Selbstmord im Dritten Reich (eBook)
338 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76180-9 (ISBN)
Hitler, Goebbels, Bormann und Himmler - sie alle brachten sich um, als »ihr Deutsches Reich« unterging. Die Geschichte des Selbstmords im Dritten Reich zu erzählen bedeutet aber vielmehr, ganz andere Personen in den Blick zu nehmen: Anhänger und Gegner des Regimes, Soldaten und Frauen, verfolgte Gruppen, unter ihnen insbesondere Juden.
Die Motive, die bereits in der Weimarer Republik, verstärkt jedoch während des Zweiten Weltkriegs und nach der Kapitulation zu hohen Selbstmordraten geführt haben, differieren. Diesen unterschiedlichen Motiven nachzugehen, den Menschen hinter den Zahlen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben, dieses Verdienst kommt dem Autor dieser bereits mit hoher Aufmerksamkeit bedachten Studie zu.
Christian Goeschels Buch verbindet die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen mit den Diskursen über Selbstmord und den Einzelschicksalen, die hinter den Selbstmordraten stehen. Der Autor analysiert Presseberichte, Propagandamaterial, Selbstmordstatistiken, Abschiedsbriefe, Polizeiunterlagen, Gerichtsdokumente und wissenschaftliche Abhandlungen aus dem Zeitraum von der Weimarer Republik bis nach der Kapitulation. Er kann zeigen, daß Selbstmord im Dritten Reich eine Option zwischen Selbstbestimmung und Bewahrung der Würde war - und oft die letzte Hoffnung im Angesicht des nationalsozialistischen Schreckens.
<p>Christian Goeschel, geboren 1978, lehrt Europäische Geschichte an der Universität Manchester.</p>
Cover
1
Informationen zum Buch oder Autor 2
Titel 3
Impressum
4
Inhalt 5
Vorwort zur deutschen Ausgabe 7
Hinweis für die Leser 9
Einleitung 11
I 11
II 18
III 22
1 Hintergrund: Die Weimarer Zeit 24
I 24
II 34
III 39
IV 44
V 51
VI 68
VII 80
VIII 87
2 Selbstmord unter dem Hakenkreuz, 1933-1939 90
I 90
II 97
III 105
IV 117
V 126
VI 131
VII 136
VIII 140
IX 147
3 Selbstmorde deutscher Juden, 1933-1945 149
I 149
II 151
III 163
IV 167
V 171
VI 178
VII 181
4 Selbstmorde im Krieg, 1939-1944 184
I 184
II 186
III 198
IV 204
V 210
VI 215
VII 218
5 Zusammenbruch 230
I 230
II 241
III 247
IV 253
Schluß 256
Anmerkungen 265
Einleitung 265
1 Hintergrund: Die Weimarer Zeit 266
2 Selbstmord unter dem Hakenkreuz, 1933-1939 274
3 Selbstmorde deutscher Juden, 1933-1945 281
4 Selbstmorde im Krieg, 1939-1944 286
5 Zusammenbruch 292
Schluß 296
Statistischer Anhang 299
Liste der Abkürzungen 314
Liste der Tabellen und Statistiken 315
Dank 317
Bibliographie 319
I Dokumente 319
II Gedruckte Primärquellen 320
III Sekundärliteratur 326
IV Unveröffentlichte Dissertationen 338
11Einleitung
I
Das Dritte Reich endete bekanntlich in einer Orgie von Selbstmorden. Hitler und Eva Braun nahmen sich das Leben, ebenso Goebbels und seine Frau, Himmler, später Göring und andere führende Nationalsozialisten. Weniger bekannt ist, daß diese Ereignisse in ein Muster der Selbstzerstörung paßten, das in NS-Deutschland verbreitet war. Kamen diese zerstörerischen Akte vollkommen unerwartet, oder bildeten sie den Höhepunkt von tieferen Trends in ideologischen Einstellungen und Verhaltensweisen? Das vorliegende Buch sucht eine Antwort auf diese Frage zu geben. Es beruht auf einer Untersuchung des Phänomens Selbstmord in Deutschland zwischen 1918 und 1945, also in der Zeit vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Selbstmord, schreibt der Historiker Richard Cobb, sei der »intimste und unzugänglichste menschliche Akt«.1 Er kann ein letzter Ausweg aus scheinbar unlösbaren emotionalen, sozialen oder ökonomischen Problemen sein. In der modernen Gesellschaft werden Selbstmorde meistens als Folge von Krankheiten betrachtet und ihre Motive pathologisiert. In dieser Betrachtungsweise aber verliert der Selbstmord »die Dimension ethischer Entscheidung und Reflexivität«.2 Mehr noch, eine historische Untersuchung über den Selbstmord, die von dieser Voraussetzung ausginge, wäre im Grunde sinnlos, denn der Entschluß, sich das Leben zu nehmen, erschiene dann ja als Produkt zeitloser Schwächen und Gebrechen. Doch wurde dieser Auffassung des Selbstmords bereits Ende des 19. Jahrhunderts heftig widersprochen.
