Humpelgreed

(Autor)

Buch
320 Seiten
2013
Papierverzierer Verlag
978-3-944544-01-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Humpelgreed - August Gral
12,95 inkl. MwSt
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Ein Kunstmärchen -In 'Humpelgreed' wird eine Piratengeschichte voller Abenteuer mit immer neuen spannenden Szenen und fantastischen Elementen erzählt. In der unglaublichen Welt 'Seeland' treibt Kapitän Humpelgreed sein Unwesen, beutet Kinder aus und schickt sie als Erwachsene, die das Fragen verlernt haben, zurück in ihr altes Leben.

Kapitel 1 Der Pirat „Humpelgreed, Humpelgreed, du hast die Welt im Griff, egal, wie sie sich weiterdreht, jeder landet auf deinem Schiff. Humpelgreed, Humpelgreed, raubst dir Fragen oder Gold. Wenn es Piraten schlecht ergeht, sie haben‘s so gewollt. Humpelgreed, Humpelgreed, mach voll die Kajüten. Kommt, Matrosen, und seht, der Kapitän wird‘s euch vergüten.“ Ein Mann, mit düsterem Blick, glänzendem Säbel und einer bedrohlichen Hakenhand, stand vor dem Brunnen des Dorfes und wackelte mit dem Kopf. Das Wasser tropfte ihm vom Bart und spritzte in alle Richtungen, wie bei einem Hund, der sich schüttelt. Dann setzte er einen dreieckigen Hut auf, sodass sich ein Schatten auf sein Gesicht legte. Dieser machte seine ohnehin finstere Miene noch bedrohlicher. Um ihn herum tanzten zwei rattengesichtige Jungen, die wie Zwillinge wirkten. Ähnlicher können sich zwei Menschen kaum sein, wie sie so dastanden, mit ihren tropfenden roten Hemden, mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen darauf. Der Mann hob einen Zeigefinger an den Mund. Sofort legten die Jungen Pauke und Geige auf den Rand des Brunnens und das Lied über Kapitän Humpelgreed verstummte. Sie stellten sich neben ihn und wischten sich über die nassen Gesichter. Doch von alledem wusste Tim in dem Spezialitätenladen nichts. • Durch ein Oberlicht wehte der Klang der Musik in den kleinen Spezialitätenladen hinein. Der schräge Gesang stammte nicht aus diesem Ort. Das wusste Tim. Und ein Lied von einem Humpelgreed hatte er auch noch nie gehört, erst recht nicht in dem kleinen italienischen Dorf. Hier kannte jeder jeden. Tim machte sich keine weiteren Gedanken über den Gesang, der durch das Fenster drang. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, ein paar Dosen im Laden seines Onkels zu ordnen. Die Leute können singen, was sie wollen, dachte er. Wieso sollte er sich daran stören? Noch während er die Ananasdosen in einer geraden Linie hintereinander aufstellte, flog die Ladentür auf und die fünf kleinen Glöckchen darüber bimmelten. Ein ungewöhnlich junger Gast mit nassen Haaren kam herein, streckte einen Zeigefinger drohend aus und hielt ihn Tim unter die Nase. „Stell bloß keine Fragen!“, sagte der vielleicht vierzehnjährige Junge. Tim verschlug es die Sprache. Er hätte gerne gefragt, warum die Kleidung des Fremden so speckig, geflickt und schmutzig aussah. Er fragte sich, warum er ihm den Boden volltropfen musste. Und vor allem wollte Tim wissen, warum zum Henker er keine Fragen stellen durfte. All das schoss ihm durch den Kopf. Aber am Ende platzte es aus ihm heraus: „Kann ich was für dich tun?“ Die Hand des Jungen schnellte vor, packte Tim am Kragen, und zog ihn zu sich ran. Um ein Haar hätten sich sogar ihre Nasenspitzen berührt. Doch Tim roch nur seinen muffigen Atem, der zwischen den fauligen Zahnstummeln des Fremden hindurch pfiff. „Ich sagte: Stell keine Fragen.“ Der Junge ließ den Kragen los, Tim wich zurück und strich ihn wieder glatt. „Das bedeutet: gar keine. Nicht eine. Keine. Nichts. Nicht der Hauch einer Frage. Kapier das!