Drache und Federschlange
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16. August 1519: Hernán Cortés, begleitet von wenigen Hundert Soldaten, beginnt seinen Marsch nach Tenochtitlan, der Hauptstadt der Azteken. In der Folge gelingt es ihm in kürzester Zeit, das Reich Moctezumas zu erobern - dieses welthistorische Ereignis begründet die spanische Kolonialherrschaft in Amerika.
23. Januar 1520: Eine portugiesische Expedition, geleitet von Tomé Pires, bricht nach Nanking auf, um dort den chinesischen Kaiser Zhengde zu treffen. Ziel dieser Delegation ist es, das »Reich der Mitte« unter Kontrolle zu bringen - das akribisch vorbereitete Unternehmen scheitert jedoch kläglich und gerät rasch in Vergessenheit.
Serge Gruzinskis anregendes Buch schildert diese beiden Episoden der beginnenden europäischen Expansion, die zwar fast zeitgleich, jedoch höchst unterschiedlich erfolgreich verliefen. Einsetzend mit der Vorgeschichte beider Unternehmungen, zeigt er, warum sich die Europäer gegen den »Gelben Drachen« nicht durchsetzen konnten, das Reich der aztekischen »Federschlange« jedoch im Chaos der Ereignisse unterging.
Serge Gruzinski lehrt Geschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris sowie in Princeton. Der französische Historiker ist Experte für die Geschichte Lateinamerikas und die europäische Kolonialgeschichte.
Inhalt
Einleitung 13
Zwei ruhige Welten 17
Zwei Kaiser 18
China unter Zhengde, Mexiko unter Moctezuma 21
Zhongguo 22
Anahuac 26
Zwei Denkwelten 33
Die Öffnung zur Welt 36
Die Welt aus der Sicht der Pochtecas 36
Die Flotten des Kaisers 38
Die Grenzen der Kultur 39
Das Meer 41
Eine Geschichte mit feststehendem Ausgang? 44
Da die Erde rund ist 46
Parallelgeschichten 47
Verbundene Geschichten oder der Wettlauf
zu den Molukken 48
Der Präzedenzfall des Kolumbus 51
Ein Sprung ins Ungewisse? 53
Das Cathay des Marco Polo 54
Reisevorbereitungen 56
Malakka, die Drehscheibe Asiens 60
Wo liegt Neu-Indien? 61
Der Traum von Asien 64
Der Sprung ins Leere 65
Bücher und Briefe vom Ende der Welt 67
»Ihre Bücher sind wie die unsrigen« 67
»In China gibt es Buchdrucker« 69
Exotik und Orientalismus 70
Briefe aus China und Mexiko 74
Der Blick der anderen 78
Täuschung aus der Rückschau 80
Gesandtschaften oder Eroberungen? 82
Improvisation und Chaos 83
Ein hochfliegender Plan in Lissabon und Intrigen
in der Karibik 85
Das Asien der Gewürze anstelle der Neuen Welt 89
Die Portugiesen landen an Chinas Küste 92
Die Spanier landen an Mexikos Küste 95
Cortés' Eigenmächtigkeit und die Ziele der Portugiesen 99
Der Marsch auf Peking (Januar bis Sommer 1520) 102
Der Marsch auf Mexiko (August bis November 1519) 104
Die Entscheidung für die Maßlosigkeit 108
Stillstand hier wie dort 110
Die Begegnung mit den Kaisern 114
Der Zusammenprall der Kulturen 121
Unbehagliche Situationen 121
Der Tod der Kaiser 124
Das zweite portugiesische Desaster 128
Die Rache der Spanier 132
Der Zusammenprall der Zivilisationen 134
Die Bezeichnung der anderen 138
Eine merkwürdige Gedächtnislücke 138
Castilan! Castilan! 141
Barbaren oder Piraten? 143
Ungeheure göttliche Wesen 146
Die Hölle, das sind die anderen 148
Die Urbevölkerung benennen 150
Die Eindringlinge benennen 152
Kannibalische Indios und menschenfressende Portugiesen 153
Unsichtbare Portugiesen, exhibitionistische Kastilier 155
Die Macht der Kanonen 157
Die Artillerie der Eindringlinge 158
Piraterie der Chinesen 159
Eine Kanone für das Jenseits 161
Eine antiquierte Technik 164
Die Benennung der Dinge 166
Kulturen - opak oder transparent? 169
Die Erfahrung der Portugiesen und Spanier 169
Die Dolmetscher 175
Wie mit der Andersartigkeit umgehen? 178
Die Entschlüsselung der Gesellschaften 182
Die größten Städte der Welt 184
Geographie oder die Kunst der Spionage 184
Die größten Städte der Welt 188
Wie Lissabon oder Salamanca 191
Der Blick des Eroberers 197
Der postume Triumph der aztekischen Hauptstadt 198
Die Stunde des Verbrechens 202
Die Kunst, Gesellschaften zu zerschlagen 203
Der Vorteil der Waffen 208
Eroberungspläne 210
Die Stunde des Verbrechens oder der blutige Krieg 214
Die Nachkriegszeit in Kanton 215
Das koloniale Projekt 217
Die harte Schule der Kolonisation 219
Der Platz der Weißen 223
Die Sicht der Besiegten 223
Der Druck der Barbaren 226
Allergie gegenüber Fremden 228
Welchen Platz dem Fremden einräumen? 232
Jedem seine Nachkriegszeit 235
Die Brüder an der Küste 236
Raubzüge und Asiatisierung 239
Eine Mischlingsinsel 241
Das mexikanische Chaos 243
Sich amerikanisieren oder asiatisieren 246
Die Geheimnisse des Südmeers 248
China und die erste Weltumsegelung 248
Die spanischen Vorstöße 249
Das zweite Leben des Hernán Cortés 251
Die weltumspannenden Ambitionen des Cortés 255
»Vom Teufel aufgerichtete Hindernisse« 258
Der Vizekönig nimmt den Stab auf 262
China am Horizont 265
Der Weg ist frei 266
Die Demarkationslinie 267
Die spirituelle Aufgabe des Jahrhunderts 271
Ein vorgeschobener Stützpunkt 273
Wenn China erwacht 275
Wozu ein Krieg gegen China? 276
Der Krieg des Jesuiten 281
Die unerträgliche Dreistigkeit der Chinesen 282
»Die Wege des Krieges« 286
Wenn China erwacht 289
Etwas so Neues ... 291
Der Krieg gegen China findet nicht statt 295
Fazit: Eine globale Geschichte des Zeitalters
der Renaissance 298
Verschiedene »Modernen« 302
Wende nach Westen und Geburt des Westens 303
Anmerkungen 307
Literatur 330
Danksagung 341
Register 342
"...ein kühner Wurf..." Andreas Eckert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.2015
"Die Geburt des Westens aus dem Scheitern der Eroberung des Ostens: Weltpolitik einmal anders betrachtet." Martin Kugler, Die Presse, 22.06.2014
"'Drache und Feuerschlange' [kann] gerade hier nachdrücklich als Anregung empfohlen werden, die Epoche stärker als bisher auch in ihren weltweiten Bezügen zu betrachten." Sven Trakulhun, H-Soz-Kult, 25.01.2017
"Packend schildert der französische Historiker Serge Gruzinski in seinem Buch den Verlauf beider Unternehmungen, indem er sie als miteinander verflochtene Parallelgeschichte erzählt." Michael Kempe, Neue Zürcher Zeitung, 18.09.2014
"Kenntnisreich zeichnet der Autor ... die Anfänge der europäischen Welteroberung in Amerika und Asien nach.", VDI-Nachrichten, 04.07.2014
"...ein kühner Wurf..." Andreas Eckert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.06.2015
"Die Geburt des Westens aus dem Scheitern der Eroberung des Ostens: Weltpolitik einmal anders betrachtet." Martin Kugler, Die Presse, 22.06.2014
»›Drache und Feuerschlange‹ [kann] gerade hier nachdrücklich als Anregung empfohlen werden, die Epoche stärker als bisher auch in ihren weltweiten Bezügen zu betrachten.« Sven Trakulhun, H-Soz-Kult, 25.01.2017
"Packend schildert der französische Historiker Serge Gruzinski in seinem Buch den Verlauf beider Unternehmungen, indem er sie als miteinander verflochtene Parallelgeschichte erzählt." Michael Kempe, Neue Zürcher Zeitung, 18.09.2014
"Kenntnisreich zeichnet der Autor ... die Anfänge der europäischen Welteroberung in Amerika und Asien nach.", VDI-Nachrichten, 04.07.2014
Westwärts schweift der Blick Richard Wagner, Tristan und Isolde, I, 1 Für Agnès Fontaine Einleitung Andromache: Der trojanische Krieg findet nicht statt, Kassandra! Jean Giraudoux, Kein Krieg in Troja, I,1 Die Wege, die uns von Mexiko nach China - und zu diesem Buch - geführt haben, wurden von literarischen Werken gekreuzt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst worden sind. Lange haben wir erwogen, uns für dieses Buch von Jean Giraudoux zu dem Titel »Kein Krieg in China« inspirieren zu lassen, doch dann darauf verzichtet. Besser verstehen wir heute vielleicht die Welten, die Paul Claudel wieder zum Leben erweckt hat. In den vier Tagen seines Schauspiels Le Soulier de satin (1929, »Der seidene Schuh«) sprechen Personen miteinander, die aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengekommen sind. »Der Schauplatz dieser Handlung ist die Welt, und genauer das Spanien des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts«. Mit seiner »Verdichtung von Ländern und Zeitaltern« wollte Claudel keine Geschichtsschreibung vorlegen, sondern er versetzt uns in die Turbulenzen einer Globalisierung, die weder die erste noch die letzte war. Diese Globalisierung breitete sich im 16. Jahrhundert im Gefolge der portugiesischen und spanischen Expeditionen ziemlich rasch aus. Der aztekische Adler und der chinesische Drache waren die Ersten, die unter dem maßlosen Machthunger der Europäer zu leiden hatten. Die Globalisierung unterscheidet sich vom europäischen Expansionismus. Für Letzteren wurden technische, finanzielle und geistige Ressourcen eingesetzt und vor allem Menschen mobilisiert. Politische Ziele, wirtschaftliche Erwägungen und religiöse Bestrebungen spielten mehr oder weniger glücklich zusammen, um Seeleute, Soldaten, Geistliche und Händler tausende Kilometer fern der Iberischen Halbinsel um den ganzen Erdball zu schicken. Die portugiesische und spanische Expansion hat Kettenreaktionen ausgelöst und Schockwellen, die ganze Kulturen zum Einsturz gebracht haben. So geschah es jedenfalls in Amerika. In Asien stieß sie auf einen Widerstand, dem sie nicht gewachsen war, in Afrika verlief sie sich in den Wäldern und Sümpfen des schwarzen Kontinents. Die Vorstellung eines unvermeidlichen Vormarsches der Europäer - ob man sie für eine zivilisatorische Heldentat hält oder sie verdammt - ist eine Täuschung, von der nur schwer loszukommen ist. Mit ihr ist eine lineare und teleologische Konzeption der Geschichte verbunden, die gleichermaßen die Feder des Geschichtsschreibers und das Auge seines Lesers lenkt. Was schon im Hinblick auf die Expansion der Portugiesen und Spanier falsch ist, ist es in noch größerem Maß beim Phänomen der Globalisierung, die man als die Vervielfältigung der Beziehungen der Kontinente untereinander bezeichnen könnte, die vorher nicht einmal voneinander wussten oder die sich nur von ferne kannten. Die Globalisierung des 16. Jahrhunderts umfasst Europa, Afrika, Asien und die Neue Welt, und der Austausch zwischen diesen Kontinenten erreicht ein bis dahin unbekannten Ausmaß. Ein Netz mit großen Lücken, das außerdem mit jedem Schiffbruch wieder zerreißen kann, umspannt ungeachtet aller politischen und kulturellen Grenzen nach und nach den ganzen Erdball. Wer sind die Träger der Globalisierung? Völker Afrikas, Asiens und des indianischen Amerika nehmen nolens volens daran teil. Aber die Energie zur Mission, zum Handel und zur imperialistischen Expansion kommt - wenigstens am Anfang und für gut anderthalb Jahrhunderte von den Portugiesen, Spaniern und Italienern. Der chinesische Diener im Seidenen Schuh entgegnet Don Rodrigue, dem Vizekönig von Indien: »So hat jeder den andern gepackt und wir sitzen gemeinsam in der Klemme.