Der französische Soziologe Émile Durkheim beispielsweise führte den Selbstmord auf bestimmte gesellschaftliche 12Strukturen und auf die mangelhafte Integration eines Individuums in die Gesellschaft zurück. Durkheims Interesse galt vor allem den zerstörerischen und chaotischen Einflüssen der Moderne auf die zivilisierte Gesellschaft.3 Seine Studie über den Selbstmord steht in der Tradition der »Moralstatistik«, einer Denkrichtung des 19. Jahrhunderts, die sich der Untersuchung des Verhaltens und seiner Veränderungen im Lauf der Geschichte widmete. Darin spiegeln sich politische und kulturelle Entwicklungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, die Regierungen dazu brachte, sich sozialpolitisch zu engagieren. Und dafür brauchte man Statistiken über Geburten- und Todesraten, Art und Umfang krimineller Handlungen und ähnliche statistische Phänomene. Seit den 1870er Jahren nutzten staatliche Einrichtungen Selbstmordstatistiken zunehmend als Indikatoren für die moralische Gesundheit der Gesellschaft.4 Durkheim unterschied zwischen drei Haupttypen der Selbstzerstörung: dem egoistischen, dem altruistischen und dem anomischen Selbstmord. Die egoistische Selbsttötung hielt er für eine Folge der mangelhaften gesellschaftlichen Integration eines Individuums, die altruistische entspringt seiner Ansicht nach dem Wunsch, sein Leben für ein soziales Anliegen zu geben, und die anomische resultiert aus einem totalen Umsturz geltender Normen und Werte.5 Alle diese Kategorien sind für die vorliegende Studie relevant, wobei »Anomie« besonders hilfreich ist, weil sie Selbstmord als geschichtliches Ereignis erklären kann. Außerdem benutzten Zeitgenossen Begriffe, die dem der Anomie entsprachen (auch wenn sie diesen Begriff selbst nicht gebrauchten), um sich ihre Erfahrungen der Moderne, den Umsturz der Normen und Werte verständlich zu machen, der nach ihrer Ansicht zu suizidalen Handlungen führte. Auch Historiker haben Durkheims Überlegungen aufgegriffen. In einem kurzen, dennoch äußerst anregenden Abschnitt seiner Untersuchung über die vorindustrielle Gesellschaft Englands nutzt Peter Laslett Durkheims Theorie des Selbstmords in einer 13Weise, die typisch ist für die Geschichtsschreibung der 1960er und 70er Jahre. Laslett hat sich der Auffassung angeschlossen, daß die Selbstmordrate »ein deutlicher Indikator sozialer Auflösungserscheinungen« sei, der das Verhältnis zwischen individueller Disziplin und gesellschaftlichem Überleben markiere.6 Die Historikerin Olive Anderson versucht in ihrer Monographie über den Selbstmord im viktorianischen und edwardianischen England, die überwiegend auf statistischem Material und auf Durkheims positivistisch sozialwissenschaftlicher Methode beruht, unterschiedliche Formen des Selbstmords durch Unterschiede nach Generation, Geschlecht und Klassen zu erklären.7
Dagegen wiederum wendet der Mediävist Alexander Murray ein, die Konzepte von Selbstmord und Statistik seien »aus einem bestimmten Blickwinkel so weit voneinander entfernt, wie das zwei Konzepte nur sein können«.8 Nach dem strukturalistischen Modell sind suizidale Handlungen auf gesellschaftliche Faktoren zurückzuführen. Weil es sich jedoch ausschließlich mit der gesellschaftlichen Dimension des Selbstmords beschäftigt, läßt dieses Modell individuelle Motive, die Menschen in den Selbstmord treiben, außer Betracht; die Handlungsfreiheit des Individuums kommt in diesem Ansatz praktisch nicht vor.
Selbstmordstatistiken bieten »eine sichtbare, greifbare Indikation dessen, was ein extremes Ereignis ist«, aber übergehen das Individuum.9 Um also das Phänomen des Selbstmords in der Weimarer Zeit und in NS-Deutschland zu untersuchen, brauchen wir eine facettenreiche Methode, die sowohl individuellen als auch gesellschaftlichen Faktoren gerecht wird und statistische Erhebungen ebenso berücksichtigt wie Dokumente über Selbstmorde Einzelner.