“ Der Typ rückte seine braune Lederjacke über dem schwarz-weiß gestreiften Hemd zurecht. Sein Blick schweifte durch den Laden. Die guten Lebensmittel weckten offensichtlich sein Interesse. Auch Tim kostete gern von den Spezialitäten, die sein Onkel Antonio anbot. Natürlich nur, wenn er durfte. „Das ist ein schöner Laden“, sagte der Vierzehnjährige. „Eines Tages will ich auch so einen haben.“ „Der gehört meinen Onkel Antonio.“ Tim stellte sich hinter den Kassentresen. „Ich vertrete ihn nur, aber er müsste jeden Moment wiederkommen.“ Das stimmte natürlich nicht. Antonio war mit seinem Lieferwagen in die nächste Stadt gefahren, denn in dem kleinen Dorf gab es bei weitem nicht alles, was er anbieten wollte. Aber Tim hoffte, dass der Fremde den Laden dadurch schneller verlassen würde. Er hatte das Gefühl, er hätte einen echten Räuber bei sich im Laden. Doch davon war der Junge weit entfernt. Er schlenderte durch den Laden, betrachtete die Konserven, sah auf Einmachgläser, Holzkistchen und blieb erst neben dem Kassentresen, in dem die gekühlten Meeresfrüchte lagen, und damit vor Tim, stehen. Blitzschnell fuhr er herum, blickte in Tims Augen, schubste ihn zurück, bevor er sich wehren konnte. „Mach deine Kasse auf!“, schrie der Schmutzfink. „Ich … ich …“ Tim verschlug es die Sprache. Doch dann wich er zurück. Sein Onkel hatte ihm mal gesagt, er solle nicht den Helden spielen, falls der Laden überfallen würde. Und irgendwie war das ein Überfall. „Dann mach ich sie halt selbst auf.“ Der Junge zog am Hebel und die Kasse sprang mit einem Klingeln auf. Er griff nach den Scheinen, schmiss sie zur Seite, warf Münzen in die Luft, wühlte in der Schublade, als ob das Geld Konfetti wäre. Ungläubig starrte Tim den Fremden an. „Da sind ja nur Scheine und Münzen drin. Damit kann ich nichts anfangen.“ „Das ist doch kein Spiel.“ Tim blinzelte. „Was du hier machst, ist nicht komisch. Das ist nicht witzig!“ „Davon hat auch niemand was gesagt!“ „Bist du ein Bandit?“ „Zum letzten Mal!“, schrie der fremde Junge, als ob es um sein Leben ging. „Hör auf, Fragen zu stellen!“ Er rannte zu einem Regal. Wie ein Urwaldbewohner, der zum ersten Mal ein Auto sieht, betrachtete er die Konserven. Wild und ohne Rücksicht griff er zwischen die Dosen, warf sie hin und her, als suchte er etwas Bestimmtes. „Ich bin kein Bandit!“, fauchte der Fremde. Er blickte zu einem Regal mit eingekochten Birnen. „Ich bin Pirat!“ „Ja, klar!“, lachte Tim. „Lass uns Piraten spielen, wenn ich Feierabend habe. Dann macht mir das mehr Spaß.“ Aber der Fremde hörte nicht zu. „Es fühlt sich sehr merkwürdig an“, meinte er und stampfte mit einem Fuß auf, „mal wieder auf festem Boden zu gehen, ihn unter den Füßen zu spüren. Dann schwankt immer alles. Genauso, wie das erste Mal auf hoher See. Das musst du erlebt haben. Da draußen auf der See ist alles anders.“ „Ach, ich war bereits mit dem Schlauchboot auf See. Das war super.“ Der Junge funkelte ihn an. „Das ist doch kein Vergleich! Ich meine weit draußen. Da, wo man kein Festland mehr sieht.“ Noch nie hatte Tim sich so gewünscht, Onkel Antonio an seiner Seite zu haben. Antonio war immer für ihn da gewesen. Er hatte seine Mutter und ihn aufgenommen, als der Vater sie aus ihrer Wohnung warf. Nur jetzt war er nicht da. Jetzt musste Tim sich selbst helfen. „Ferne Länder sehen, Inseln entdecken, Schiffe kapern, Beute machen … das ist doch ein Traum!“ Der Junge fuchtelte mit den Armen herum. „Ja, klar.“ Tim hatte keine Zeit, hier im Laden Pirat zu spielen, er musste arbeiten. „Dann lass uns in drei Stunden in See stechen. Ich muss noch mein Schiff beladen.“ „Du hast gar kein Schiff!