« Was nehmen die Zeitgenossen davon wahr? Ihr Blick geht oft tiefer als der der nachfolgenden Historiker. Menschen des 16. Jahrhunderts, und zwar nicht nur Europäer, erfassen das Ausmaß der Veränderung, die vor ihren Augen geschieht und sie sehen darin im religiösen Sinne Möglichkeiten der Missionierung. Die Globalisierung tritt aber auch ins Bewusstsein all jener, die offen sind für die Beschleunigung des Verkehrs zwischen den verschiedenen Erdteilen, für die Entdeckung neuer Landstriche und neuer Völker. Sie sehen neue Profitquellen aus Investitionen in Ländern am anderen Ende der Welt, sie ahnen, dass die ungeheure Ausweitung der Handelsräume Chancen und Risiken birgt. Nichts scheint sich der Neugier der Reisenden entziehen zu können - freilich sind sie bei ihren Entdeckungen fast immer auf die Mithilfe einheimischer Führer und Begleiter angewiesen. Die Entdeckung Amerikas oder die Eroberung Mexikos kann historischen Persönlichkeiten wie Christoph Kolumbus und Hernán Cortés zugeschrieben werden. Das mag in der Sache problematisch sein, aber die Methode ist gängig. Der Abstand von Jahrhunderten und unser fehlendes Wissen drängen uns zu solchen Vereinfachungen. Anders verhält es sich mit der Globalisierung. Sie hat keinen Urheber. Sie ist das Ergebnis der Vorstöße der Portugiesen und Spanier, aber nun auf der Ebene unseres Planeten. Sie vermischt die verschiedenen historischen Entwicklungen, die sich nun plötzlich schneiden und für unerwartete und bis dahin nicht vorstellbare Ergebnisse sorgen. Die Globalisierung stellt keinen Automatismus dar, der nach einem vorgegebenen Plan die Vereinheitlichung der ganzen Welt betreibt. Es ist daher falsch zu glauben, dass unsere heutige Globalisierung mit dem Fall der Berliner Mauer eingesetzt habe. Freilich wäre es auch verfehlt anzunehmen, dass sie der mächtige Baum sei, der sich aus einem im 16. Jahrhundert gepflanzten Samenkorn entwickelt habe. Vielmehr ist es so, dass unsere Zeit aus mehreren Gründen vieles jener fernen Epoche zu verdanken hat, sofern man den Gedanken akzeptiert, dass das Fehlen eines linearen oder determinierenden Zusammenhangs nicht zwangsläufig den Lauf der Geschichte in eine Kaskade zufälliger, bedeutungsloser Ereignisse auflöst. Im 16. Jahrhundert erweitert sich der Raum der Menschheitsgeschichte über den gesamten Globus. Von diesem Zeitpunkt an verdichten sich die Verbindungen zwischen den Erdteilen: Europa-Karibik ab 1492, Lissabon-Kanton ab 1513, Sevilla-Mexiko ab 1517 usw. Ein weiterer Grund, dessen Untersuchung im Zentrum des vorliegenden Buches steht, kommt noch hinzu: Mit der portugiesischen und spanischen Globalisierung werden Europa, die Neue Welt und China Partner auf weltumspannender Ebene. China und Amerika spielen eine Hauptrolle in der gegenwärtigen Globalisierung. Wie kommt es überhaupt, dass sich China und Amerika auf dem globalen Schachbrett gegenüberstehen? Und warum zeigt Amerika heute Anzeichen der Schwäche, während China dazu ansetzt, ihm den ersten Rang streitig zu machen? In einer früheren Publikation mit dem Titel Quelle heure est-il là-bas? haben wir uns gefragt, welche Verbindungen seit dem 16. Jahrhundert zwischen der Neuen Welt und der Welt des Islams entstanden sind. Diese Weltgegenden erlebten die unmittelbaren Folgen der Expansion der Europäer über den ganzen Globus. Kolumbus glaubte fest, dass mit seiner Entdeckung das nötige Gold kommen würde, das die Christen für die Rückeroberung Jerusalems und den Sieg über den Islam brauchten. Im Osmanischen Reich machte man sich unterdessen Sorgen, dass ein Kontinent, der im Koran nicht erwähnt wurde und den die islamischen Gelehrten nicht kannten, dem Unglauben und der Beutegier der Christen anheimfiel. Das Thema der Globalisierung, die nach und nach den ganzen Planeten zu einem gemeinsamen Geschichtsschauplatz gemacht hat, wird nicht vollständig behandelt, wenn das im 16. Jahrhundert einsetzende Verhältnis zwischen islamischer Welt, Europa und Amerika außer Acht bleibt. Reicht das aber? Dass fortan mit einem vierten Kontinent gerechnet werden muss, ist die Errungenschaft der Globalisierung durch Portugiesen und Spanier, doch dass auch China im Horizont Europas und Amerikas auftaucht, ist eine nicht minder bedeutende Umwälzung. Dass dies beinahe gleichzeitig mit der Entdeckung Mexikos geschehen ist, hätte uns schon früher auffallen können, doch unserer Aufmerksamkeit, die lange von Mittelamerika gefesselt wurde, war entgangen, dass Letzteres eben nicht am anderen Ende der Welt lag, sondern, wie die Azteken nicht müde wurden zu wiederholen, in deren Mitte. Im 16. Jahrhundert haben die Portugiesen und Spanier zweimal mit dem Gedanken gespielt, China zu erobern. Doch ihr Wunsch ist nie in Erfüllung gegangen. »Kein Krieg in China« könnte man in Anspielung an ein berühmtes Theaterstück von Jean Giraudoux sagen. Manche werden das, freilich spät, bedauern. Andere werden mit uns darüber nachdenken, was diese Eroberungsgelüste, die sich gleichzeitig mit der Kolonisierung Amerikas und der Entdeckung des Pazifischen Ozeans regen, für uns zu bedeuten haben. China, der Pazifik, die Neue Welt und das Europa der Spanier und Portugiesen sind die Protagonisten einer gemeinsamen Geschichte, die sich aus ihrer Begegnung und ihrer Konfrontation entwickelt. Diese Geschichte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Expansionsdrang der Portugiesen und Spanier hat Erfolg in Amerika und scheitert in China - und das in ein und demselben Jahrhundert. Dies lehrt uns eine Globalgeschichte des 16. Jahrhunderts, die weniger eurozentrisch auf das Zeitalter der Renaissance fixiert ist. Eine solche Betrachtungsweise ist unserer heutigen Zeit sicherlich angemessener. Zwei ruhige Welten An Asien erschreckt mich das Bild unserer Zukunft, die dort schon vorweggenommen ist. Am indianischen Amerika schätze ich den Widerschein einer Zeit, als der Raum noch dem Maß seines Universums entsprach. Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen Im Jahr 1520 sind Karl V., Franz I. und Heinrich VIII. die aufsteigenden Gestirne am Himmel der lateinischen Christenheit. Karl wird am Anfang des Jahrhunderts in Gent geboren, 1517 ist er spanischer König, 1520 wird er zum römisch-deutschen König gekrönt. Franz I. ist seit 1515 König von Frankreich, und Heinrich VIII. seit 1509 König von England. Portugals alter König Manuel I. besaß noch genug Elan für eine Heirat mit der Schwester des Tudor-Königs. Im Gegensatz zu ihren französischen und englischen Rivalen hegten Karl V. und Manuel I. ozeanische Herrschaftsziele, mit denen sie ihre Reiche in andere Welten ausdehnten. Im November des Jahres 1519 fällt ein spanischer Abenteurer namens Hernán Cortés an der Spitze einer kleinen Truppe von Fußsoldaten und Reitern in Mexiko ein. Im Juni des Jahres 1520 verschafft sich eine zahlenmäßig noch kleinere portugiesische Gesandtschaft Eintritt in Nanking. Dort wird der portugiesische Botschafter Tomé Pires von Kaiser Zhengde empfangen. Koreanische Beobachter wissen zu berichten, dass sich Portugiesen im Gefolge des Kaisers aufhalten und dass man ihnen den islamischen Kaufmann Khôjja Asan als Führer und Dolmetscher beigesellt hatte. Um die gleiche Zeit begegnete in Mexiko Hernán Cortés Moctezuma, dem Oberhaupt des Dreibundes oder anders bezeichnet dem »Kaiser der Azteken«. Zwei Kaiser Im Juni des Jahres 1505 ist Zhu Houzhao, so Zhengdes ursprünglicher Name, seinem Vater, dem Kaiser Hongzhi, auf den Thron gefolgt. Der zehnte Ming-Kaiser ist vierzehn Jahre alt, er stirbt 1521. Von den Geschichtsschreibern ist seine Herrschaft harsch kritisiert worden. Will man ihnen glauben, so soll Zhengde seine Regierungsgeschäfte vernachlässigt haben, um sich dem Vergnügen hinzugeben. Er habe sich lieber außerhalb der Verbotenen Stadt bewegt und geduldet, dass sich seine raffgierigen Eunuchen bereichern. Tatsächlich war Zhengde aber auch ein Kriegsherr, der sich der Bevormundung durch die kaiserliche Hofverwaltung entzog, um an die Politik der Öffnung, ja an den Kosmopolitismus der vorangegangenen mongolischen Yuan-Dynastie anzuknüpfen. Da er seine freie Zeit am liebsten außerhalb des Palastes verbrachte, suchte er, umgeben von mongolischen und jurchischen Leibwächtern, die Gesellschaft von tibetischen Mönchen, islamischen Schriftgelehrten und Künstlern aus dem Innern Asiens, oder aber er suchte den Kontakt zu ausländischen Botschaftern, die sich vorübergehend in Peking aufhielten. Er soll sogar den Verzehr von Schweinefleisch verboten haben, weil er sich davon bessere Beziehungen zu den islamischen Mächten Zentralasiens versprach. In den Jahren 1518 und 1519 befehligt Zhengde selbst einen Feldzug im Norden gegen die Mongolen und im Süden in der Region Jiangxi. Noch 1521 entmachtet er einen aufsässigen Fürsten und lässt ihn in Tongzhou hinrichten. Doch das verleiht ihm keine geschichtliche Größe. Das ist jedenfalls der Eindruck, den die amtliche Geschichtsschreibung und die nach seinem Tod erscheinenden offiziösen Darstellungen verbreiten. Die einen wie die anderen sind sich darin einig, dass seine Herrschaft eine Zeit der Unruhe und des Niedergangs (moshi) gewesen sei. Landflucht der Bauern, die es in die Bergwerke und die Städte zieht, Aufstieg der Neureichen, Verfall der Traditionen, »heimische Bräuche, die dem Wandel zum Opfer fallen«, Willkür der Verwaltung, Elend und Unruhe unter den einfachen Menschen, ein Grassieren des Schmuggels mit den Japanern die Bilanz, die die Geschichtsschreibung zieht, ist vernichtend. Hinzu kommen die Naturkatastrophen - Überschwemmung und Hungersnot des Jahres 1511 -, die man ebenfalls der Krise der Gesellschaft zuschreibt. Doch die Krise betrifft nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Denn in dieser Epoche entstehen viele neue Wirtschaftsagglomerate, die Produktion ist in allen Bereichen gestiegen und der internationale Handel steht in voller Blüte. Im Jahr 1520 verliert der betrunkene Herrscher auf seiner kaiserlichen Barke den Halt und fällt in den Großen Kanal, der Hauptverkehrsader, die den Norden und den Süden des Reiches verbindet. Das Fieber oder die Lungenentzündung, die er sich bei diesem unfreiwilligen Bad zuzieht, wird ihm das Leben kosten. Dreißigjährig stirbt er am 20. April des folgenden Jahres. Das eisige Wasser hatte ihm den Tod gebracht und da das Wasser als das Element des Drachen galt, gaben die Geschichtsschreiber den Drachen die Schuld an seinem Ende. Wenige Monate vor seinem Tod sollen fremde Wesen die Ruhe in den Straßen Pekings gestört haben. Sie sollen Passanten angegriffen und mit ihren Krallen verletzt haben. In diesem Zusammenhang war von »düsterem Leid« die Rede. Das Kriegsministerium nahm sich der Sache an und stellte die Ordnung wieder her, worauf die Gerüchte verstummten. Zhengde, der für alles Neue ein offenes Ohr hatte, war kurz vor seinem Tod mit Angehörigen der portugiesischen Gesandtschaft zusammengekommen. Für seine Zeitgenossen und Nachfolger blieb diese Begegnung ohne Bedeutung, und sie brachte ihm nicht die tragische Berühmtheit ein, die sich für die Nachwelt mit der Person des Tlatoani von Mexiko-Tenochtitlan, Moctezuma Xocoyotzin, verbindet. Ein 1959 gedrehter Film namens Kingdom and Beauty hat nicht genügt, die Eskapaden eines Kaisers, der inkognito und als einfacher Bürger verkleidet seinen Vergnügungen nachging, erfolgreich zu verewigen. Über Moctezuma weiß man viel und doch wenig. Die Welt der Azteken ist uns noch fremder als die Welt des Alten China und vom Nimbus des Tragischen umgeben. Indios, Mestizen und Spanier haben uns von Moctezuma Xocoyotzin ein voreingenommenes, widersprüchliches Bild überliefert. Offenbar mussten unbedingt Gründe für den Untergang der Indio-Reiche gefunden oder die Heldentaten der spanischen Eroberer verherrlicht werden. Moctezuma, der Neffe und Thronnachfolger Ahuitzotls (1486-1502), wurde 1467 geboren. Bei der Ankunft des Hernán Cortés ist er bereits ein erfahrener Mann, der die Fünfzig überschritten hat. Als neunter Tlatoani herrscht er von 1502 bis 1520 über die Mexica von Mexiko-Tenochtitlan. Außerdem hat er das Sagen gegenüber Texcoco und Tlacopan, seinen Partnern im Dreibund (den »drei Häuptern«). Die abendländische Tradition hat aus ihm den »Kaiser der Azteken« gemacht. Die Geschichtsschreiber rühmen seine kriegerischen Tugenden, die er zu Beginn seiner Herrschaft unter Beweis gestellt hatte, von denen er aber den spanischen Eroberern gegenüber offenbar keinen Gebrauch machte. Er soll seine Kontrolle über die adlige Elite gestärkt und die Machtverhältnisse neu geordnet haben, indem er einen Teil der Gefolgsleute seines Vorgängers entmachtete. Ferner hat er den Kalender geändert - ein Eingriff, über dessen Tragweite später noch zu reden sein wird - und mehrere Feldzüge gegen die Feinde des Dreibundes geführt, allerdings mit wechselndem Erfolg. Die Niederlage, die er 1515 gegenüber Tlaxcala erlitt, beweist, dass man nicht Spanier sein und über Pferde und Feuerwaffen verfügen musste, um ihm Paroli zu bieten. Wie sein chinesischer Herrscherkollege Kaiser Zhengde leistete er sich einen Zoo mit exotischen Tieren und wie dieser liebte er die Frauen. Der Chronist Díaz del Castillo bescheinigt ihm, dass er kein Homosexueller war - ein Punkt, über den die Spanier immer Gewissheit haben wollten. Moctezuma starb entweder durch die Hand der Indios oder der Spanier. Die erst nach seinem Tod entstandenen Geschichten berichten von den vielen schlechten Vorzeichen während seiner Herrschaft, die aber die »Götzenpriester« nicht richtig zu deuten gewusst hatten. Erst später bringt man sie in Zusammenhang mit der spanischen Eroberung. Sein trauriges Ende wird der Stoff für Filme und Opern. Anders als Zhengde wird er zu einer unsterblichen Gestalt in der abendländischen Geschichte und in der europäischen Vorstellungswelt. Zwischen den beiden Herrschern gibt es keine Gemeinsamkeiten außer der Tatsache, dass beide in denselben historischen Prozess verwickelt sind. Im November 1519 begegnet Moctezuma