Die Kunst der Balance (eBook)

100 Facetten der Lebenskunst

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
172 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-73215-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Kunst der Balance - Wilhelm Schmid
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen

Hundert Facetten der unerschöpflichen Themenvielfalt der Lebenskunst werden hier präsentiert. Das Leben in seiner alltäglichen Banalität kommt zum Vorschein, aber gerade durch die unscheinbaren Nebenaspekte des Lebens schimmern die großen Lebensfragen hindurch. Vom kleinen Glück der Erkältung, vom Blick in den Spiegel am Morgen, von einem Örtchen, an dem es sehr still ist, von der kulturellen Bedeutung des Wurstsalats, von der Kunst des Pfeifens, vom Sinn des Schlittenfahrens, aber auch vom Novembertag am Grab und vielem mehr handeln diese kleinen Texte, die mit leichter Feder geschrieben sind, ursprünglich für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag. Menschlichkeit, Heiterkeit, Ironie und Selbstironie sind ihre Kennzeichen.



Wilhelm Schmid, geboren 1953 in Bayerisch-Schwaben, lebt als freier Philosoph in Berlin. Bis zur Altersgrenze lehrte er Philosophie als au&szlig;erplanm&auml;&szlig;iger Professor an der Universit&auml;t Erfurt. Zeitweilig war er t&auml;tig als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als philosophischer Seelsorger an einem Krankenhaus in der N&auml;he von Z&uuml;rich/Schweiz. 2012 wurde ihm der deutsche Meckatzer-Philosophiepreis f&uuml;r besondere Verdienste bei der Vermittlung von Philosophie verliehen, 2013 der schweizerische Egn&eacute;r-Preis f&uuml;r sein Werk zur Lebenskunst. Umfangreiche Vortragst&auml;tigkeit im In- und Ausland zu den Themen seiner B&uuml;cher, die auch in zahlreichen &Uuml;bersetzungen vorliegen. Gro&szlig;en Erfolg hatten seine B&uuml;cher &uuml;ber das <em>Schaukeln</em> (2023), die <em>Gelassenheit</em> (2014) und das <em>Gl&uuml;ck</em> (2007), alle im Insel Verlag, Berlin.

Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gastdozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien, sowie als »philosophischer Seelsorger« an einem Krankenhaus bei Zürich/Schweiz tätig. Umfangreiche Vortragstätigkeit, seit 2010 auch in China und Südkorea. 2012 wurde er mit dem Meckatzer-Philosophie-Preis und 2013 mit dem Egnér-Preis ausgezeichnet.

Sommerlandschaften:
Mein Capri


26 | Und jetzt mal tief durchatmen


Dieser Duft! Himmlisch! Wenn es das Paradies gibt, dann führt eine Allee aus Lindenbäumen dorthin. Ungefähr so, wie die Allee »Unter den Linden« zum Brandenburger Tor in Berlin. Erst kommt der Frühling, dann kommen noch die Lindenblüten dazu, dann ist Sommer. Zuerst platzen nur einige der kleinen Kügelchen auf, von Duft keine Spur. Wochenlang zieht sich das hin. Zögerlich, ganz abhängig vom Kleinklima, in dem der jeweilige Baum wohnt, beginnen die Blüten zu blühen. Und jetzt mal tief durchatmen, ganz langsam die Luft durch die Nase einziehen. Die Blüten verströmen Duft in einem Maße, dass die Nasenflügel beben. Betörend!

Weißliche oder hellgelbe Wolken von Blüten hängen in den Bäumen, umschwärmt von Honigsaugern aller Art. In Berlin könnten Hunderte von Straßen und Plätzen den poetischen Namen »Unter den Linden« tragen. Schon immer hat die kantige preußische Art wenigstens zur Zeit der Lindenblüte ein wenig Milderung erfahren. Mag heute aus den U-Bahn-Schächten der verwitterte Modergeruch dringen, der für diese Stadt so charakteristisch ist – der süße Lindenduft, der in Schwaden umherzieht, bildet einen starken Kontrast dazu. Die Menschen suhlen sich in diesem Duft, sie wälzen sich im Gras zu den Füßen der Bäume, etwa auf dem Platz vor dem Schloss Charlottenburg. Und die Kenner unter ihnen tun dies vorzugsweise in der Dämmerung und Dunkelheit. Dann nämlich ist die kühler und feuchter werdende Luft von Duftmolekülen völlig durchdrungen.

Einfaches Indiz für einen schlechten Menschen: Einer, der den Lindenblütenduft nicht riechen mag. Alle anderen aber inhalieren tief und werden gut, wenigstens für die dufterfüllte Zeit, vielleicht vier Wochen, dann geht alles wieder von vorne los: Lange Zeit des Vergessens, bis zum nächsten Frühling, dann die Zeit der Wiedererinnerung und des Wartens, das Anschwellen der Nasenflügel, der anhaltende Höhepunkt, alles zugegebenermaßen sehr erotisch, jedenfalls für denjenigen, der über einen ausgeprägten Geruchssinn verfügt.