“, sagte der angebliche Pirat. Er lachte, lief im Raum herum und untersuchte die Spezialitäten, die im Tresen lagen. Dann strich er mit seinen Fingern über Weinflaschen aus dem Regal, über Dosen mit exotischen Meeresfrüchten, über Kochbücher und nahm eine Frucht aus den Holzkisten neben dem Tresen in die Hand, streichelte sie, roch daran, legte sie zurück und griff nach der nächsten. Litschis, Kakis, Kaktusfeigen, Grapefruits, Avocados, Mangos, Maracujas. „Du kannst doch nicht alle anfassen.“ Tim ärgerte sich, denn die exotischen Früchte wollte noch jemand essen. Und da kam dann so ein Schmutzfink daher und grapschte die alle an. „Doch. Ich bin Pirat. Ich kann das. Piraten können machen, was immer sie wollen.“ Der Junge biss in eine Kaki und klebriger Saft lief über sein Kinn. Dann legte er die Frucht einfach zurück. „Lass das!“, rief Tim, rannte um den Tresen und drückte dem Piraten das angebissene Obst in die Hand. „Ich kann nicht anders. Ich bin Pirat.“ Tim hielt ihn für verrückt. Nachdem er abwesend an einer Sternfrucht gerochen und sie dann ohne zuzubeißen zurückgelegt hatte, ging er um den Tresen, an der Küchentür und hinter Tim vorbei. Dabei reckte er seine Nase in die Luft und schnupperte scheinbar nach neuen essbaren Dingen. „Übrigens heiße ich Kurt“, sagte er im Vorbeigehen. „Matrose Kurt.“ „Okay. Ich heiße Tim. Und jetzt mach, dass du aus dem Laden kommst. Ich hab zu tun.“ „Gut. Kamerad Tim.“ „Ich will jetzt nicht Pirat spielen, Kurt. Ich habe dazu keine Lust. Außerdem muss ich noch drei Stunden auf den Laden aufpassen. Bist du nicht eigentlich ein bisschen zu alt für solche Spielchen?“ „Ich sagte doch, keine Fragen! Und um ein Pirat zu sein, gibt es kein zu jung oder zu alt. Entweder ist man es ein Leben lang oder gar nicht!“ Tim ahnte das Schlimmste. Aber es musste doch eine Möglichkeit geben, den stinkigen Möchtegernpiraten aus dem Laden zu bekommen. Er überlegte. Vielleicht würde Kurt verschwinden, wenn er genug gegessen hätte. Wenn nicht, würde er zumindest nicht mehr wie die Mäuse an Antonios Waren knabbern. „Ich habe noch Pasta da. Ich könnte dir eine große Portion machen, wenn du dann gehst.“ Kurt stand da, mit glasigem Blick, wirkte regungslos und stumm. Auf einmal riss er die Arme hoch, fuchtelte mit ihnen herum und schrie: „Und jetzt gib mir alle Pasta, die du hast.“ „Nur die Ruhe“, sagte Tim und versuchte Kurt zu beschwichtigen. „Setz dich doch erst mal. Ich bring dir gleich die Pasta.“ Dabei zeigte er um die Ecke, auf die beiden Tische im hinteren Bereich des Ladens. Kurts Zeigefinger legte sich über seine Lippen. Er dachte scheinbar nach. Am Ende kehrte er um und setzte sich auf die Bank. „Gut. Mach das.“ Tim schaltete den Herd ein, füllte unter dem Wasserhahn den Topf, stellte die vorbereitete Pasta aus dem Kühlschrank auf die Anrichte in der kleinen Küche. Dann servierte er mit einem Tablett ein Glas und eine Kanne Wasser. Derweil sah Kurt aus dem Fenster auf die Straße. „Die Leute sagen, es sei eine sehr malerische Gasse“, erklärte ihm der junge Kaufmann. „Kann sein, Tim. Ich versteh nicht viel davon.“ Er nahm ihm das Tablett ab, ignorierte das Glas, trank die Kanne Wasser in einem Zug aus und rülpste sehr laut. „Musst du ja nicht, Kurt.“ Während Kurt scheinbar geduldig wartete und weiter auf die Straße stierte, bereitete Tim die Pasta zu so wie es ihm Onkel Antonio beigebracht hatte. Er ließ die Soße erhitzen, schüttete die vorbereiteten Pastanudeln in das heiße Wasser und ließ eine Prise seiner geheimen Kräutermischung in den Topf fallen. Nach zehn Minuten war die Pasta ‚al dente‘. Das sagten die Italiener dazu, wenn die Nudeln am Löffel klebten, man sie aber trotzdem noch kauen musste. Tim füllte die Pasta auf einen tiefen Teller, vermengte sie mit der heißen Soße, hobelte Parmesankäse darüber und brachte alles mit einem Tablett an den Tisch. Kurt schloss die Augen und roch daran. Plötzlich riss er die Arme hoch, griff Gabel und Löffel und schaufelte mit beiden Pasta in sich hinein, bis er mit dem Kauen und Herunterschlucken nicht mehr nachkam. „Meine Güte. Das muss dir ja schmecken“, stellte er fest. „Ja, und ob“, schmatzte Kurt. „Du hast wohl länger nichts mehr gegessen.