den Spaniern in Mexiko; wenige Monate später lernt Zhengde die Portugiesen in Nanking kennen. Doch ehe wir uns mit dieser Koinzidenz beschäftigen, möchten wir zunächst eine knappe Darstellung Chinas und Mexikos zu Beginn des 16.Jahrhunderts einschieben. China unter Zhengde, Mexiko unter Moctezuma Im Jahr 1511 nehmen die Portugiesen Malakka in Besitz und die Spanier tun das gleiche mit Kuba. Ihre Flotten befinden sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe zweier gewaltiger »Eisberge«, deren sichtbare Teile sie in Kürze erkunden werden. Nur noch wenige Jahre bleiben Mexiko und China, ehe sie Ziel des frenetischen Eroberungswillens werden, die die Regierungen Spaniens und Portugals und ihre Untertanen beseelt. Beide Reiche teilen das Schicksal, die Nächsten auf der Liste der Entdeckungen oder Eroberungen der Spanier und Portugiesen zu sein. Vor allem aber sind beide in den Augen der Europäer - die Frucht einer jahrtausendealten Geschichte, die sich fern der europäisch-mittelmeerischen Welt abgespielt hat. China und Mexiko haben sich außerhalb des Kulturkreises des jüdisch-christlichen Monotheismusses und des politischen, juristischen und philosophischen Erbes der Griechen und Römer entwickelt, ohne sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen. Dies gilt mit der Einschränkung, dass China, anders als die indio-amerikanischen Gesellschaften, die ohne Kontakt zum Rest der Welt entstanden sind, über die berühmte Seidenstraße schon sehr lange Handelsverbindungen mit der mediterranen Welt gepflegt hat. Ferner darf nicht vergessen werden, dass China im Austausch mit weiten Teilen Eurasiens stand. Es übernahm den indischen Buddhismus, öffnete sich viele Jahrhunderte lang dem Islam und teilte mit diesen Kulturen die biologischen Abwehrkräfte, die den indio-amerikanischen Völkern bei ihrer Begegnung mit den Europäern schmerzhaft fehlten. Wie ist es um 1510 mit China und Mexiko bestellt? China ist tatsächlich ein Reich (wenngleich manche lieber von der chinesischen Welt sprechen), wohingegen Alt-Mexiko kein politisch geeintes Herrschaftsgebiet darstellt. Die Archäologen sprechen lieber von Mesoamerika, da Mexiko als nationales Gebilde ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts ist, das in der hier behandelten Epoche noch nicht existiert. Im Übrigen wollen wir nicht China und Mexiko vergleichen, sondern Grundzüge herausarbeiten, die uns Aufschluss bieten über die Reaktionen der Chinesen und Azteken bei der Begegnung mit den Europäern jener Zeit. Besonders interessieren uns hier jene Bereiche, auf die es bei einer Begegnung von Kulturen ankommt, nämlich auf die Mittel, sich zu Lande und auf dem Wasser rasch fortzubewegen, auf die Kunst, an Informationen zu gelangen und in Umlauf zu bringen, auf die Gewohnheit, im kontinentalen oder interkontinentalen Maßstab zu denken, auf die Fähigkeit, Material, Truppen und allgemein Menschen in nicht vorhersehbaren Situationen zu mobilisieren und schließlich auf die Neigung, die Welt als Ganzes zu denken. Alle diese Bereiche, teils technischer, teils psychologischer, teils intellektueller Natur, spielen eine Rolle in der Expansion der Portugiesen und Spanier: Ohne das nötige Kapital, ohne Schiffe, Pferde, Feuerwaffen und ohne die Schrift ist eine so weitreichende Expansion gar nicht denkbar, umfasst sie doch den Transport von Menschen und Material, logistische Unterstützung, Informationsgewinnung und Spionage, Gewinnung und Transport der Wirtschaftsgüter und, was oft vergessen wird, ein globales Bewusstsein. Eine Lagebeschreibung bleibt immer unbefriedigend, vor allem im Fall von Mittelamerika, denn was das kulturelle Gedächtnis angeht, sind China und Mexiko nicht annähernd gleichwertig. Obwohl im Zuge der spanischen Eroberung eine Fülle an Berichten und Beschreibungen publiziert wurde, bleibt die präkolumbische Zeit trotz der beachtlichen Fortschritte der archäologischen Forschung für uns weitgegend im Dunkeln. Die alten Mexikaner kannten die Schrift nicht, wohingegen die Chinesen seit mindestens dreitausend Jahren schrieben. Chinesische Quellen gibt es in Hülle und Fülle, während der Historiker auf der amerikanischen Seite lediglich über europäische Zeugnisse verfügt, abgesehen von einer kleinen Zahl einheimischer Erzählungen aus der Hand von Indios und Mestizen, die aber durch das Trauma der Eroberung und kolonialen Unterdrückung geprägt sind. Die Indio-Lebenswelten des 15. Jahrhunderts sind wahrscheinlich für uns für immer verloren. Die Welt Chinas hingegen spricht weiterhin zu uns und unser Wissen über sie vermehrt sich sogar stetig. Zhongguo Zhongguo, das Reich der Mitte- was das Alter betrifft, so kann sich weder die Neue Welt noch irgendeine andere Kultur mit dem imperialen China messen. Das Kaiserreich geht mit der Xia-Dynastie auf das 3. Jahrtausend v. Chr. zurück, während die Reiche der Azteken und Inka (um nur die »Dinosaurier« des amerikanischen Kontinents zu nennen) kaum ein Jahrhundert bestehen, bevor die spanische Eroberung beginnt. Chinas Alter, Kontinuität und Weitläufigkeit - mehr als 100, vielleicht 130 Millionen Einwohner und seine unschätzbaren Reichtümer, all das entdecken die Portugiesen staunend und sie lassen es sich mit merklichem Vergnügen schildern, ehe sie es ihrerseits den übrigen Europäern berichten. Das chinesische Kaiserreich verfügt seit vielen Jahrhunderten über einen eingespielten, mächtigen Verwaltungsapparat, der das Land durch Myriaden von Mandarinen, Eunuchen, Richtern, Beamten, Inspekteuren und Militärs fest im Griff hat. Dabei spielt die Armee, von den südlichen Grenzen abgesehen, nur eine untergeordnete Rolle. Der Apparat erneuert sich durch ein landesweites Bewerbungssystem, das für die Kontinuität in der Machtausübung zwischen dem Kaiserhof in Peking, den Provinzhauptstädten und den unteren Rängen des Reiches sorgt. Nicht Territorialfürsten oder Schwertadel, sondern eine Gentry aus gebildeten Beamten trägt das Reich. Diejenigen, die in den Auswahlverfahren erfolgreich abschneiden und über familiäre oder regionale Beziehungen verfügen, streben in die Hauptstadt des Reiches. Die 20.000 führenden Beamten der konfuzianischen Bürokratie und die 100.000 Eunuchen zusammengenommen vermitteln aus europäischer oder mexikanischer Sicht das Bild einer aufgeblähten Verwaltung. In Wirklichkeit ist das China des 16. Jahrhunderts ein Koloss, dessen Verwaltung große Lücken aufweist. Wie in allen Bürokratien ist überall dort, wo der Arm der kaiserlichen Kontrolle nicht hinreicht oder zu kraftlos bleibt, die Korruption das Öl im Getriebe. Sie grassiert besonders an der Südküste, die ihren Wohlstand zum großen Teil dem Handel mit dem Ausland verdankt. Die Portugiesen sind hier die Nutznießer. Die kaiserliche Verwaltung funktioniert nicht reibungslos, Misswirtschaft, Revolten und das Räuberunwesen zeugen davon. Aber man muss doch zugestehen, dass die chinesische Bürokratie als einzige in der damaligen Welt eine so große Bevölkerung und ein so ausgedehntes Territorium verwalten kann. An dieser Bürokratie reibt sich auch die Macht des Kaisers: Die Freiheiten, die er sich gegenüber dem höfischen Zeremoniell herausnimmt, seine militärischen Anwandlungen, seine Neugier auf andere Kulturen und seine globalen Ambitionen missfallen den gebildeten Mandarinen, für die ganz andere Werte zählen. China ist aber auch eine große Handelsmacht für Waren wie Getreide, Seide, Salz, Tee und Porzellan. Der stetig zunehmende Verkehr auf dem Großen Kanal, der Hauptverkehrsader für den Nord-Süd-Handel, belegt den regen Austausch. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stärken die Kaufleute ihre Position gegenüber der Gentry, die missgünstig auf die Emporkömmlinge herabsieht. Ihre Umtriebigkeit stört die Prinzipien der konfuzianischen Moral, denn sie setzen lieber auf das freie Spiel des Marktes und nicht auf die geheiligte, feste Ordnung der ländlichen Welt. Die alten Muster sind aber noch so prägend, dass sich auch die Akteure der neuen Klasse ihnen angleichen. Die Kaufleute von Huizhou, reich geworden durch den Export von Getreide und Tee und durch das Salzmonopol, streben nach einem höheren gesellschaftlichen Status und orientieren sich an der Welt der hohen Beamten. Die Gentry kann ihrerseits dem Hang zum Luxus - altes Porzellan, exotische Früchte nicht widerstehen, den die reichen Kaufleute aus oft weit entfernten Gegenden importieren. Schließlich hat es schon immer zu den Eigentümlichkeiten ihrer Angehörigen gehört, seltene und teure Güter zu sammeln und zu konsumieren. Daher ist es auch verständlich, dass die von den Portugiesen eingeführten exotischen Waren den Druck verstärken, sich dem Austausch mit den Europäern zu öffnen und Beziehungen zwischen den Kulturen zu pflegen. Der Handel, die Post und das Militär nutzen ein funktionstüchtiges und dichtes Verkehrsnetz aus Straßen, Poststationen, Kanälen und Brücken. Kutschen, Sänften und Barken sind im ganzen Land verbreitet. Der ausgezeichnete Zustand der Straßen und Brücken - seien es Stein- oder Pontonbrücken - lässt die europäischen Reisenden ihren Augen nicht trauen. Ebenso staunen sie über die landwirtschaftliche Nutzung: Reisfelder so weit das Auge reicht und kein Zoll Boden, der nicht zum Anbau genutzt würde, Scharen von Bauern, die auf den Feldern arbeiten. Der hohe Stand von Landwirtschaft und Technik verdankt sich der Verbreitung des Buchdrucks, der besonders am Ende des 15. Jahrhunderts seinen Aufstieg nimmt. Publizieren ist ein sehr lukrativer Geschäftszweig und die Produkte des Druckhauses Shendu in Fujian spiegeln das Bild eines dynamischen und auf vielen Gebieten »fortschrittlicheren« Reiches wider als die des christlichen Europa. Dank des boomenden Buchdrucks werden gängige Werke immer wieder aufgelegt wie der konfuzianische Kanon, normative Texte wie das Gesetzbuch und die Dekrete der Ming sowie historische Werke über das Kaiserreich. Der Erfolg ist auch der Lesekultur zuzuschreiben. In diesem Zusammenhang denkt man unwillkürlich an die Verbreitung des Buchdrucks im Europa des 15.Jahrhunderts. Mit dem Unterschied, dass der gedruckte Text - »mit dem man von dem Zimmer aus, in dem man steht, die ganze Welt umfassen kann« - in China schon seit Jahrhunderten im Wechselspiel mit der weiterhin vorherrschenden Mündlichkeit gedeiht. Die Revolution des Buchdrucks haben die Chinesen des 16. Jahrhunderts schon lange hinter sich. Die Schrift ist die Speerspitze einer beeindruckenden Verwaltung, sie bildet die Grundlage für ein intensives philosophisches Nachdenken, aber sie dient auch bisweilen rebellischen Geistern aus den Provinzen, ihre Ansichten und Reaktionen auf das Weltgeschehen zu verbreiten. Überall im Reich erscheinen Zeitungen, die Neuigkeiten kolportieren, Kenntnisse und Techniken verbreiten, den Austausch zwischen den Landesteilen fördern und nicht zuletzt auf den Flug der Drachen als Vorboten künftiger Katastrophen hinweisen. Die Rede vom »chinesischen Denken« führt unweigerlich zu Verallgemeinerungen, die seiner Vielfalt und der Originalität der Neuerungen nicht gerecht werden. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts stehen den Kandidaten für die Beamtenprüfungen die Texte der neokonfuzianischen Schriften, die sie kennen müssen, in gedruckten Kompilationen zur Verfügung. Diese Schriften wie die Summa (Kommentare) zu den Vier Büchern sind Ausdruck eines orthodoxen Denkens aus der Zeit der Song-Dynastie, das nun im ganzen Kaiserreich verbreitet wird und das Denken der Angehörigen der Beamtenschicht noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägen soll. Das heißt aber nicht, dass sich das geistige Leben in China ausschließlich um die Klassiker drehte. Die konfuzianische Orthodoxie begegnet dem Buddhismus, setzt sich mit quietistischen Tendenzen auseinander, für die die Innenschau wichtiger ist als das weltzugewandte aktive Leben, und hat als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen auch abweichende Lehrmeinungen zu dulden. Hochkultur und Volkskultur vermischen sich wie überall, während synkretistische Strömungen zu der Auffassung gelangen, dass Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus ein und dasselbe seien. Ein Grund für diesen Synkretismus und das Aufbrechen der religiösen Traditionen liegt darin, dass der spirituellen Erfahrung ein höherer Stellenwert zugemessen wird als das Korpus der Lehrschriften.
