grund seines eigenen Seins, seine Existenz sei in seiner Essenz enthalten. Oder sie sagen, dass Menschen, die so gottlose Fragen stellen, in der Hölle schmoren würden.

Aber stellen Sie sich vor, Sie fordern Nichtgläubige auf zu erklären, warum es eine Welt und nicht einfach nichts gibt. Wahrscheinlich werden sie Ihnen keine sehr befriedigende Antwort geben. In den gegenwärtigen «Gotteskriegen» pflegen die Verteidiger des Glaubens das Geheimnis der Existenz als Keule gegen ihre neoatheistischen Widersacher einzusetzen. Richard Dawkins, der Evolutionsbiologe und Berufsatheist, hat es satt, von diesem angeblichen Geheimnis zu hören. «Immer und immer wieder», sagt Dawkins, «kamen meine theologischen Freunde auf den Punkt zurück, dass es einen Grund haben müsse, warum es etwas und nicht nichts gibt.»[2] Christopher Hitchens, ein weiterer unermüdlicher Missionar des Atheismus, musste sich von seinen Gegnern häufig die gleiche Frage gefallen lassen. «Wenn Sie nicht bereit sind, Gottes Existenz anzuerkennen, wie können Sie dann erklären, dass es die Welt gibt?», wurde Hitchens von einer etwas aggressiven rechtsgerichteten Fernsehmoderatorin mit einem Anflug von Triumph in der Stimme gefragt. Eine andere Moderatorin, dieses Mal vom Typ langbeinige Blondine, kam ebenso auf den religiösen Aspekt zu sprechen. «Woher kam das Universum?», fragte sie Hitchens. «Die Vorstellung, dass das alles aus dem Nichts kam, scheint doch Logik und Vernunft zu widersprechen. Was war vor dem Urknall?» Worauf Hitchens erwiderte: «Ich würde nur zu gerne wissen, was vor dem Urknall war.»

Welche Optionen haben wir, das Geheimnis der Existenz zu lösen, wenn wir auf die Gotteshypothese verzichten? Vielleicht nehmen Sie ja an, dass die Naturwissenschaften eines Tages nicht nur erklären können, wie die Welt ist, sondern auch, warum sie ist. Das zumindest hofft Dawkins, der die Antwort von der theoretischen Physik erwartet. Er schrieb: «Vielleicht erweist sich die ‹Inflation›, die in der Physik für den ersten winzigen Sekundenbruchteil im Dasein des Universums postuliert wird, bei genauerer Untersuchung als kosmologischer Kran, der neben Darwins biologischem Kran bestehen kann.»[3]

Stephen Hawking, der ein tatsächlich praktizierender Kosmologe ist, wählte einen anderen Ansatz. Hawking entwickelte ein Modell, in dem das Universum, obwohl endlich in der Zeit, in sich geschlossen ist, ohne Anfang und Ende. In diesem «Ohne-Grenzen-Modell» sei, so erklärt er, kein Schöpfer erforderlich, ob von göttlicher oder anderer Art. Doch selbst Hawking bezweifelt, dass seine Gleichungen das Geheimnis der Existenz vollständig lüften können. «Wer bläst den Gleichungen den Odem ein und erschafft ihnen ein Universum, das sie beschreiben können?», klagt er. «Warum muss sich das Universum all dem Ungemach der Existenz unterziehen?»[4]

Schauen wir uns das Problem der wissenschaftlichen Option etwas genauer an. Das Universum enthält alles, was physikalisch vorhanden ist. Eine wissenschaftliche Erklärung muss eine physikalische Ursache irgendeiner Art aufweisen. Doch jede physikalische Ursache ist definitionsgemäß Teil des Universums, das erklärt werden soll. Folglich muss jede rein wissenschaftliche Erklärung der Existenz des Universums zum Zirkelschluss werden. Selbst wenn wir mit etwas sehr Kleinem beginnen – einem kosmischen Ei, einer winzigen Quantenfluktuation des Vakuums, einer Singularität –, beginnen wir immer noch mit etwas, nicht mit nichts. Die Naturwissenschaften mögen in der Lage sein, nachzuvollziehen, wie sich das gegenwärtige Universum aus einem frühen Zustand physikalischer Wirklichkeit entwickelt hat, und den Prozess sogar bis zum Urknall zurückzuverfolgen. Doch letzten Endes trifft die Wissenschaft auf eine Mauer. Sie kann nicht erklären, wie der physikalische Urzustand aus dem Nichts entstanden ist. Darauf jedenfalls beharren die hartgesottenen Verteidiger der Gotteshypothese.

Wenn die Naturwissenschaften früher außerstande zu sein schienen, Naturerscheinungen zu erklären, waren die Gläubigen rasch zur Stelle und füllten die Lücke mit einem göttlichen Schöpfer – nur um in Verlegenheit zu geraten, wenn es der Wissenschaft schließlich doch gelang, eine Erklärung zu finden. Beispielsweise glaubte Newton, Gott sei erforderlich, um von Zeit zu Zeit kleine Korrekturen an den Bahnen der Planeten vorzunehmen, damit sie nicht zusammenstießen. Doch ein Jahrhundert später bewies Laplace, dass die Physik durchaus in der Lage war, die Stabilität des Sonnensystems zu erklären. Als Napoleon ihn fragte, wo Gott sich in seinem Himmelsschema befinde, antwortete Laplace bekanntlich: «Je n’avais pas besoin de cette hypothèse.» – «Ich habe diese Hypothese nicht gebraucht.» In jüngerer Zeit behaupteten Gläubige, die blinde natürliche Selektion allein könne die Entstehung komplexer Organismen nicht erklären, daher müsse Gott den Evolutionsprozess «lenken» – ein Argument, das von Dawkins und anderen Darwinisten schlüssig – und frohgemut – widerlegt wurde.

Solche auf einen «Gott der Lücken» rekurrierenden Argumente fallen in der Regel, wenn sie biologische oder astrophysikalische Details betreffen, auf ihre frommen Urheber zurück. Doch bei der Frage «Warum ist etwas und nicht nichts?» meinen diese Gläubigen, sich auf festerem Boden zu bewegen. «Offenbar kann keine wissenschaftliche Theorie die Kluft zwischen dem absoluten Nichts und einem vollständig entwickelten Universum überbrücken», schreibt Roy Abraham Varghese, ein Parteigänger der Religion mit wissenschaftlichen Neigungen. «Diese höchste und letzte Frage ist eine...

Erscheint lt. Verlag 18.7.2014
Übersetzer Hainer Kober
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Schlagworte Adolf Grünbaum • Alex Vilenkin • Andrei Linde • Astronomie • Astrophysik • Buddhismus • David Deutsch • Derek Parfit • Einführung • Entstehung des Universums • Gedankenexperimente • Gottesbeweis • inflationäres Universum • John Leslie • John Updike • Kosmologie • Lebensfragen • Multiversum • Raum und Zeit • Richard Swinburne • Roger Penrose • Schöpfung oder Zufall • Steven Weinberg • Theologie • Unendlichkeit • Urknall • Weltformel
ISBN-10 3-644-02801-X / 364402801X
ISBN-13 978-3-644-02801-2 / 9783644028012
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