“ Kurt zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Oder auch nicht. Ich glaube, ich habe vorhin erst etwas gegessen.“ „Dann hast du aber einen großen Appetit!“ „Nein“, sagte Kurt, „so essen wir Piraten immer. Das machen Piraten nun mal so.“ Unter allen Leuten, die Tim jemals in Antonios Spezialitätengeschäft bedient hatte, war das wohl sein ungewöhnlichster, kuriosester Gast. Ja, die Pasta schmeckte sehr gut, obwohl Kurt vermutlich nicht als Maßstab genommen werden konnte, denn alle Gäste sagten das. Zum Beispiel Frau Spanilli. Sie kam jede Woche am Dienstag vorbei, wenn Tim im Laden stand und verlangte seine selbst gekochte Pasta. Frau Spanilli war von Beruf Lehrerin – nicht an Tims Schule – und sie kam immer vorbei, wenn sie Feierabend hatte. Bald würde sie wieder im Geschäft erscheinen. Immerhin war heute Dienstag. Vielleicht könnte sie ihm helfen, Kurt aus dem Geschäft zu schaffen. Als Lehrerin konnte sie bestimmt mit jemanden wie Kurt umgehen. „Warum hast du mich mit deinem Zeigefinger bedroht?“, fragte Tim. Kurt sah von seinem Teller auf, legte den Kopf schief und zeigte seine Zähne. Die Tomatensoße klebte überall. „Das hat mir keiner gesagt.“ Er machte eine Pause. „Oder warte: das hat der Kapitän Humpelgreed gesagt. Wir wollen ja nur den Laden plündern und jemanden gefangen nehmen. Nichts Besonderes. Piraten machen das nun mal so.“ „Du kannst den Laden nicht plündern. Weder du noch dieser …“ „Humpelgreed.“ „Aha. Humpelgreed ist also Kapitän auf deinem Schiff.“ „Ja, das ist er. Er ist der schrecklichste Kapitän der Welt.“ „Dann müsst ihr ja hier irgendwo vor Anker liegen.“ Tim fummelte an einem Geschirrtuch herum, das er in der Küche und beim Servieren immer bei sich trug. „Nein, nicht hier. Wir sind auf offener See.“ „Aber hier ist nur Festland. Wir sind hier fünfzig Kilometer vor Bologna.“ „Das glaubst du, Tim.“ Kurt grinste, hob den Teller vor das Gesicht und leckte ihn ab. Was für ein Schmutzfink, dachte Tim. „Du kannst noch mehr Pasta haben. Oder du verschwindest gleich.“ Überraschung lag in Kurts Blick. Einen Moment lang sagte er nichts und schrie dann auf einmal: „Gib mir alle Pasta, die du hast!“ Tim schüttelte nur verwirrt den Kopf. Er nahm den Teller und ging zurück in die Küche, um Nachschlag zu holen. Dabei fiel sein Blick auf die Küchenuhr. Frau Spanilli würde in einer halben Stunde da sein. Was für ein Glück. So lange musste er Kurt mit Spaghettiessen beschäftigen. „Dir ist aber klar, dass du mir das bereits gesagt hast. Ich kann dir aber immer nur so viel Pasta auf den Teller tun, wie drauf passt.“ Tim setzte sich zu seinem Gast. Das konnte er sich erlauben, solange keine anderen Kunden da waren. Außerdem konnte er ihn so besser im Auge behalten. „Ist klar. Ich hab verstanden. Ich bin in letzter Zeit so vergesslich.