Westwärts schweift der Blick Richard Wagner, Tristan und Isolde, I, 1 Für Agnès Fontaine Einleitung Andromache: Der trojanische Krieg findet nicht statt, Kassandra! Jean Giraudoux, Kein Krieg in Troja, I,1 Die Wege, die uns von Mexiko nach China – und zu diesem Buch – geführt haben, wurden von literarischen Werken gekreuzt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst worden sind. Lange haben wir erwogen, uns für dieses Buch von Jean Giraudoux zu dem Titel »Kein Krieg in China« inspirieren zu lassen, doch dann darauf verzichtet. Besser verstehen wir heute vielleicht die Welten, die Paul Claudel wieder zum Leben erweckt hat. In den vier Tagen seines Schauspiels Le Soulier de satin (1929, »Der seidene Schuh«) sprechen Personen miteinander, die aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengekommen sind. »Der Schauplatz dieser Handlung ist die Welt, und genauer das Spanien des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts«. Mit seiner »Verdichtung von Ländern und Zeitaltern« wollte Claudel keine Geschichtsschreibung vorlegen, sondern er versetzt uns in die Turbulenzen einer Globalisierung, die weder die erste noch die letzte war. Diese Globalisierung breitete sich im 16. Jahrhundert im Gefolge der portugiesischen und spanischen Expeditionen ziemlich rasch aus. Der aztekische Adler und der chinesische Drache waren die Ersten, die unter dem maßlosen Machthunger der Europäer zu leiden hatten. Die Globalisierung unterscheidet sich vom europäischen Expansionismus. Für Letzteren wurden technische, finanzielle und geistige Ressourcen eingesetzt und vor allem Menschen mobilisiert. Politische Ziele, wirtschaftliche Erwägungen und religiöse Bestrebungen spielten mehr oder weniger glücklich zusammen, um Seeleute, Soldaten, Geistliche und Händler tausende Kilometer fern der Iberischen Halbinsel um den ganzen Erdball zu schicken. Die portugiesische und spanische Expansion hat Kettenreaktionen ausgelöst und Schockwellen, die ganze Kulturen zum Einsturz gebracht haben. So geschah es jedenfalls in Amerika. In Asien stieß sie auf einen Widerstand, dem sie nicht gewachsen war, in Afrika verlief sie sich in den Wäldern und Sümpfen des schwarzen Kontinents. Die Vorstellung eines unvermeidlichen Vormarsches der Europäer – ob man sie für eine zivilisatorische Heldentat hält oder sie verdammt – ist eine Täuschung, von der nur schwer loszukommen ist. Mit ihr ist eine lineare und teleologische Konzeption der Geschichte verbunden, die gleichermaßen die Feder des Geschichtsschreibers und das Auge seines Lesers lenkt. Was schon im Hinblick auf die Expansion der Portugiesen und Spanier falsch ist, ist es in noch größerem Maß beim Phänomen der Globalisierung, die man als die Vervielfältigung der Beziehungen der Kontinente untereinander bezeichnen könnte, die vorher nicht einmal voneinander wussten oder die sich nur von ferne kannten. Die Globalisierung des 16. Jahrhunderts umfasst Europa, Afrika, Asien und die Neue Welt, und der Austausch zwischen diesen Kontinenten erreicht ein bis dahin unbekannten Ausmaß. Ein Netz mit großen Lücken, das außerdem mit jedem Schiffbruch wieder zerreißen kann, umspannt ungeachtet aller politischen und kulturellen Grenzen nach und nach den ganzen Erdball. Wer sind die Träger der Globalisierung? Völker Afrikas, Asiens und des indianischen Amerika nehmen nolens volens daran teil. Aber die Energie zur Mission, zum Handel und zur imperialistischen Expansion kommt – wenigstens am Anfang und für gut anderthalb Jahrhunderte von den Portugiesen, Spaniern und Italienern. Der chinesische Diener im Seidenen Schuh entgegnet Don Rodrigue, dem Vizekönig von Indien: »So hat jeder den andern gepackt und wir sitzen gemeinsam in der Klemme.« Was nehmen die Zeitgenossen davon wahr? Ihr Blick geht oft tiefer als der der nachfolgenden Historiker. Menschen des 16. Jahrhunderts, und zwar nicht nur Europäer, erfassen das Ausmaß der Veränderung, die vor ihren Augen geschieht und sie sehen darin im religiösen Sinne Möglichkeiten der Missionierung. Die Globalisierung tritt aber auch ins Bewusstsein all jener, die offen sind für die Beschleunigung des Verkehrs zwischen den verschiedenen Erdteilen, für die Entdeckung neuer Landstriche und neuer Völker. Sie sehen neue Profitquellen aus Investitionen in Ländern am anderen Ende der Welt, sie ahnen, dass die ungeheure Ausweitung der Handelsräume Chancen und Risiken birgt. Nichts scheint sich der Neugier der Reisenden entziehen zu können – freilich sind sie bei ihren Entdeckungen fast immer auf die Mithilfe einheimischer Führer und Begleiter angewiesen. Die Entdeckung Amerikas oder die Eroberung Mexikos kann historischen Persönlichkeiten wie Christoph Kolumbus und Hernán Cortés zugeschrieben werden. Das mag in der Sache problematisch sein, aber die Methode ist gängig. Der Abstand von Jahrhunderten und unser fehlendes Wissen drängen uns zu solchen Vereinfachungen. Anders verhält es sich mit der Globalisierung. Sie hat keinen Urheber. Sie ist das Ergebnis der Vorstöße der Portugiesen und Spanier, aber nun auf der Ebene unseres Planeten. Sie vermischt die verschiedenen historischen Entwicklungen, die sich nun plötzlich schneiden und für unerwartete und bis dahin nicht vorstellbare Ergebnisse sorgen. Die Globalisierung stellt keinen Automatismus dar, der nach einem vorgegebenen Plan die Vereinheitlichung der ganzen Welt betreibt. Es ist daher falsch zu glauben, dass unsere heutige Globalisierung mit dem Fall der Berliner Mauer eingesetzt habe. Freilich wäre es auch verfehlt anzunehmen, dass sie der mächtige Baum sei, der sich aus einem im 16. Jahrhundert gepflanzten Samenkorn entwickelt habe. Vielmehr ist es so, dass unsere Zeit aus mehreren Gründen vieles jener fernen Epoche zu verdanken hat, sofern man den Gedanken akzeptiert, dass das Fehlen eines linearen oder determinierenden Zusammenhangs nicht zwangsläufig den Lauf der Geschichte in eine Kaskade zufälliger, bedeutungsloser Ereignisse auflöst. Im 16. Jahrhundert erweitert sich der Raum der Menschheitsgeschichte über den gesamten Globus. Von diesem Zeitpunkt an verdichten sich die Verbindungen zwischen den Erdteilen: Europa–Karibik ab 1492, Lissabon–Kanton ab 1513, Sevilla–Mexiko ab 1517 usw. Ein weiterer Grund, dessen Untersuchung im Zentrum des vorliegenden Buches steht, kommt noch hinzu: Mit der portugiesischen und spanischen Globalisierung werden Europa, die Neue Welt und China Partner auf weltumspannender Ebene. China und Amerika spielen eine Hauptrolle in der gegenwärtigen Globalisierung. Wie kommt es überhaupt, dass sich China und Amerika auf dem globalen Schachbrett gegenüberstehen? Und warum zeigt Amerika heute Anzeichen der Schwäche, während China dazu ansetzt, ihm den ersten Rang streitig zu machen? In einer früheren Publikation mit dem Titel Quelle heure est-il là-bas? haben wir uns gefragt, welche Verbindungen seit dem 16. Jahrhundert zwischen der Neuen Welt und der Welt des Islams entstanden sind. Diese Weltgegenden erlebten die unmittelbaren Folgen der Expansion der Europäer über den ganzen Globus. Kolumbus glaubte fest, dass mit seiner Entdeckung das nötige Gold kommen würde, das die Christen für die Rückeroberung Jerusalems und den Sieg über den Islam brauchten. Im Osmanischen Reich machte man sich unterdessen Sorgen, dass ein Kontinent, der im Koran nicht erwähnt wurde und den die islamischen Gelehrten nicht kannten, dem Unglauben und der Beutegier der Christen anheimfiel. Das Thema der Globalisierung, die nach und nach den ganzen Planeten zu einem gemeinsamen Geschichtsschauplatz gemacht hat, wird nicht vollständig behandelt, wenn das im 16. Jahrhundert einsetzende Verhältnis zwischen islamischer Welt, Europa und Amerika außer Acht bleibt. Reicht das aber? Dass fortan mit einem vierten Kontinent gerechnet werden muss, ist die Errungenschaft der Globalisierung durch Portugiesen und Spanier, doch dass auch China im Horizont Europas und Amerikas auftaucht, ist eine nicht minder bedeutende Umwälzung. Dass dies beinahe gleichzeitig mit der Entdeckung Mexikos geschehen ist, hätte uns schon früher auffallen können, doch unserer Aufmerksamkeit, die lange von Mittelamerika gefesselt wurde, war entgangen, dass Letzteres eben nicht am anderen Ende der Welt lag, sondern, wie die Azteken nicht müde wurden zu wiederholen, in deren Mitte. Im 16. Jahrhundert haben die Portugiesen und Spanier zweimal mit dem Gedanken gespielt, China zu erobern. Doch ihr Wunsch ist nie in Erfüllung gegangen. »Kein Krieg in China« könnte man in Anspielung an ein berühmtes Theaterstück von Jean Giraudoux sagen. Manche werden das, freilich spät, bedauern. Andere werden mit uns darüber nachdenken, was diese Eroberungsgelüste, die sich gleichzeitig mit der Kolonisierung Amerikas und der Entdeckung des Pazifischen Ozeans regen, für uns zu bedeuten haben. China, der Pazifik, die Neue Welt und das Europa der Spanier und Portugiesen sind die Protagonisten einer gemeinsamen Geschichte, die sich aus ihrer Begegnung und ihrer Konfrontation entwickelt. Diese Geschichte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Expansionsdrang der Portugiesen und Spanier hat Erfolg in Amerika und scheitert in China – und das in ein und demselben Jahrhundert. Dies lehrt uns eine Globalgeschichte des 16. Jahrhunderts, die weniger eurozentrisch auf das Zeitalter der Renaissance fixiert ist. Eine solche Betrachtungsweise ist unserer heutigen Zeit sicherlich angemessener. Zwei ruhige Welten An Asien erschreckt mich das Bild unserer Zukunft, die dort schon vorweggenommen ist. Am indianischen Amerika schätze ich den Widerschein einer Zeit, als der Raum noch dem Maß seines Universums entsprach. Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen Im Jahr 1520 sind Karl V., Franz I. und Heinrich VIII. die aufsteigenden Gestirne am Himmel der lateinischen Christenheit. Karl wird am Anfang des Jahrhunderts in Gent geboren, 1517 ist er spanischer König, 1520 wird er zum römisch-deutschen König gekrönt. Franz I. ist seit 1515 König von Frankreich, und Heinrich VIII. seit 1509 König von England. Portugals alter König Manuel I. besaß noch genug Elan für eine Heirat mit der Schwester des Tudor-Königs. Im Gegensatz zu ihren französischen und englischen Rivalen hegten Karl V. und Manuel I. ozeanische Herrschaftsziele, mit denen sie ihre Reiche in andere Welten ausdehnten. Im November des Jahres 1519 fällt ein spanischer Abenteurer namens Hernán Cortés an der Spitze einer kleinen Truppe von Fußsoldaten und Reitern in Mexiko ein. Im Juni des Jahres 1520 verschafft sich eine zahlenmäßig noch kleinere portugiesische Gesandtschaft Eintritt in Nanking. Dort wird der portugiesische Botschafter Tomé Pires von Kaiser Zhengde empfangen. Koreanische Beobachter wissen zu berichten, dass sich Portugiesen im Gefolge des Kaisers aufhalten und dass man ihnen den islamischen Kaufmann Khôjja Asan als Führer und Dolmetscher beigesellt hatte. Um die gleiche Zeit begegnete in Mexiko Hernán Cortés Moctezuma, dem Oberhaupt des Dreibundes oder anders bezeichnet dem »Kaiser der Azteken«. Zwei Kaiser Im Juni des Jahres 1505 ist Zhu Houzhao, so Zhengdes ursprünglicher Name, seinem Vater, dem Kaiser Hongzhi, auf den Thron gefolgt. Der zehnte Ming-Kaiser ist vierzehn Jahre alt, er stirbt 1521. Von den Geschichtsschreibern ist seine Herrschaft harsch kritisiert worden. Will man ihnen glauben, so soll Zhengde seine Regierungsgeschäfte vernachlässigt haben, um sich dem Vergnügen hinzugeben. Er habe sich lieber außerhalb der Verbotenen Stadt bewegt und geduldet, dass sich seine raffgierigen Eunuchen bereichern. Tatsächlich war Zhengde aber auch ein Kriegsherr, der sich der Bevormundung durch die kaiserliche Hofverwaltung entzog, um an die Politik der Öffnung, ja an den Kosmopolitismus der vorangegangenen mongolischen Yuan-Dynastie anzuknüpfen. Da er seine freie Zeit am liebsten außerhalb des Palastes verbrachte, suchte er, umgeben von mongolischen und jurchischen Leibwächtern, die Gesellschaft von tibetischen Mönchen, islamischen Schriftgelehrten und Künstlern aus dem Innern Asiens, oder aber er suchte den Kontakt zu ausländischen Botschaftern, die sich vorübergehend in Peking aufhielten. Er soll sogar den Verzehr von Schweinefleisch verboten haben, weil er sich davon bessere Beziehungen