Zuletzt aber, um ehrlich zu sein, kann ich dieses süßliche Zeug, das in der Nase kleben bleibt, nicht mehr riechen. Die Lindenblüten haben ein Einsehen damit und verblühen zügig. Der Duft löst sich einfach in Luft auf, und keiner bemerkt es, weil jeder die Nase voll davon hat. Das Leben geht weiter. Die verwelkten Blüten aber reagieren auf den Liebesentzug wie Menschen: Sie verhärten und stürzen zu Boden.

27 | Wo es still ist


Die Leute ergießen sich über die Treppen, fluten die Räume, stauen sich auf den Fluren. Ein Empfang, ein Opernbesuch, eine Vernissage, ich weiß es nicht, weiß nicht, wo ich bin und wie mir der Kopf steht. Wo kann ich ein wenig Ruhe finden?

Ein Bedürfnis treibt mich zu dem Örtchen, das man das »stille« nennt. Hier lässt es sich Atem schöpfen und in aller Abgeschiedenheit ein wenig philosophieren, während man zugleich dringlichen und unabweisbaren »Geschäften« nachgeht. Der Raum darf nicht zu groß sein, sonst fühlt man sich wie auf dem Präsentierteller. Nur ein kleiner locus bürgt für die Intimität des Selbst mit sich selbst. Der Raum darf auch nicht zu luxuriös sein, sonst fürchtet man ihn zu beschmutzen und fühlt plötzlich eine Verstopfung.

Der Wasserhahn tropft ein wenig vor sich hin, aber das regelmäßige »Pflop« der einzelnen Tropfen unterstreicht nur mit unbeirrbarem Gleichmaß die meditative Stille des Ortes. Ich habe es ohnehin nicht eilig, und mein Darm versteht die Botschaft und lässt sich alle Zeit der Welt. Einschlägige Erinnerungen kommen mir in den Sinn: Wie ich einst als kleiner Junge auf dem elterlichen »Abort« saß. In aller Ruhe sah ich, nicht im Geringsten angewidert, den Tierchen zu, die sich an den Wänden des Plumpsklos tummelten. War es nicht Natur, die da kreuchte und fleuchte, so wie es auch Natur war, da zu sitzen?

Regelmäßig gerate ich an diesem Ort ins Sinnieren über die Kreisläufe der Natur, auch wenn ich heute nicht mehr zu sagen wüsste, woher das Steak stammt, das ich gerade verschlungen habe, und wohin es nun geht, sobald die Wasserspülung es hinwegtreibt. Nichts geht verloren, das ist gewiss, alles kehrt in irgendeiner Form wieder. Gilt das auch im Seelischen und Geistigen? Gilt es auch – für »mich«?

Tiefgründige, abgründige Fragen, die »Sitzung« gerät zum philosophischsten Moment des Tages, immer wieder auch zu einem Ausbund an Kreativität. Die Erleichterung, die von hinten kommt, kriecht wohltuend den Rücken hoch und entspannt das Gehirn. Wüssten die Menschen, welche Gedanken und Ideen im wahrsten Sinne des Wortes besch . . . sind! Wie schade, wenn man sich endlich erheben muss. Adieu, du stiller Ort – wo immer ich morgen sein werde, ich werde dich wiederfinden und wieder aufsuchen, das allein kann mich trösten. Hinaus in die lärmende Welt!

28 | Ein Tag im Irrenhaus


Ein ganz normaler Sonntag. Familientag, wenn Sie verstehen, was ich meine. Der Ausflug steht an. Einer will hierhin, der andere dorthin; die pubertierende Tochter will, wie üblich, zu Hause bleiben, ihr sind diese alten Rituale ein Gräuel. Der kleine Sohn ist der einzige, der gerne alles mitmacht, aber er will jetzt noch schnell die Frage klären, die ihn momentan sehr beschäftigt: »Papa, warst du schon mal betrunken?« Da eine zügige Antwort darauf nicht so ohne weiteres möglich ist, bitte ich mit Nachdruck in der Stimme um Aufschub.

Der Älteste ruft an, er hat ein Problem: Er war auf keinen Fall schuld, es gab nur eine kleine Rangelei abends vor der Disko, und es kostet nur eine Kleinigkeit. Und da kommt endlich noch der Zweitälteste, er hat auch ein Problem, ausgerechnet jetzt hat der preiswerte Gebrauchtwagen, mit dem er seine neue Fahrerlaubnis testet, den Geist ausgehaucht, er bräuchte eine kleine Investitionshilfe. Die Eltern ihrerseits gehorchen dem Grundgesetz der Polarität, und das heißt: Wenn einer eine Meinung hat, muss der andere zwangsläufig die Gegenmeinung vertreten. Also entspinnt sich die übliche Sonntagsauseinandersetzung, und es ist ein Wunder, dass mit Verhandlung, Verführung, Vertröstung dann doch relativ häufig ein Tag herauskommt, der am Ende alle zufrieden stellt. Ein ganz normaler Tag im Irrenhaus.