In ihrem Werk über den Selbstmord im frühmodernen England gehen Michael MacDonald und Terence Murphy einen anderen Weg. Sie betonen die kulturellen und subjektiven Aspekte des Selbstmords, auf die Durkheim und Ander14son nicht eingehen. Es erscheint ihnen, um das Phänomen des Selbstmords zu erklären, wenig hilfreich, eine Selbstmordrate zu berechnen und quantitative Methoden anzuwenden. Statt dessen untersuchen sie, wie sich die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung des Selbstmords im frühmodernen England verändert hat; wenn man so will, nutzen sie den Selbstmord für eine Fallstudie zum kulturellen Wandel.10 Mit ihrer Methode regen uns MacDonald und Murphy dazu an, unsere Aufmerksamkeit auf die textuelle Konstruktion des Selbstmords zu richten, auf die veränderlichen kulturellen Annahmen, die den Selbstmordstatistiken zugrunde liegen. Darum ist ihr Vorgehen so hilfreich. Zumindest versuchsweise läßt sich aus dem jeweiligen Kontext ein Eindruck von Motiven und Rechtfertigungen gewinnen, die einen Selbstmord bestimmen.
Selbstmord ist jedoch nicht nur ein kulturelles Konstrukt, sondern eine reale Handlung. Statistiken bringen das quantitative Ausmaß von Selbstmorden zur Darstellung, und wir müssen sie berücksichtigen, ungeachtet ihrer mangelhaften Darstellung kultureller Faktoren. »Wir sollten Historikern ihre Berufung absprechen, wenn wir glauben, alle berichteten Ereignisse seien losgelöst von irgendeiner objektiven Realität« – so die zugespitzte Formulierung eines Historikers in diesem Zusammenhang.11
1967 zeigte der Soziologe Jack D. Douglas, daß mit der statistischen Methode, mit der Durkheim den Selbstmord untersuchte, entscheidende Leerstellen bleiben. Denn jeder Bestimmung von Selbstmordraten liegen bestimmte Diskurse und Werte zugrunde, die ganz wesentlich sind für die Art und Weise, wie über Selbstmorde berichtet wird.12 So wurden in einigen in NS-Deutschland erstellten Selbstmordstatistiken Motive für den Selbstmord klassifiziert – diese grobe Typologie aber ging direkt auf nationalsozialistische Vorstellungen vom Selbstmord zurück, nach denen Statistiker und Polizisten individuelle Selbstmorde erfaßt haben.
15Außerdem müssen wir davon ausgehen, daß den Ämtern für statistische Erhebungen nicht alle Selbstmorde gemeldet und auch nicht alle Selbstmordversuche statistisch erfaßt wurden. Wie David Lederer, ein Historiker der frühen Neuzeit, gezeigt hat, ist die These, in protestantischen Gebieten seien Selbstmorde häufiger als in katholischen, zum kulturellen Stereotyp geworden. Im Katholizismus ist der Selbstmord tatsächlich ein Tabu und gilt als Todsünde. Ärzte und Polizisten in katholischen Gebieten standen unter beträchtlichem Druck, Selbstmorde als Unfälle erscheinen zu lassen, wie Friedrich Zahn, der Präsident des Bayerischen Amts für Statistik, im Jahr 1932 mißbilligend festgestellt hat.13 So kann sich die Religion auf die Genauigkeit von Statistiken auswirken.
Wie alle historischen Statistiken haben auch die über Selbstmorde unweigerlich eine Fehlermarge; sie sind deswegen aber absolut nicht bedeutungs- oder wertlos. In der Weimarer Republik und in NS-Deutschland korrelierten die Selbstmordraten in verschiedener Hinsicht mit allgemeineren Trends, zum Beispiel mit der Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Man kann davon ausgehen, daß sie nicht völlig ungenau sind. Statistische Erhebungen, die auf nationaler und regionaler Ebene nach Alter und Geschlecht differenzieren, geben die unterschiedlichen Muster in ländlichen und städtischen sowie in protestantischen und katholischen Gebieten nachvollziehbar wieder.
So müssen wir beide Richtungen, die statistische und die kulturwissenschaftliche, miteinander verbinden, um das Phänomen des Selbstmords in NS-Deutschland zu erklären; müssen einerseits die persönliche Dimension des Selbstmords untersuchen, um uns ein Bild von den existentiellen und emotionalen Problemen zu machen, die zum extremen Akt...
Erscheint lt. Verlag | 18.2.2013 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Suicide in Nazy Germany |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Deutschland • Drittes Reich • Florian Huber • Geschichte 1933-1945 • Selbstmord • Suicide in Nazy Germany deutsch |
ISBN-10 | 3-518-76180-3 / 3518761803 |
ISBN-13 | 978-3-518-76180-9 / 9783518761809 |
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Größe: 4,7 MB
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