zu den islamischen Mächten Zentralasiens versprach. In den Jahren 1518 und 1519 befehligt Zhengde selbst einen Feldzug im Norden gegen die Mongolen und im Süden in der Region Jiangxi. Noch 1521 entmachtet er einen aufsässigen Fürsten und lässt ihn in Tongzhou hinrichten. Doch das verleiht ihm keine geschichtliche Größe. Das ist jedenfalls der Eindruck, den die amtliche Geschichtsschreibung und die nach seinem Tod erscheinenden offiziösen Darstellungen verbreiten. Die einen wie die anderen sind sich darin einig, dass seine Herrschaft eine Zeit der Unruhe und des Niedergangs (moshi) gewesen sei. Landflucht der Bauern, die es in die Bergwerke und die Städte zieht, Aufstieg der Neureichen, Verfall der Traditionen, »heimische Bräuche, die dem Wandel zum Opfer fallen«, Willkür der Verwaltung, Elend und Unruhe unter den einfachen Menschen, ein Grassieren des Schmuggels mit den Japanern die Bilanz, die die Geschichtsschreibung zieht, ist vernichtend. Hinzu kommen die Naturkatastrophen – Überschwemmung und Hungersnot des Jahres 1511 –, die man ebenfalls der Krise der Gesellschaft zuschreibt. Doch die Krise betrifft nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Denn in dieser Epoche entstehen viele neue Wirtschaftsagglomerate, die Produktion ist in allen Bereichen gestiegen und der internationale Handel steht in voller Blüte. Im Jahr 1520 verliert der betrunkene Herrscher auf seiner kaiserlichen Barke den Halt und fällt in den Großen Kanal, der Hauptverkehrsader, die den Norden und den Süden des Reiches verbindet. Das Fieber oder die Lungenentzündung, die er sich bei diesem unfreiwilligen Bad zuzieht, wird ihm das Leben kosten. Dreißigjährig stirbt er am 20. April des folgenden Jahres. Das eisige Wasser hatte ihm den Tod gebracht und da das Wasser als das Element des Drachen galt, gaben die Geschichtsschreiber den Drachen die Schuld an seinem Ende. Wenige Monate vor seinem Tod sollen fremde Wesen die Ruhe in den Straßen Pekings gestört haben. Sie sollen Passanten angegriffen und mit ihren Krallen verletzt haben. In diesem Zusammenhang war von »düsterem Leid« die Rede. Das Kriegsministerium nahm sich der Sache an und stellte die Ordnung wieder her, worauf die Gerüchte verstummten. Zhengde, der für alles Neue ein offenes Ohr hatte, war kurz vor seinem Tod mit Angehörigen der portugiesischen Gesandtschaft zusammengekommen. Für seine Zeitgenossen und Nachfolger blieb diese Begegnung ohne Bedeutung, und sie brachte ihm nicht die tragische Berühmtheit ein, die sich für die Nachwelt mit der Person des Tlatoani von Mexiko-Tenochtitlan, Moctezuma Xocoyotzin, verbindet. Ein 1959 gedrehter Film namens Kingdom and Beauty hat nicht genügt, die Eskapaden eines Kaisers, der inkognito und als einfacher Bürger verkleidet seinen Vergnügungen nachging, erfolgreich zu verewigen. Über Moctezuma weiß man viel und doch wenig. Die Welt der Azteken ist uns noch fremder als die Welt des Alten China und vom Nimbus des Tragischen umgeben. Indios, Mestizen und Spanier haben uns von Moctezuma Xocoyotzin ein voreingenommenes, widersprüchliches Bild überliefert. Offenbar mussten unbedingt Gründe für den Untergang der Indio-Reiche gefunden oder die Heldentaten der spanischen Eroberer verherrlicht werden. Moctezuma, der Neffe und Thronnachfolger Ahuitzotls (1486–1502), wurde 1467 geboren. Bei der Ankunft des Hernán Cortés ist er bereits ein erfahrener Mann, der die Fünfzig überschritten hat. Als neunter Tlatoani herrscht er von 1502 bis 1520 über die Mexica von Mexiko-Tenochtitlan. Außerdem hat er das Sagen gegenüber Texcoco und Tlacopan, seinen Partnern im Dreibund (den »drei Häuptern«). Die abendländische Tradition hat aus ihm den »Kaiser der Azteken« gemacht. Die Geschichtsschreiber rühmen seine kriegerischen Tugenden, die er zu Beginn seiner Herrschaft unter Beweis gestellt hatte, von denen er aber den spanischen Eroberern gegenüber offenbar keinen Gebrauch machte. Er soll seine Kontrolle über die adlige Elite gestärkt und die Machtverhältnisse neu geordnet haben, indem er einen Teil der Gefolgsleute seines Vorgängers entmachtete. Ferner hat er den Kalender geändert – ein Eingriff, über dessen Tragweite später noch zu reden sein wird – und mehrere Feldzüge gegen die Feinde des Dreibundes geführt, allerdings mit wechselndem Erfolg. Die Niederlage, die er 1515 gegenüber Tlaxcala erlitt, beweist, dass man nicht Spanier sein und über Pferde und Feuerwaffen verfügen musste, um ihm Paroli zu bieten. Wie sein chinesischer Herrscherkollege Kaiser Zhengde leistete er sich einen Zoo mit exotischen Tieren und wie dieser liebte er die Frauen. Der Chronist Díaz del Castillo bescheinigt ihm, dass er kein Homosexueller war – ein Punkt, über den die Spanier immer Gewissheit haben wollten. Moctezuma starb entweder durch die Hand der Indios oder der Spanier. Die erst nach seinem Tod entstandenen Geschichten berichten von den vielen schlechten Vorzeichen während seiner Herrschaft, die aber die »Götzenpriester« nicht richtig zu deuten gewusst hatten. Erst später bringt man sie in Zusammenhang mit der spanischen Eroberung. Sein trauriges Ende wird der Stoff für Filme und Opern. Anders als Zhengde wird er zu einer unsterblichen Gestalt in der abendländischen Geschichte und in der europäischen Vorstellungswelt. Zwischen den beiden Herrschern gibt es keine Gemeinsamkeiten außer der Tatsache, dass beide in denselben historischen Prozess verwickelt sind. Im November 1519 begegnet Moctezuma den Spaniern in Mexiko; wenige Monate später lernt Zhengde die Portugiesen in Nanking kennen. Doch ehe wir uns mit dieser Koinzidenz beschäftigen, möchten wir zunächst eine knappe Darstellung Chinas und Mexikos zu Beginn des 16. Jahrhunderts einschieben. China unter Zhengde, Mexiko unter Moctezuma Im Jahr 1511 nehmen die Portugiesen Malakka in Besitz und die Spanier tun das gleiche mit Kuba. Ihre Flotten befinden sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe zweier gewaltiger »Eisberge«, deren sichtbare Teile sie in Kürze erkunden werden. Nur noch wenige Jahre bleiben Mexiko und China, ehe sie Ziel des frenetischen Eroberungswillens werden, die die Regierungen Spaniens und Portugals und ihre Untertanen beseelt. Beide Reiche teilen das Schicksal, die Nächsten auf der Liste der Entdeckungen oder Eroberungen der Spanier und Portugiesen zu sein. Vor allem aber sind beide in den Augen der Europäer – die Frucht einer jahrtausendealten Geschichte, die sich fern der europäisch-mittelmeerischen Welt abgespielt hat. China und Mexiko haben sich außerhalb des Kulturkreises des jüdisch-christlichen Monotheismusses und des politischen, juristischen und philosophischen Erbes der Griechen und Römer entwickelt, ohne sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen. Dies gilt mit der Einschränkung, dass China, anders als die indio-amerikanischen Gesellschaften, die ohne Kontakt zum Rest der Welt entstanden sind, über die berühmte Seidenstraße schon sehr lange Handelsverbindungen mit der mediterranen Welt gepflegt hat. Ferner darf nicht vergessen werden, dass China im Austausch mit weiten Teilen Eurasiens stand. Es übernahm den indischen Buddhismus, öffnete sich viele Jahrhunderte lang dem Islam und teilte mit diesen Kulturen die biologischen Abwehrkräfte, die den indio-amerikanischen Völkern bei ihrer Begegnung mit den Europäern schmerzhaft fehlten. Wie ist es um 1510 mit China und Mexiko bestellt? China ist tatsächlich ein Reich (wenngleich manche lieber von der chinesischen Welt sprechen), wohingegen Alt-Mexiko kein politisch geeintes Herrschaftsgebiet darstellt. Die Archäologen sprechen lieber von Mesoamerika, da Mexiko als nationales Gebilde ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts ist, das in der hier behandelten Epoche noch nicht existiert. Im Übrigen wollen wir nicht China und Mexiko vergleichen, sondern Grundzüge herausarbeiten, die uns Aufschluss bieten über die Reaktionen der Chinesen und Azteken bei der Begegnung mit den Europäern jener Zeit. Besonders interessieren uns hier jene Bereiche, auf die es bei einer Begegnung von Kulturen ankommt, nämlich auf die Mittel, sich zu Lande und auf dem Wasser rasch fortzubewegen, auf die Kunst, an Informationen zu gelangen und in Umlauf zu bringen, auf die Gewohnheit, im kontinentalen oder interkontinentalen Maßstab zu denken, auf die Fähigkeit, Material, Truppen und allgemein Menschen in nicht vorhersehbaren Situationen zu mobilisieren und schließlich auf die Neigung, die Welt als Ganzes zu denken. Alle diese Bereiche, teils technischer, teils psychologischer, teils intellektueller Natur, spielen eine Rolle in der Expansion der Portugiesen und Spanier: Ohne das nötige Kapital, ohne Schiffe, Pferde, Feuerwaffen und ohne die Schrift ist eine so weitreichende Expansion gar nicht denkbar, umfasst sie doch den Transport von Menschen und Material, logistische Unterstützung, Informationsgewinnung und Spionage, Gewinnung und Transport der Wirtschaftsgüter und, was oft vergessen wird, ein globales Bewusstsein. Eine Lagebeschreibung bleibt immer unbefriedigend, vor allem im Fall von Mittelamerika, denn was das kulturelle Gedächtnis angeht, sind China und Mexiko nicht annähernd gleichwertig. Obwohl im Zuge der spanischen Eroberung eine Fülle an Berichten und Beschreibungen publiziert wurde, bleibt die präkolumbische Zeit trotz der beachtlichen Fortschritte der archäologischen Forschung für uns weitgegend im Dunkeln. Die alten Mexikaner kannten die Schrift nicht, wohingegen die Chinesen seit mindestens dreitausend Jahren schrieben. Chinesische Quellen gibt es in Hülle und Fülle, während der Historiker auf der amerikanischen Seite lediglich über europäische Zeugnisse verfügt, abgesehen von einer kleinen Zahl einheimischer Erzählungen aus der Hand von Indios und Mestizen, die aber durch das Trauma der Eroberung und kolonialen Unterdrückung geprägt sind. Die Indio-Lebenswelten des 15. Jahrhunderts sind wahrscheinlich für uns für immer verloren. Die Welt Chinas hingegen spricht weiterhin zu uns und unser Wissen über sie vermehrt sich sogar stetig. Zhongguo Zhongguo, das Reich der Mitte – was das Alter betrifft, so kann sich weder die Neue Welt noch irgendeine andere Kultur mit dem imperialen China messen. Das Kaiserreich geht mit der Xia-Dynastie auf das 3. Jahrtausend v. Chr. zurück, während die Reiche der Azteken und Inka (um nur die »Dinosaurier« des amerikanischen Kontinents zu nennen) kaum ein Jahrhundert bestehen, bevor die spanische Eroberung beginnt. Chinas Alter, Kontinuität und Weitläufigkeit – mehr als 100, vielleicht 130 Millionen Einwohner und seine unschätzbaren Reichtümer, all das entdecken die Portugiesen staunend und sie lassen es sich mit merklichem Vergnügen schildern, ehe sie es ihrerseits den übrigen Europäern berichten. Das chinesische Kaiserreich verfügt seit vielen Jahrhunderten über einen eingespielten, mächtigen Verwaltungsapparat, der das Land durch Myriaden von Mandarinen, Eunuchen, Richtern, Beamten, Inspekteuren und Militärs fest im Griff hat. Dabei spielt die Armee, von den südlichen Grenzen abgesehen, nur eine untergeordnete Rolle. Der Apparat erneuert sich durch ein landesweites Bewerbungssystem, das für die Kontinuität in der Machtausübung zwischen dem Kaiserhof in Peking, den Provinzhauptstädten und den unteren Rängen des Reiches sorgt. Nicht Territorialfürsten oder Schwertadel, sondern eine Gentry aus gebildeten Beamten trägt das Reich. Diejenigen, die in den Auswahlverfahren erfolgreich abschneiden und über familiäre oder regionale Beziehungen verfügen, streben in die Hauptstadt des Reiches. Die 20.000 führenden Beamten der konfuzianischen Bürokratie und die 100.000 Eunuchen zusammengenommen vermitteln aus europäischer oder mexikanischer Sicht das Bild einer aufgeblähten Verwaltung. In Wirklichkeit ist das China des 16. Jahrhunderts ein Koloss, dessen Verwaltung große Lücken aufweist. Wie in allen Bürokratien ist überall dort, wo der Arm der kaiserlichen Kontrolle nicht hinreicht oder zu kraftlos bleibt, die Korruption das Öl im Getriebe. Sie grassiert besonders an der Südküste, die ihren Wohlstand zum großen Teil dem Handel mit dem Ausland verdankt. Die Portugiesen sind hier die Nutznießer. Die kaiserliche Verwaltung funktioniert nicht reibungslos, Misswirtschaft, Revolten und das Räuberunwesen zeugen davon. Aber man muss doch zugestehen, dass die chinesische Bürokratie als einzige in der damaligen Welt eine so große Bevölkerung und ein so ausgedehntes Territorium verwalten kann. An dieser Bürokratie reibt sich auch die Macht des Kaisers: Die Freiheiten, die er sich gegenüber dem höfischen Zeremoniell herausnimmt, seine militärischen Anwandlungen, seine Neugier auf andere Kulturen und seine globalen Ambitionen missfallen den gebildeten Mandarinen, für die ganz andere Werte zählen. China ist aber auch eine große Handelsmacht für Waren wie Getreide, Seide, Salz, Tee und Porzellan. Der stetig zunehmende Verkehr auf dem Großen Kanal, der Hauptverkehrsader für den Nord-Süd-Handel, belegt den regen Austausch. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stärken die Kaufleute ihre Position gegenüber der Gentry, die missgünstig auf die Emporkömmlinge herabsieht. Ihre Umtriebigkeit stört die Prinzipien der konfuzianischen Moral, denn sie setzen lieber auf das freie Spiel des Marktes und nicht auf die geheiligte, feste Ordnung der ländlichen Welt. Die alten Muster sind aber noch so prägend, dass sich auch die Akteure der neuen Klasse ihnen angleichen. Die Kaufleute von Huizhou, reich geworden durch den Export von Getreide und Tee und durch das Salzmonopol, streben nach einem höheren gesellschaftlichen Status und orientieren sich an der Welt der hohen Beamten. Die Gentry kann ihrerseits dem Hang zum Luxus – altes Porzellan, exotische Früchte nicht widerstehen, den die reichen Kaufleute aus oft weit entfernten Gegenden importieren. Schließlich hat es schon immer zu den Eigentümlichkeiten ihrer Angehörigen gehört, seltene und teure Güter zu sammeln und zu konsumieren. Daher ist es auch verständlich, dass die von den Portugiesen eingeführten exotischen Waren den Druck verstärken, sich dem Austausch mit den Europäern zu öffnen und Beziehungen zwischen den Kulturen zu pflegen. Der Handel, die Post und das Militär nutzen ein funktionstüchtiges und dichtes Verkehrsnetz aus Straßen, Poststationen, Kanälen und Brücken. Kutschen, Sänften und Barken sind im ganzen Land verbreitet. Der ausgezeichnete Zustand der Straßen und Brücken – seien es Stein- oder Pontonbrücken – lässt die europäischen Reisenden ihren Augen nicht trauen. Ebenso staunen sie über die landwirtschaftliche Nutzung: Reisfelder so weit das Auge reicht und kein Zoll Boden, der nicht zum Anbau genutzt würde, Scharen von Bauern, die auf den Feldern arbeiten. Der hohe Stand von Landwirtschaft und Technik verdankt sich der Verbreitung des Buchdrucks, der besonders am Ende des 15. Jahrhunderts seinen Aufstieg nimmt. Publizieren ist ein sehr lukrativer Geschäftszweig und die Produkte des Druckhauses Shendu in Fujian spiegeln das Bild eines dynamischen und auf vielen Gebieten »fortschrittlicheren« Reiches wider als die des christlichen Europa. Dank des boomenden Buchdrucks werden gängige Werke immer wieder aufgelegt wie der konfuzianische Kanon, normative Texte wie das Gesetzbuch und die Dekrete der Ming sowie historische Werke über das Kaiserreich. Der Erfolg ist auch der Lesekultur zuzuschreiben. In diesem Zusammenhang denkt man unwillkürlich an die Verbreitung des Buchdrucks im Europa des 15. Jahrhunderts. Mit dem Unterschied, dass der gedruckte Text – »mit dem man von dem Zimmer aus, in dem man steht, die ganze Welt umfassen kann« – in China schon seit Jahrhunderten im Wechselspiel mit der weiterhin vorherrschenden Mündlichkeit gedeiht. Die Revolution des Buchdrucks haben die Chinesen des 16. Jahrhunderts schon lange hinter sich. Die Schrift ist die Speerspitze einer beeindruckenden Verwaltung, sie bildet die Grundlage für ein intensives philosophisches Nachdenken, aber sie dient auch bisweilen rebellischen Geistern aus den Provinzen, ihre Ansichten und Reaktionen auf das Weltgeschehen zu verbreiten. Überall im Reich erscheinen Zeitungen, die Neuigkeiten kolportieren, Kenntnisse und Techniken verbreiten, den Austausch zwischen den Landesteilen fördern und nicht zuletzt auf den Flug der Drachen als Vorboten künftiger Katastrophen hinweisen. Die Rede vom »chinesischen Denken« führt unweigerlich zu Verallgemeinerungen, die seiner Vielfalt und der Originalität der Neuerungen nicht gerecht werden. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts stehen den Kandidaten für die Beamtenprüfungen die Texte der neokonfuzianischen Schriften, die sie kennen müssen, in gedruckten Kompilationen zur Verfügung. Diese Schriften wie die Summa (Kommentare) zu den Vier Büchern sind Ausdruck eines orthodoxen Denkens aus der Zeit der Song-Dynastie, das nun im ganzen Kaiserreich verbreitet wird und das Denken der Angehörigen der Beamtenschicht noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägen soll. Das heißt aber nicht, dass sich das geistige Leben in China ausschließlich um die Klassiker drehte. Die konfuzianische Orthodoxie begegnet dem Buddhismus, setzt sich mit quietistischen Tendenzen auseinander, für die die Innenschau wichtiger ist als das weltzugewandte aktive Leben, und hat als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen auch abweichende Lehrmeinungen zu dulden. Hochkultur und Volkskultur vermischen sich wie überall, während synkretistische Strömungen zu der Auffassung gelangen, dass Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus ein und dasselbe seien. Ein Grund für diesen Synkretismus und das Aufbrechen der religiösen Traditionen liegt darin, dass der spirituellen Erfahrung ein höherer Stellenwert zugemessen wird als das Korpus der Lehrschriften.
Westwärts schweift der Blick Richard Wagner, Tristan und Isolde, I, 1 Für Agnès Fontaine Einleitung Andromache: Der trojanische Krieg findet nicht statt, Kassandra! Jean Giraudoux, Kein Krieg in Troja, I,1 Die Wege, die uns von Mexiko nach China - und zu diesem Buch - geführt haben, wurden von literarischen Werken gekreuzt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst worden sind. Lange haben wir erwogen, uns für dieses Buch von Jean Giraudoux zu dem Titel »Kein Krieg in China« inspirieren zu lassen, doch dann darauf verzichtet. Besser verstehen wir heute vielleicht die Welten, die Paul Claudel wieder zum Leben erweckt hat. In den vier Tagen seines Schauspiels Le Soulier de satin (1929, »Der seidene Schuh«) sprechen Personen miteinander, die aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengekommen sind. »Der Schauplatz dieser Handlung ist die Welt, und genauer das Spanien des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts«. Mit seiner »Verdichtung von Ländern und Zeitaltern« wollte Claudel keine Geschichtsschreibung vorlegen, sondern er versetzt uns in die Turbulenzen einer Globalisierung, die weder die erste noch die letzte war. Diese Globalisierung breitete sich im 16. Jahrhundert im Gefolge der portugiesischen und spanischen Expeditionen ziemlich rasch aus. Der aztekische Adler und der chinesische Drache waren die Ersten, die unter dem maßlosen Machthunger der Europäer zu leiden hatten. Die Globalisierung unterscheidet sich vom europäischen Expansionismus. Für Letzteren wurden technische, finanzielle und geistige Ressourcen eingesetzt und vor allem Menschen mobilisiert. Politische Ziele, wirtschaftliche Erwägungen und religiöse Bestrebungen spielten mehr oder weniger glücklich zusammen, um Seeleute, Soldaten, Geistliche und Händler tausende Kilometer fern der Iberischen Halbinsel um den ganzen Erdball zu schicken. Die portugiesische und spanische Expansion hat Kettenreaktionen ausgelöst und Schockwellen, die ganze Kulturen zum Einsturz gebracht haben. So geschah es jedenfalls in Amerika. In Asien stieß sie auf einen Widerstand, dem sie nicht gewachsen war, in Afrika verlief sie sich in den Wäldern und Sümpfen des schwarzen Kontinents. Die Vorstellung eines unvermeidlichen Vormarsches der Europäer - ob man sie für eine zivilisatorische Heldentat hält oder sie verdammt - ist eine Täuschung, von der nur schwer loszukommen ist. Mit ihr ist eine lineare und teleologische Konzeption der Geschichte verbunden, die gleichermaßen die Feder des Geschichtsschreibers und das Auge seines Lesers lenkt. Was schon im Hinblick auf die Expansion der Portugiesen und Spanier falsch ist, ist es in noch größerem Maß beim Phänomen der Globalisierung, die man als die Vervielfältigung der Beziehungen der Kontinente untereinander bezeichnen könnte, die vorher nicht einmal voneinander wussten oder die sich nur von ferne kannten. Die Globalisierung des 16. Jahrhunderts umfasst Europa, Afrika, Asien und die Neue Welt, und der Austausch zwischen diesen Kontinenten erreicht ein bis dahin unbekannten Ausmaß. Ein Netz mit großen Lücken, das außerdem mit jedem Schiffbruch wieder zerreißen kann, umspannt ungeachtet aller politischen und kulturellen Grenzen nach und nach den ganzen Erdball. Wer sind die Träger der Globalisierung? Völker Afrikas, Asiens und des indianischen Amerika nehmen nolens volens daran teil. Aber die Energie zur Mission, zum Handel und zur imperialistischen Expansion kommt - wenigstens am Anfang und für gut anderthalb Jahrhunderte von den Portugiesen, Spaniern und Italienern. Der chinesische Diener im Seidenen Schuh entgegnet Don Rodrigue, dem Vizekönig von Indien: »So hat jeder den andern gepackt und wir sitzen gemeinsam in der Klemme.« Was nehmen die Zeitgenossen davon wahr? Ihr Blick geht oft tiefer als der der nachfolgenden Historiker. Menschen des 16. Jahrhunderts, und zwar nicht nur Europäer, erfassen das Ausmaß der Veränderung, die vor ihren Augen geschieht und sie sehen darin im religiösen Sinne Möglichkeiten der Missionierung. Die Globalisierung tritt aber auch ins Bewusstsein all jener, die offen sind für die Beschleunigung des Verkehrs zwischen den verschiedenen Erdteilen, für die Entdeckung neuer Landstriche und neuer Völker. Sie sehen neue Profitquellen aus Investitionen in Ländern am anderen Ende der Welt, sie ahnen, dass die ungeheure Ausweitung der Handelsräume Chancen und Risiken birgt. Nichts scheint sich der Neugier der Reisenden entziehen zu können - freilich sind sie bei ihren Entdeckungen fast immer auf die Mithilfe einheimischer Führer und Begleiter angewiesen. Die Entdeckung Amerikas oder die Eroberung Mexikos kann historischen Persönlichkeiten wie Christoph Kolumbus und Hernán Cortés zugeschrieben werden. Das mag in der Sache problematisch sein, aber die Methode ist gängig. Der Abstand von Jahrhunderten und unser fehlendes Wissen drängen uns zu solchen Vereinfachungen. Anders verhält es sich mit der Globalisierung. Sie hat keinen Urheber. Sie ist das Ergebnis der Vorstöße der Portugiesen und Spanier, aber nun auf der Ebene unseres Planeten. Sie vermischt die verschiedenen historischen Entwicklungen, die sich nun plötzlich schneiden und für unerwartete und bis dahin nicht vorstellbare Ergebnisse sorgen. Die Globalisierung stellt keinen Automatismus dar, der nach einem vorgegebenen Plan die Vereinheitlichung der ganzen Welt betreibt. Es ist daher falsch zu glauben, dass unsere heutige Globalisierung mit dem Fall der Berliner Mauer eingesetzt habe. Freilich wäre es auch verfehlt anzunehmen, dass sie der mächtige Baum sei, der sich aus einem im 16. Jahrhundert gepflanzten Samenkorn entwickelt habe. Vielmehr ist es so, dass unsere Zeit aus mehreren Gründen vieles jener fernen Epoche zu verdanken hat, sofern man den Gedanken akzeptiert, dass das Fehlen eines linearen oder determinierenden Zusammenhangs nicht zwangsläufig den Lauf der Geschichte in eine Kaskade zufälliger, bedeutungsloser Ereignisse auflöst. Im 16. Jahrhundert erweitert sich der Raum der Menschheitsgeschichte über den gesamten Globus. Von diesem Zeitpunkt an verdichten sich die Verbindungen zwischen den Erdteilen: Europa-Karibik ab 1492, Lissabon-Kanton ab 1513, Sevilla-Mexiko ab 1517 usw. Ein weiterer Grund, dessen Untersuchung im Zentrum des vorliegenden Buches steht, kommt noch hinzu: Mit der portugiesischen und spanischen Globalisierung werden Europa, die Neue Welt und China Partner auf weltumspannender Ebene. China und Amerika spielen eine Hauptrolle in der gegenwärtigen Globalisierung. Wie kommt es überhaupt, dass sich China und Amerika auf dem globalen Schachbrett gegenüberstehen? Und warum zeigt Amerika heute Anzeichen der Schwäche, während China dazu