“ Kurt sprach wie einer der alten Herren, die Antonios Feinkostladen besuchten. So langsam hatte Tim keine Ahnung mehr, wer ihm da eigentlich gegenübersaß. Von dem schmatzenden Jungen, der sich wie ein Pirat benahm, ging vermutlich keine Gefahr aus. Er tat ihm sogar ein bisschen leid. Vielleicht musste er ohne Freunde auskommen, dachte sich verrückte Geschichten aus, lebte in einem Waisenhaus oder war einfach nicht ganz richtig im Kopf. Warum sollte er sonst so einen Heißhunger haben und aussehen, als lebte er auf der Straße? Einmal mehr stellte Tim fest, wie gut es ihm ging, was er alles in den letzten Jahren gelernt hatte. Er erinnerte sich an die alte, traurige Zeit, als seine Mutter und er noch bei seinem Vater gewohnt hatten. Wie seine Mutter mit ihm mitten in der Nacht aufgebrochen und in den Zug gestiegen war, wie sie von Land zu Land fuhren und an Antonios Begrüßung, als sie nach mindestens drei Ewigkeiten in dem kleinen italienischen Dorf ankamen. So wohl wie hier hatte er sich nicht einmal in seiner alten Heimat gefühlt. Ja, er fühlte sich so wohl, dass ihm der verrückte Junge nur noch leidtat. Kurts Teller war zum zweiten Mal leer. Er hob den Kopf, lächelte sogar ein bisschen und seufzte: „Das war echt lecker. Du kannst total gut kochen.“ „Danke“, antwortete Tim und machte einen Diener. Er drehte sich weg, nahm das benutzte Geschirr auf seinem Tablett mit und wollte es in die Küche bringen. Doch da vernahm er Kurts Stimme hinter sich. Er stellte eine Frage – die erste und bisher einzige Frage, die Tim von ihm gehört hatte: „Könnte ich vielleicht noch eine Portion haben?“ Tim hatte keine Zeit sich über diesen Hunger zu wundern, denn draußen am Schaufenster schoss ein Schatten vorbei. Der Himmel verdunkelte sich wie bei einer Sonnenfinsternis. Die fünf kleinen Glöckchen über der Eingangstür klingelten stürmisch los. Noch mehr Kundschaft, dachte Tim. Nur war es nicht Frau Spanilli, wie er gehofft hatte. Stattdessen sah er den Schatten einer furchterregenden Gestalt und ließ vor Schreck das Tablett fallen. Das Geschirr klirrte und Scherben sprangen über die Fliesen. Ein Wolkenbruch ergoss sich auf das kleine Dorf, Blitze und Donner schlugen hernieder. In Sekunden war ein Unwetter heraufgezogen, das wirkte, als ob es nicht von dieser Welt wäre. Hier, an diesem Ort, an dem sich Tim vor einem Moment noch sicher gefühlt hatte, überkam ihn die Panik wie eine riesige Welle, wie ein Tsunami.

Kapitel 1Der Pirat"Humpelgreed, Humpelgreed,du hast die Welt im Griff,egal, wie sie sich weiterdreht,jeder landet auf deinem Schiff.Humpelgreed, Humpelgreed,raubst dir Fragen oder Gold.Wenn es Piraten schlecht ergeht,sie haben's so gewollt.Humpelgreed, Humpelgreed,mach voll die Kajüten.Kommt, Matrosen, und seht,der Kapitän wird's euch vergüten."Ein Mann, mit düsterem Blick, glänzendem Säbel und einer bedrohlichen Hakenhand, stand vor dem Brunnen des Dorfes und wackelte mit dem Kopf. Das Wasser tropfte ihm vom Bart und spritzte in alle Richtungen, wie bei einem Hund, der sich schüttelt. Dann setzte er einen dreieckigen Hut auf, sodass sich ein Schatten auf sein Gesicht legte. Dieser machte seine ohnehin finstere Miene noch bedrohlicher.Um ihn herum tanzten zwei rattengesichtige Jungen, die wie Zwillinge wirkten. Ähnlicher können sich zwei Menschen kaum sein, wie sie so dastanden, mit ihren tropfenden roten Hemden, mit dem Totenkopf und den gekreuzten Knochen darauf. Der Mann hob einen Zeigefinger an den Mund. Sofort legten die Jungen Pauke und Geige auf den Rand des Brunnens und das Lied über Kapitän Humpelgreed verstummte. Sie stellten sich neben ihn und wischten sich über die nassen Gesichter.Doch von alledem wusste Tim in dem Spezialitätenladen nichts.-Durch ein Oberlicht wehte der Klang der Musik in den kleinen Spezialitätenladen hinein. Der schräge Gesang stammte nicht aus diesem Ort. Das wusste Tim. Und ein Lied von einem Humpelgreed hatte er auch noch nie gehört, erst recht nicht in dem kleinen italienischen Dorf. Hier kannte jeder jeden.Tim machte sich keine weiteren Gedanken über den Gesang, der durch das Fenster drang. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, ein paar Dosen im Laden seines Onkels zu ordnen. Die Leute können singen, was sie wollen, dachte er. Wieso sollte er sich daran stören?Noch während er die Ananasdosen in einer geraden Linie hintereinander aufstellte, flog die Ladentür auf und die fünf kleinen Glöckchen darüber bimmelten. Ein ungewöhnlich junger Gast mit nassen Haaren kam herein, streckte einen Zeigefinger drohend aus und hielt ihn Tim unter die Nase."Stell bloß keine Fragen!", sagte der vielleicht vierzehnjährige Junge.Tim verschlug es die Sprache. Er hätte gerne gefragt, warum die Kleidung des Fremden so speckig, geflickt und schmutzig aussah. Er fragte sich, warum er ihm den Boden volltropfen musste. Und vor allem wollte Tim wissen, warum zum Henker er keine Fragen stellen durfte.All das schoss ihm durch den Kopf. Aber am Ende platzte es aus ihm heraus: "Kann ich was für dich tun?"Die Hand des Jungen schnellte vor, packte Tim am Kragen, und zog ihn zu sich ran. Um ein Haar hätten sich sogar ihre Nasenspitzen berührt. Doch Tim roch nur seinen muffigen Atem, der zwischen den fauligen Zahnstummeln des Fremden hindurch pfiff. "Ich sagte: Stell keine Fragen." Der Junge ließ den Kragen los, Tim wich zurück und strich ihn wieder glatt. "Das bedeutet: gar keine. Nicht eine. Keine. Nichts. Nicht der Hauch einer Frage. Kapier das!"Der Typ rückte seine braune Lederjacke über dem schwarz-weiß gestreiften Hemd zurecht. Sein Blick schweifte durch den Laden. Die guten Lebensmittel weckten offensichtlich sein Interesse. Auch Tim kostete gern von den Spezialitäten, die sein Onkel Antonio anbot. Natürlich nur, wenn er durfte."Das ist ein schöner Laden", sagte der Vierzehnjährige. "Eines Tages will ich auch so einen haben.""Der gehört meinen Onkel Antonio." Tim stellte sich hinter den Kassentresen. "Ich vertrete ihn nur, aber er müsste jeden Moment wiederkommen." Das stimmte natürlich nicht. Antonio war mit seinem Lieferwagen in die nächste Stadt gefahren, denn in dem kleinen Dorf gab es bei weitem nicht alles, was er anbieten wollte. Aber Tim hoffte, dass der Fremde den Laden dadurch schneller verlassen würde. Er hatte das Gefühl, er hätte einen echten Räuber bei sich im Laden.Doch davon war der Junge weit entfernt. Er schlenderte durch den Laden, betrachtete die Konserven, sa

Erscheint lt. Verlag 5.6.2013
Verlagsort Essen
Sprache deutsch
Maße 130 x 190 mm
Gewicht 390 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Kinder- / Jugendbuch Erstlesealter / Vorschulalter
Kinder- / Jugendbuch Kinderbücher bis 11 Jahre
Geisteswissenschaften Philosophie Logik
Schlagworte Abenteuer • action • All Age • Antworten • Ben • Coming of Age • das auge • David • Erinnerungen • Fragen • Fragen stellen • Frau Wasser Strand Mann Haus Familie Essen Kinder Baum Menschen Kind Geld Mädchen Natur Hand Hände Sonne Landschaft Team Beratung Schule Unterwasser Insel Urlaub Fragen Inspiration • Gedicht • Gesang • Grashüpfer • Hai • Heuschrecken • Humor • Jugendbuch • Kapitän • Kinderbuch • Krabbe • Krake • Labyrinth der Träumenden Bücher • lebende Bananen • Lebensweisheiten • Meer • Meerungeheuer • Menschenfreund • Michael Ende • Pirat • Piraten • Piratengeschichte • Pirat / Piraterie; Kinder-/Jugendlit. • Pirat / Piraterie / Seeräuber; Kinder-/Jugendlit. • Planken • Riesenkrabbe • sandleute • Sandsturm • sandwürmer • Schiff des lebens • Schlange • scibbel und scrobbel • Seefahrt des lebens • Seeräuber • seerosenblätter • Seeungeheuer • Segelschiff • Stockbrot • sunnie und polli • Teamplayer • Tim • Wal • Walter Moers • Zukunft
ISBN-10 3-944544-01-3 / 3944544013
ISBN-13 978-3-944544-01-4 / 9783944544014
Zustand Neuware
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