Eigentlich sollte, wer eine Familie gründet, Anspruch auf Schmerzensgeld haben. Stattdessen reicht es nur zum Kindergeld, und dafür muss man noch dankbar sein. Sollten Sie nun aber den Eindruck gewinnen, der Autor dieser Zeilen liebe die Familie nicht, dann täuschen Sie sich gewaltig: Ein größeres Familientier als mich werden Sie weit und breit nicht finden. Ohne Familie kann ich nicht leben. Allenfalls im Kloster, also in einer anderen Art von Familie.

Bin ich auf Reisen und sehe meine Familie eine Weile nicht, so werde ich nervös: Ich frage mich, wozu ich überhaupt auf der Welt bin. Bald schon würde ich in Gefahr stehen, den Halt im Leben zu verlieren. Letztlich verdanke ich der Familie sehr viel: Sie hat mich zum Philosophen gemacht. Familie ist die beste Philosophie-Ausbildung, die sich nur denken lässt, vor allem für die stoische Richtung. So bin ich zum Stoiker geworden. Nichts kann mich mehr erschüttern. Und Sie? Sind Sie schon Philosoph? Oder noch auf dem Weg dazu?

29 | Auf Pilgerfahrt


Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel. Ausgerechnet heute. Aber das muss wohl so sein. Klaglos wuchte ich meinen Koffer hoch und trete den Weg an. An einer Haltestelle mitten in der Landschaft bin ich aus dem Zug gestiegen, einige Kilometer vom Ziel entfernt. Nun gehe ich Feldwege entlang, die ich nicht kenne, die aber ungefähr in die gewünschte Richtung führen müssten.

Der Schweiß strömt aus allen Poren, aber das gehört zum Programm. Denn ich bin ein Pilger, jedenfalls habe ich das so beschlossen. Und wie jeder Pilger erlebe ich nach mühevollem Weg das Glück der Ankunft: eine Dusche fürs Frischwerden, ein Bett für die geschundenen Glieder. Dann erst bin ich reif für die »innere Einkehr«, die nun gerne so gründlich ausfallen kann, wie die vorhergehende äußere Anstrengung qualvoll war.

In einer schwierigen Lebenssituation hatte ich einst als Junge versprochen, diese Pilgerreise zu unternehmen, und offenbar hatte es geholfen. Ob es dafür einer religiösen Haltung bedarf, ist ungewiss, aber ein Gespräch mit Gott oder einer göttlichen Macht kann auch nicht schaden; man weiß ja nie . . . Jetzt erst, Jahrzehnte später, fiel mir ein, dass es an der Zeit wäre, das Versprechen endlich einzulösen. Und vielleicht wäre es gerade jetzt hilfreich, in allem Trubel und Durcheinander wieder Klarheit und Festigkeit zu gewinnen und neue Kräfte zu schöpfen.

Die Selbstbesinnung, die sich am Pilgerort von selbst einstellt, die Konzentration auf das eigene Leben, die Aufmerksamkeit auf vieles, das fast vergessen war, setzt in der Tat neue Kräfte frei: Womöglich liegt darin ein Grund für die »Wundertätigkeit«, die vielfach bezeugt wird; vielleicht fließen die Kräfte aber auch aus der anderen Dimension zu, zu der ein Pilger in engere Beziehung tritt. Der Zauber des Ortes tut ein Übriges: Dass so viele Schicksale so vieler Menschen sich seit so langer Zeit an diesem Ort überkreuzen, vermittelt einen starken Eindruck von der unerschöpflichen Fülle des Lebens.

Es ist der abendliche Gottesdienst, während dessen mir plötzlich das eigene Leben so klar vor Augen steht wie nie zuvor: all die Wege, Um- und Abwege, die ich gegangen bin, und die Richtung, in die ich gehen sollte. Froh und unbeschwert ziehe ich danach hinaus in die Welt – und verspreche hoch und heilig,...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte 50plus • Balance • Best Ager • Generation Gold • Golden Ager • insel taschenbuch 3120 • IT 3120 • IT3120 • Lebenskunst • Lebensthemen • Meckatzer-Philosophie-Preis 2012 • Preis der Dr. Margrit Egnér-Stiftung 2013 • Rentner • Rentnerdasein • Ruhestand • Senioren
ISBN-10 3-458-73215-2 / 3458732152
ISBN-13 978-3-458-73215-0 / 9783458732150
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Migration und soziale Komplexität | Das Grundlagenwerk eines weltweit …

von Steven Vertovec

eBook Download (2024)
Suhrkamp (Verlag)
27,99