ansetzt, ihm den ersten Rang streitig zu machen? In einer früheren Publikation mit dem Titel Quelle heure est-il là-bas? haben wir uns gefragt, welche Verbindungen seit dem 16. Jahrhundert zwischen der Neuen Welt und der Welt des Islams entstanden sind. Diese Weltgegenden erlebten die unmittelbaren Folgen der Expansion der Europäer über den ganzen Globus. Kolumbus glaubte fest, dass mit seiner Entdeckung das nötige Gold kommen würde, das die Christen für die Rückeroberung Jerusalems und den Sieg über den Islam brauchten. Im Osmanischen Reich machte man sich unterdessen Sorgen, dass ein Kontinent, der im Koran nicht erwähnt wurde und den die islamischen Gelehrten nicht kannten, dem Unglauben und der Beutegier der Christen anheimfiel. Das Thema der Globalisierung, die nach und nach den ganzen Planeten zu einem gemeinsamen Geschichtsschauplatz gemacht hat, wird nicht vollständig behandelt, wenn das im 16. Jahrhundert einsetzende Verhältnis zwischen islamischer Welt, Europa und Amerika außer Acht bleibt. Reicht das aber? Dass fortan mit einem vierten Kontinent gerechnet werden muss, ist die Errungenschaft der Globalisierung durch Portugiesen und Spanier, doch dass auch China im Horizont Europas und Amerikas auftaucht, ist eine nicht minder bedeutende Umwälzung. Dass dies beinahe gleichzeitig mit der Entdeckung Mexikos geschehen ist, hätte uns schon früher auffallen können, doch unserer Aufmerksamkeit, die lange von Mittelamerika gefesselt wurde, war entgangen, dass Letzteres eben nicht am anderen Ende der Welt lag, sondern, wie die Azteken nicht müde wurden zu wiederholen, in deren Mitte. Im 16. Jahrhundert haben die Portugiesen und Spanier zweimal mit dem Gedanken gespielt, China zu erobern. Doch ihr Wunsch ist nie in Erfüllung gegangen. »Kein Krieg in China« könnte man in Anspielung an ein berühmtes Theaterstück von Jean Giraudoux sagen. Manche werden das, freilich spät, bedauern. Andere werden mit uns darüber nachdenken, was diese Eroberungsgelüste, die sich gleichzeitig mit der Kolonisierung Amerikas und der Entdeckung des Pazifischen Ozeans regen, für uns zu bedeuten haben. China, der Pazifik, die Neue Welt und das Europa der Spanier und Portugiesen sind die Protagonisten einer gemeinsamen Geschichte, die sich aus ihrer Begegnung und ihrer Konfrontation entwickelt. Diese Geschichte lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Expansionsdrang der Portugiesen und Spanier hat Erfolg in Amerika und scheitert in China - und das in ein und demselben Jahrhundert. Dies lehrt uns eine Globalgeschichte des 16. Jahrhunderts, die weniger eurozentrisch auf das Zeitalter der Renaissance fixiert ist. Eine solche Betrachtungsweise ist unserer heutigen Zeit sicherlich angemessener. Zwei ruhige Welten An Asien erschreckt mich das Bild unserer Zukunft, die dort schon vorweggenommen ist. Am indianischen Amerika schätze ich den Widerschein einer Zeit, als der Raum noch dem Maß seines Universums entsprach. Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen Im Jahr 1520 sind Karl V., Franz I. und Heinrich VIII. die aufsteigenden Gestirne am Himmel der lateinischen Christenheit. Karl wird am Anfang des Jahrhunderts in Gent geboren, 1517 ist er spanischer König, 1520 wird er zum römisch-deutschen König gekrönt. Franz I. ist seit 1515 König von Frankreich, und Heinrich VIII. seit 1509 König von England. Portugals alter König Manuel I. besaß noch genug Elan für eine Heirat mit der Schwester des Tudor-Königs. Im Gegensatz zu ihren französischen und englischen Rivalen hegten Karl V. und Manuel I. ozeanische Herrschaftsziele, mit denen sie ihre Reiche in andere Welten ausdehnten. Im November des Jahres 1519 fällt ein spanischer Abenteurer namens Hernán Cortés an der Spitze einer kleinen Truppe von Fußsoldaten und Reitern in Mexiko ein. Im Juni des Jahres 1520 verschafft sich eine zahlenmäßig noch kleinere portugiesische Gesandtschaft Eintritt in Nanking. Dort wird der portugiesische Botschafter Tomé Pires von Kaiser Zhengde empfangen. Koreanische Beobachter wissen zu berichten, dass sich Portugiesen im Gefolge des Kaisers aufhalten und dass man ihnen den islamischen Kaufmann Khôjja Asan als Führer und Dolmetscher beigesellt hatte. Um die gleiche Zeit begegnete in Mexiko Hernán Cortés Moctezuma, dem Oberhaupt des Dreibundes oder anders bezeichnet dem »Kaiser der Azteken«. Zwei Kaiser Im Juni des Jahres 1505 ist Zhu Houzhao, so Zhengdes ursprünglicher Name, seinem Vater, dem Kaiser Hongzhi, auf den Thron gefolgt. Der zehnte Ming-Kaiser ist vierzehn Jahre alt, er stirbt 1521. Von den Geschichtsschreibern ist seine Herrschaft harsch kritisiert worden. Will man ihnen glauben, so soll Zhengde seine Regierungsgeschäfte vernachlässigt haben, um sich dem Vergnügen hinzugeben. Er habe sich lieber außerhalb der Verbotenen Stadt bewegt und geduldet, dass sich seine raffgierigen Eunuchen bereichern. Tatsächlich war Zhengde aber auch ein Kriegsherr, der sich der Bevormundung durch die kaiserliche Hofverwaltung entzog, um an die Politik der Öffnung, ja an den Kosmopolitismus der vorangegangenen mongolischen Yuan-Dynastie anzuknüpfen. Da er seine freie Zeit am liebsten außerhalb des Palastes verbrachte, suchte er, umgeben von mongolischen und jurchischen Leibwächtern, die Gesellschaft von tibetischen Mönchen, islamischen Schriftgelehrten und Künstlern aus dem Innern Asiens, oder aber er suchte den Kontakt zu ausländischen Botschaftern, die sich vorübergehend in Peking aufhielten. Er soll sogar den Verzehr von Schweinefleisch verboten haben, weil er sich davon bessere Beziehungen zu den islamischen Mächten Zentralasiens versprach. In den Jahren 1518 und 1519 befehligt Zhengde selbst einen Feldzug im Norden gegen die Mongolen und im Süden in der Region Jiangxi. Noch 1521 entmachtet er einen aufsässigen Fürsten und lässt ihn in Tongzhou hinrichten. Doch das verleiht ihm keine geschichtliche Größe. Das ist jedenfalls der Eindruck, den die amtliche Geschichtsschreibung und die nach seinem Tod erscheinenden offiziösen Darstellungen verbreiten. Die einen wie die anderen sind sich darin einig, dass seine Herrschaft eine Zeit der Unruhe und des Niedergangs (moshi) gewesen sei. Landflucht der Bauern, die es in die Bergwerke und die Städte zieht, Aufstieg der Neureichen, Verfall der Traditionen, »heimische Bräuche, die dem Wandel zum Opfer fallen«, Willkür der Verwaltung, Elend und Unruhe unter den einfachen Menschen, ein Grassieren des Schmuggels mit den Japanern die Bilanz, die die Geschichtsschreibung zieht, ist vernichtend. Hinzu kommen die Naturkatastrophen - Überschwemmung und Hungersnot des Jahres 1511 -, die man ebenfalls der Krise der Gesellschaft zuschreibt. Doch die Krise betrifft nicht die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Denn in dieser Epoche entstehen viele neue Wirtschaftsagglomerate, die Produktion ist in allen Bereichen gestiegen und der internationale Handel steht in voller Blüte. Im Jahr 1520 verliert der betrunkene Herrscher auf seiner kaiserlichen Barke den Halt und fällt in den Großen Kanal, der Hauptverkehrsader, die den Norden und den Süden des Reiches verbindet. Das Fieber oder die Lungenentzündung, die er sich bei diesem unfreiwilligen Bad zuzieht, wird ihm das Leben kosten. Dreißigjährig stirbt er am 20. April des folgenden Jahres. Das eisige Wasser hatte ihm den Tod gebracht und da das Wasser als das Element des Drachen galt, gaben die Geschichtsschreiber den Drachen die Schuld an seinem Ende. Wenige Monate vor seinem Tod sollen fremde Wesen die Ruhe in den Straßen Pekings gestört haben. Sie sollen Passanten angegriffen und mit ihren Krallen verletzt haben. In diesem Zusammenhang war von »düsterem Leid« die Rede. Das Kriegsministerium nahm sich der Sache an und stellte die Ordnung wieder her, worauf die Gerüchte verstummten. Zhengde, der für alles Neue ein offenes Ohr hatte, war kurz vor seinem Tod mit Angehörigen der portugiesischen Gesandtschaft zusammengekommen. Für seine Zeitgenossen und Nachfolger blieb diese Begegnung ohne Bedeutung, und sie brachte ihm nicht die tragische Berühmtheit ein, die sich für die Nachwelt mit der Person des Tlatoani von Mexiko-Tenochtitlan, Moctezuma Xocoyotzin, verbindet. Ein 1959 gedrehter Film namens Kingdom and Beauty hat nicht genügt, die Eskapaden eines Kaisers, der inkognito und als einfacher Bürger verkleidet seinen Vergnügungen nachging, erfolgreich zu verewigen. Über Moctezuma weiß man viel und doch wenig. Die Welt der Azteken ist uns noch fremder als die Welt des Alten China und vom Nimbus des Tragischen umgeben. Indios, Mestizen und Spanier haben uns von Moctezuma Xocoyotzin ein voreingenommenes, widersprüchliches Bild überliefert. Offenbar mussten unbedingt Gründe für den Untergang der Indio-Reiche gefunden oder die Heldentaten der spanischen Eroberer verherrlicht werden. Moctezuma, der Neffe und Thronnachfolger Ahuitzotls (1486-1502), wurde 1467 geboren. Bei der Ankunft des Hernán Cortés ist er bereits ein erfahrener Mann, der die Fünfzig überschritten hat. Als neunter Tlatoani herrscht er von 1502 bis 1520 über die Mexica von Mexiko-Tenochtitlan. Außerdem hat er das Sagen gegenüber Texcoco und Tlacopan, seinen Partnern im Dreibund (den »drei Häuptern«). Die abendländische Tradition hat aus ihm den »Kaiser der Azteken« gemacht. Die Geschichtsschreiber rühmen seine kriegerischen Tugenden, die er zu Beginn seiner Herrschaft unter Beweis gestellt hatte, von denen er aber den spanischen Eroberern gegenüber offenbar keinen Gebrauch machte. Er soll seine Kontrolle über die adlige Elite gestärkt und die Machtverhältnisse neu geordnet haben, indem er einen Teil der Gefolgsleute seines Vorgängers entmachtete. Ferner hat er den Kalender geändert - ein Eingriff, über dessen Tragweite später noch zu reden sein wird - und mehrere Feldzüge gegen die Feinde des Dreibundes geführt, allerdings mit wechselndem Erfolg. Die Niederlage, die er 1515 gegenüber Tlaxcala erlitt, beweist, dass man nicht Spanier sein und über Pferde und Feuerwaffen verfügen musste, um ihm Paroli zu bieten. Wie sein chinesischer Herrscherkollege Kaiser Zhengde leistete er sich einen Zoo mit exotischen Tieren und wie dieser liebte er die Frauen. Der Chronist Díaz del Castillo bescheinigt ihm, dass er kein Homosexueller war - ein Punkt, über den die Spanier immer Gewissheit haben wollten. Moctezuma starb entweder durch die Hand der Indios oder der Spanier. Die erst nach seinem Tod entstandenen Geschichten berichten von den vielen schlechten Vorzeichen während seiner Herrschaft, die aber die »Götzenpriester« nicht richtig zu deuten gewusst hatten. Erst später bringt man sie in Zusammenhang mit der spanischen Eroberung. Sein trauriges Ende wird der Stoff für Filme und Opern. Anders als Zhengde wird er zu einer unsterblichen Gestalt in der abendländischen Geschichte und in der europäischen Vorstellungswelt. Zwischen den beiden Herrschern gibt es keine Gemeinsamkeiten außer der Tatsache, dass beide in denselben historischen Prozess verwickelt sind. Im November 1519 begegnet Moctezuma den Spaniern in Mexiko; wenige Monate später lernt Zhengde die Portugiesen in Nanking kennen. Doch ehe wir uns mit dieser Koinzidenz beschäftigen, möchten wir zunächst eine knappe Darstellung Chinas und Mexikos zu Beginn des 16.Jahrhunderts einschieben. China unter Zhengde, Mexiko unter Moctezuma Im Jahr 1511 nehmen die Portugiesen Malakka in Besitz und die Spanier tun das gleiche mit Kuba. Ihre Flotten befinden sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe zweier gewaltiger »Eisberge«, deren sichtbare Teile sie in Kürze erkunden werden. Nur noch wenige Jahre bleiben Mexiko und China, ehe sie Ziel des frenetischen Eroberungswillens werden, die die Regierungen Spaniens und Portugals und ihre Untertanen beseelt. Beide Reiche teilen das Schicksal, die Nächsten auf der Liste der Entdeckungen oder Eroberungen der Spanier und Portugiesen zu sein. Vor allem aber sind beide in den Augen der Europäer - die Frucht einer jahrtausendealten Geschichte, die sich fern der europäisch-mittelmeerischen Welt abgespielt hat. China und Mexiko haben sich außerhalb des Kulturkreises des jüdisch-christlichen Monotheismusses und des politischen, juristischen und philosophischen Erbes der Griechen und Römer entwickelt, ohne sich