Der Sohn des Nachbarn

Nachkriegszeit in Bottrop. Die neunjährige Liesel spielt vor dem Haus ihrer Eltern, als ein Fremder sie anspricht. Er sei ein ehemaliger Nachbar und habe als Jude 1938 nach Palästina fliehen müssen. "Die Nazis kamen in der Kristallnacht nach oben in unsere Wohnung und zerrten unseren kleinen Sohn aus seinem Kinderwagen heraus. Und sie warfen unser Kind auf der Rückseite des Hauses vom Balkon." Jetzt sei er zurückgekommen, um den Retter seines Sohnes zu finden. Für Liesel ist klar: Dieser Held konnte nur ihr verstorbener Vater gewesen sein, und so nimmt sie den Fremden mit in ihre Wohnung. Die Reaktion ihrer Mutter ist für Liesel unfassbar und der Beginn einer lebenslangen Suche nach dem Sohn des Nachbarn.

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"Der Sohn des Nachbarn" ist schonungslos. Liesel Appel lebt seit langem in der neuen Welt. Sie kann das aussprechen, was wir in der alten Welt sogar aus unseren Gedanken verbannen: die Schuld unserer Eltern und Großeltern und das Wissen um die Tricks, die sie uns zur Verdrängung vererbt haben. Liesel Appel erzählt von den "Verstrickungen" ihrer Familie, sie beschreibt Orte und nennt Namen, die es heute noch gibt. Liesel Appel schreibt über ihren Lebensweg; der war und ist nicht gerade; einer mit Tiefschlägen; mit plötzlichen Wendungen und Handlungsweisen, die sie manchmal selbst nicht begründen kann. So reist sie als 20-Jährige nach einer Totgeburt von London mit einem "angenommenen Mischlingskind" in die alte Heimat, um zu beweisen, was sie ihrer Mutter prophezeit hatte: "Ich heirate mal einen Neger." Beim Versuch, diese Fahrt zu beschreiben, versagt ihr die Stimme: "Ich erinnere mich nur noch, dass wir tränenüberströmt flohen, in einer Kirche in Essen endeten und ich den Pastor um eine Taufe für mein Baby bat." Liesel Appel lässt den Bereich Sex nicht aus; ganz im Gegenteil. Ich liebe die Szene, in der sie im Internat an einem Morgen zu ihrer Mitschülerin ins Bett steigt. Und die Autorin kann auch über sich selbst lächeln: In einer witzigen Passage beschreibt sie, wie der Putzfimmel ihrer Mutter ihr bis nach London folgt und sie auf dem Markt in Soho alles Mögliche an Reinigungsutensilien einkauft. Ich habe Liesel gefragt, ob der Tod ihres Vaters - im Urlaub am Strand der Nordsee, in ihrer Gegenwart - ein Selbstmord war oder nicht. Sie konnte es mir nicht sagen, aber ich meine, es aus dem, wie sie es beschrieben hat, für mich entnehmen zu können. Liesel schreibt über ihr Ruhrgebiet. Mit Wucht. Aber als Amerikanerin. Direkt und easy, ohne Ballast und scissors in the head. So, wie wir im Revier über uns nicht schreiben könnten. "Der Sohn des Nachbarn" liest sich spannend wie ein Roman - obwohl es keiner ist. (Werner Boschmann)