Vertreibung der Vertriebenen? -  Manfred Kittel

Vertreibung der Vertriebenen? (eBook)

Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982)
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2007 | 1. Auflage
208 Seiten
De Gruyter Oldenbourg (Verlag)
978-3-486-70631-4 (ISBN)
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Hat die Vertreibung von Millionen Deutschen aus Ostmitteleuropa nach 1945 in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik einen angemessenen Platz gefunden? Manfred Kittel zeigt, dass Differenzierungen notwendig sind: In den 1960er Jahren zeichnete sich mit wachsender Kritik an der ostpolitischen Haltung der Landsmannschaften in Medien und intellektuellen Milieus eine zunehmende Entfremdung vom historischen deutschen Osten ab. Da aber noch alle Parteien um die Wählerstimmen der Vertriebenen rangen, blieb der erinnerungskulturelle Wandel begrenzt. Erst nach dem 'Machtwechsel' in Bonn 1969 mehrten sich in Bund, Ländern und Kommunen die Symptome der Verdrängung.

IX. Zwischen „neuer Ostpolitik" und altostdeutscher Kulturpflege: Ambivalenzen der Erinnerungskultur in Ländern und Kommunen während der 1970er Jahre (S. 131-132) Nach Abschluß des Warschauer Vertrages gewann die schon in den 1960er Jahren vernehmbare Kritik an den alten Ostkunderichtlinien in der westdeutschen Öffentlichkeit – auch unter dem Einfluß polnischer Pressestimmen – sprunghaft an Bedeutung1. Man konnte ja, wie der Historiker Imanuel Geiss in einer Zeitschrift der Evangelischen Akademie Berlin schrieb, „schlecht auf Regierungsebene die Oder-Neiße-Grenze faktisch anerkennen" und gleichzeitig die „hoffnungslos antiquierte Sprachregelung in Schulbüchern, Atlanten und Landkarten" beibehalten. Die „von vornherein falsche und schädliche Ostkundeempfehlung der Kultusminister aus dem Jahr 1956 […] wäre Kandidat Nr. 1 für die notwendige Entrümpelungsaktion." 2 Geiss gehörte einem Arbeitskreis für Schulbuchanalyse an, der aus einem Seminar der Evangelischen Akademie Berlin im Rahmen der polnischen Wochen Ende November 1969 zum Thema „Polen im Unterricht" hervorgegangen war. Leiter der Akademie war seit Oktober 1969 der im schlesischen Waldeshut geborene Günther Berndt, der vorher als Landesjugendpfarrer der Braunschweigischen Landeskirche gearbeitet hatte. Berndt brachte im Sommer 1971 zusammen mit dem ebenfalls aus den Oder-Neiße-Gebieten stammenden, durch Ausstellungen über „Ungesühnte Nazijustiz" bekannten Reinhard Strecker eine Streitschrift in der Reihe rororo-aktuell auf den Markt: „Polen ein Schauermärchen oder Gehirnwäsche für Generationen"3. Dem Tenor der Broschüre zufolge, an der neben den Herausgebern vor allem ältere Semester der FU Berlin mitgearbeitet hatten, war die Ostkunde „der gleiche Nationalsozialismus […], der zwei Weltkriege provozierte"4. Zur bekannten Kritik an der Biographie der „völkischen Erziehungsspezialisten" 5 von der Bundesarbeitsgemeinschaft Ostkunde und an den europäischen Visionen ihres einstigen Vorsitzenden Lehmann, zu denen Vizekanzler Mende schon 1965 im Bundestag Stellung genommen hatte6, gesellten sich Vorwürfe gegen nach wie vor aktuelle Schulbücher, wie etwa ein „Übungsbuch für den Rechenunterricht" der sechsten Klassen, das die Vorläufigkeit der Oder-Neiße-Linie betonte und danach fragte, wie viele Menschen von den in Ostdeutschland erzeugten Lebensmittelüberschüssen ernährt werden könnten. Neben der ersatzlosen Abschaffung der alten Ostkunderichtlinien forderte das „Autorenkollektiv"8 um den politisierenden Pfarrer im marxistischen Duktus die Aufgabe der „weitverbreitete[n] Totalitarismuskonzeption"9, die unverzügliche Vorbereitung einer deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz sowie die Streichung von Subventionen für ost kundliche Einrichtungen wie den Göttinger Arbeitskreis, der „mit Fälschungen Volksverhetzung" und „Gehirnwäsche"1 betreibe. In einem Vermerk für Bundesinnenminister Genscher bewertete der Leiter der Vertriebenenabteilung die Arbeit der Evangelischen Akademie aber nicht nur wegen ihrer polemischen Art sehr kritisch. Schon deren Schulbuchresolution von Ende 1969, so hieß es vielmehr, berücksichtige „sehr einseitig polnische Interessen und politische Forderungen", ja einige Passagen stimmten „fast wörtlich mit bekannten Formulierungen von polnischer Seite überein". Indessen wurde die vom Leiter der Evangelischen Akademie Berlin geübte Kritik an den alten „Bezeichnungsrichtlinien" der Bundesregierung, die sich seines Erachtens in einen Kodex von antipolnischer „Ignoranz und Verachtung" einreihten, auch vom Verband der Karthographischen Verlage und Institute in Frankfurt geteilt. Dieser gab sogar schon im Januar 1970, die Ostverträge antizipierend, gemeinsam mit dem Verband der Schulbuchverlage e.V. Frankfurt eigene „Bezeichnungsempfehlungen" heraus, die sich über die Richtlinien des Gesamtdeutschen Ministeriums von 1961 und 1965 hinwegsetzten. Seitens der Schulbuchverlage gab es aber auch Bemühungen, sich gegen die wiederholte Kritik an ihren Büchern, die dem „Verständigungsgedanken zwischen Polen und Deutschen" sehr wohl Rechnung trügen, zur Wehr zu setzen.

Erscheint lt. Verlag 1.12.2007
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-486-70631-4 / 3486706314
ISBN-13 978-3-486-70631-4 / 9783486706314
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