ganz auf sich selbst zurückzuziehen. Dies gilt mit der Einschränkung, dass China, anders als die indio-amerikanischen Gesellschaften, die ohne Kontakt zum Rest der Welt entstanden sind, über die berühmte Seidenstraße schon sehr lange Handelsverbindungen mit der mediterranen Welt gepflegt hat. Ferner darf nicht vergessen werden, dass China im Austausch mit weiten Teilen Eurasiens stand. Es übernahm den indischen Buddhismus, öffnete sich viele Jahrhunderte lang dem Islam und teilte mit diesen Kulturen die biologischen Abwehrkräfte, die den indio-amerikanischen Völkern bei ihrer Begegnung mit den Europäern schmerzhaft fehlten. Wie ist es um 1510 mit China und Mexiko bestellt? China ist tatsächlich ein Reich (wenngleich manche lieber von der chinesischen Welt sprechen), wohingegen Alt-Mexiko kein politisch geeintes Herrschaftsgebiet darstellt. Die Archäologen sprechen lieber von Mesoamerika, da Mexiko als nationales Gebilde ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts ist, das in der hier behandelten Epoche noch nicht existiert. Im Übrigen wollen wir nicht China und Mexiko vergleichen, sondern Grundzüge herausarbeiten, die uns Aufschluss bieten über die Reaktionen der Chinesen und Azteken bei der Begegnung mit den Europäern jener Zeit. Besonders interessieren uns hier jene Bereiche, auf die es bei einer Begegnung von Kulturen ankommt, nämlich auf die Mittel, sich zu Lande und auf dem Wasser rasch fortzubewegen, auf die Kunst, an Informationen zu gelangen und in Umlauf zu bringen, auf die Gewohnheit, im kontinentalen oder interkontinentalen Maßstab zu denken, auf die Fähigkeit, Material, Truppen und allgemein Menschen in nicht vorhersehbaren Situationen zu mobilisieren und schließlich auf die Neigung, die Welt als Ganzes zu denken. Alle diese Bereiche, teils technischer, teils psychologischer, teils intellektueller Natur, spielen eine Rolle in der Expansion der Portugiesen und Spanier: Ohne das nötige Kapital, ohne Schiffe, Pferde, Feuerwaffen und ohne die Schrift ist eine so weitreichende Expansion gar nicht denkbar, umfasst sie doch den Transport von Menschen und Material, logistische Unterstützung, Informationsgewinnung und Spionage, Gewinnung und Transport der Wirtschaftsgüter und, was oft vergessen wird, ein globales Bewusstsein. Eine Lagebeschreibung bleibt immer unbefriedigend, vor allem im Fall von Mittelamerika, denn was das kulturelle Gedächtnis angeht, sind China und Mexiko nicht annähernd gleichwertig. Obwohl im Zuge der spanischen Eroberung eine Fülle an Berichten und Beschreibungen publiziert wurde, bleibt die präkolumbische Zeit trotz der beachtlichen Fortschritte der archäologischen Forschung für uns weitgegend im Dunkeln. Die alten Mexikaner kannten die Schrift nicht, wohingegen die Chinesen seit mindestens dreitausend Jahren schrieben. Chinesische Quellen gibt es in Hülle und Fülle, während der Historiker auf der amerikanischen Seite lediglich über europäische Zeugnisse verfügt, abgesehen von einer kleinen Zahl einheimischer Erzählungen aus der Hand von Indios und Mestizen, die aber durch das Trauma der Eroberung und kolonialen Unterdrückung geprägt sind. Die Indio-Lebenswelten des 15. Jahrhunderts sind wahrscheinlich für uns für immer verloren. Die Welt Chinas hingegen spricht weiterhin zu uns und unser Wissen über sie vermehrt sich sogar stetig. Zhongguo Zhongguo, das Reich der Mitte- was das Alter betrifft, so kann sich weder die Neue Welt noch irgendeine andere Kultur mit dem imperialen China messen. Das Kaiserreich geht mit der Xia-Dynastie auf das 3. Jahrtausend v. Chr. zurück, während die Reiche der Azteken und Inka (um nur die »Dinosaurier« des amerikanischen Kontinents zu nennen) kaum ein Jahrhundert bestehen, bevor die spanische Eroberung beginnt. Chinas Alter, Kontinuität und Weitläufigkeit - mehr als 100, vielleicht 130 Millionen Einwohner und seine unschätzbaren Reichtümer, all das entdecken die Portugiesen staunend und sie lassen es sich mit merklichem Vergnügen schildern, ehe sie es ihrerseits den übrigen Europäern berichten. Das chinesische Kaiserreich verfügt seit vielen Jahrhunderten über einen eingespielten, mächtigen Verwaltungsapparat, der das Land durch Myriaden von Mandarinen, Eunuchen, Richtern, Beamten, Inspekteuren und Militärs fest im Griff hat. Dabei spielt die Armee, von den südlichen Grenzen abgesehen, nur eine untergeordnete Rolle. Der Apparat erneuert sich durch ein landesweites Bewerbungssystem, das für die Kontinuität in der Machtausübung zwischen dem Kaiserhof in Peking, den Provinzhauptstädten und den unteren Rängen des Reiches sorgt. Nicht Territorialfürsten oder Schwertadel, sondern eine Gentry aus gebildeten Beamten trägt das Reich. Diejenigen, die in den Auswahlverfahren erfolgreich abschneiden und über familiäre oder regionale Beziehungen verfügen, streben in die Hauptstadt des Reiches. Die 20.000 führenden Beamten der konfuzianischen Bürokratie und die 100.000 Eunuchen zusammengenommen vermitteln aus europäischer oder mexikanischer Sicht das Bild einer aufgeblähten Verwaltung. In Wirklichkeit ist das China des 16. Jahrhunderts ein Koloss, dessen Verwaltung große Lücken aufweist. Wie in allen Bürokratien ist überall dort, wo der Arm der kaiserlichen Kontrolle nicht hinreicht oder zu kraftlos bleibt, die Korruption das Öl im Getriebe. Sie grassiert besonders an der Südküste, die ihren Wohlstand zum großen Teil dem Handel mit dem Ausland verdankt. Die Portugiesen sind hier die Nutznießer. Die kaiserliche Verwaltung funktioniert nicht reibungslos, Misswirtschaft, Revolten und das Räuberunwesen zeugen davon. Aber man muss doch zugestehen, dass die chinesische Bürokratie als einzige in der damaligen Welt eine so große Bevölkerung und ein so ausgedehntes Territorium verwalten kann. An dieser Bürokratie reibt sich auch die Macht des Kaisers: Die Freiheiten, die er sich gegenüber dem höfischen Zeremoniell herausnimmt, seine militärischen Anwandlungen, seine Neugier auf andere Kulturen und seine globalen Ambitionen missfallen den gebildeten Mandarinen, für die ganz andere Werte zählen. China ist aber auch eine große Handelsmacht für Waren wie Getreide, Seide, Salz, Tee und Porzellan. Der stetig zunehmende Verkehr auf dem Großen Kanal, der Hauptverkehrsader für den Nord-Süd-Handel, belegt den regen Austausch. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stärken die Kaufleute ihre Position gegenüber der Gentry, die missgünstig auf die Emporkömmlinge herabsieht. Ihre Umtriebigkeit stört die Prinzipien der konfuzianischen Moral, denn sie setzen lieber auf das freie Spiel des Marktes und nicht auf die geheiligte, feste Ordnung der ländlichen Welt. Die alten Muster sind aber noch so prägend, dass sich auch die Akteure der neuen Klasse ihnen angleichen. Die Kaufleute von Huizhou, reich geworden durch den Export von Getreide und Tee und durch das Salzmonopol, streben nach einem höheren gesellschaftlichen Status und orientieren sich an der Welt der hohen Beamten. Die Gentry kann ihrerseits dem Hang zum Luxus - altes Porzellan, exotische Früchte nicht widerstehen, den die reichen Kaufleute aus oft weit entfernten Gegenden importieren. Schließlich hat es schon immer zu den Eigentümlichkeiten ihrer Angehörigen gehört, seltene und teure Güter zu sammeln und zu konsumieren. Daher ist es auch verständlich, dass die von den Portugiesen eingeführten exotischen Waren den Druck verstärken, sich dem Austausch mit den Europäern zu öffnen und Beziehungen zwischen den Kulturen zu pflegen. Der Handel, die Post und das Militär nutzen ein funktionstüchtiges und dichtes Verkehrsnetz aus Straßen, Poststationen, Kanälen und Brücken. Kutschen, Sänften und Barken sind im ganzen Land verbreitet. Der ausgezeichnete Zustand der Straßen und Brücken - seien es Stein- oder Pontonbrücken - lässt die europäischen Reisenden ihren Augen nicht trauen. Ebenso staunen sie über die landwirtschaftliche Nutzung: Reisfelder so weit das Auge reicht und kein Zoll Boden, der nicht zum Anbau genutzt würde, Scharen von Bauern, die auf den Feldern arbeiten. Der hohe Stand von Landwirtschaft und Technik verdankt sich der Verbreitung des Buchdrucks, der besonders am Ende des 15. Jahrhunderts seinen Aufstieg nimmt. Publizieren ist ein sehr lukrativer Geschäftszweig und die Produkte des Druckhauses Shendu in Fujian spiegeln das Bild eines dynamischen und auf vielen Gebieten »fortschrittlicheren« Reiches wider als die des christlichen Europa. Dank des boomenden Buchdrucks werden gängige Werke immer wieder aufgelegt wie der konfuzianische Kanon, normative Texte wie das Gesetzbuch und die Dekrete der Ming sowie historische Werke über das Kaiserreich. Der Erfolg ist auch der Lesekultur zuzuschreiben. In diesem Zusammenhang denkt man unwillkürlich an die Verbreitung des Buchdrucks im Europa des 15.Jahrhunderts. Mit dem Unterschied, dass der gedruckte Text - »mit dem man von dem Zimmer aus, in dem man steht, die ganze Welt umfassen kann« - in China schon seit Jahrhunderten im Wechselspiel mit der weiterhin vorherrschenden Mündlichkeit gedeiht. Die Revolution des Buchdrucks haben die Chinesen des 16. Jahrhunderts schon lange hinter sich. Die Schrift ist die Speerspitze einer beeindruckenden Verwaltung, sie bildet die Grundlage für ein intensives philosophisches Nachdenken, aber sie dient auch bisweilen rebellischen Geistern aus den Provinzen, ihre Ansichten und Reaktionen auf das Weltgeschehen zu verbreiten. Überall im Reich erscheinen Zeitungen, die Neuigkeiten kolportieren, Kenntnisse und Techniken verbreiten, den Austausch zwischen den Landesteilen fördern und nicht zuletzt auf den Flug der Drachen als Vorboten künftiger Katastrophen hinweisen. Die Rede vom »chinesischen Denken« führt unweigerlich zu Verallgemeinerungen, die seiner Vielfalt und der Originalität der Neuerungen nicht gerecht werden. Seit Beginn des 15. Jahrhunderts stehen den Kandidaten für die Beamtenprüfungen die Texte der neokonfuzianischen Schriften, die sie kennen müssen, in gedruckten Kompilationen zur Verfügung. Diese Schriften wie die Summa (Kommentare) zu den Vier Büchern sind Ausdruck eines orthodoxen Denkens aus der Zeit der Song-Dynastie, das nun im ganzen Kaiserreich verbreitet wird und das Denken der Angehörigen der Beamtenschicht noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägen soll. Das heißt aber nicht, dass sich das geistige Leben in China ausschließlich um die Klassiker drehte. Die konfuzianische Orthodoxie begegnet dem Buddhismus, setzt sich mit quietistischen Tendenzen auseinander, für die die Innenschau wichtiger ist als das weltzugewandte aktive Leben, und hat als Folge der gesellschaftlichen Veränderungen auch abweichende Lehrmeinungen zu dulden. Hochkultur und Volkskultur vermischen sich wie überall, während synkretistische Strömungen zu der Auffassung gelangen, dass Konfuzianismus, Taoismus und Buddhismus ein und dasselbe seien. Ein Grund für diesen Synkretismus und das Aufbrechen der religiösen Traditionen liegt darin, dass der spirituellen Erfahrung ein höherer Stellenwert zugemessen wird als das Korpus der Lehrschriften.
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2014 |
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Übersetzer | Enrico Heinemann, Reinhard Tiffert |
Zusatzinfo | 2 sw-Karten |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | L'Aigle et le Dragon. Démesure européenne et mondialisation au XVIe siècle |
Maße | 140 x 213 mm |
Gewicht | 595 g |
Einbandart | gebunden |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Regional- / Landesgeschichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Neuzeit (bis 1918) | |
Schlagworte | Azteken • China • China, Geschichte • Eldorado • Entdeckungsreisen • Eroberer • Europäische Expansion • Expansion (Geschichte) • Gewürze • Globalgeschichte • Hernán Cortéz • Karibik • Kolonialismus • Kolonialismus / Kolonialgeschichte • Konquistadoren • Konquistadoren / Conquistadoren • Malakka • Mesoamerika • Mexiko • Ming • Mittelamerika • Molukken • Montezuma • Nanking,Peking • Portugal • Portugal, Geschichte • Renaissance • Spanien • Tenochtitlan • Tomé Pires • Zhengde |
ISBN-10 | 3-593-50080-9 / 3593500809 |
ISBN-13 | 978-3-593-50080-5 / 9783593500805 |
Zustand | Neuware |
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