Gewalt ohne Ausweg? (eBook)

Terrorismus als Kommunikationsprozess in Europa seit dem 19. Jahrhundert
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2012 | 1. Auflage
317 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-41879-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gewalt ohne Ausweg? -
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Terrorismus, so die Grundthese dieses Bandes, ist ein kommunikativer Akt. Die Gewalt ist kein Selbstzweck, sondern soll Botschaften transportieren und maximale Aufmerksamkeit erzielen. Die Beiträge des Bandes untersuchen die kommunikative Verflechtung terroristischer Gewalt mit staatlichem Handeln und der Mediengesellschaft. Analysiert werden Attentate im Russland und Frankreich des 19. ebenso wie der irische und baskische Terrorismus des frühen 20. Jahrhunderts oder die Roten Brigaden und die RAF. Dabei wird deutlich, dass gerade die Kommunikation zwischen Terroristen, Staat und Öffentlichkeit auch Chancen zur Deeskalation bietet.

Klaus Weinhauer, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Prof. und Jörg Requate, Dr. phil., ist Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld

Klaus Weinhauer, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Prof. und Jörg Requate, Dr. phil., ist Privatdozent an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld

Inhalt 6
Vorwort 8
I. Einleitung 10
Terrorismus als Kommunikationsprozess: Eskalation und Deeskalation politischer Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert – Klaus Weinhauer und Jörg Requate 12
Thesen: Terrorismus und Kommunikation – Peter Waldmann 50
II. Anarchistischer und nationalistischer Terrorismus bis zum Ersten Weltkrieg 64
Russland als Geburtsland des modernen »Terrorismus«? oder: »Das classische Land des politischen Attentats« – Lutz Häfner 66
Die Faszination anarchistischer Attentate im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts – Jörg Requate 100
III. Rechter und nationalistischer Terrorismus der Zwischenkriegszeit 122
»Krieg im Frieden«: Der »Weiße Terror« in den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches – Robert Gerwarth 124
Getting the IRA to the Table: Ending the Irish War of Independence 1920–21 – Joost Augusteijn 138
IV. Antikolonialer Terrorismus 156
Dialog ohne Witwen? Nationalismus und Gewalt im Baskenland – Stefanie Schüler-Springorum 158
Vom antikolonialen Konflikt zum Kampf um Symbole: Räumliche, lokale und transnationale Perspektiven auf den Nordirlandkonflikt (1967–1998) – Klaus Weinhauer 178
V. Sozialrevolutionärer Terrorismus der Neuen Linken 202
The RAF and the Left in West Germany: Communication Processes between Terrorists and Their Constituency in the Early 1970s – Jacco Pekelder 204
Ausstiegs- und Befriedungsstrategien am Beispiel des bundesdeutschen Linksterrorismus – Gisela Diewald-Kerkmann 224
Der Weg in die Isolation: Kommunikative Strategien der Roten Brigaden im Italien der 1970er Jahre – Alexandra Locher 242
Violence and communication in social-revolutionary movements in France 1968–1987 – Philipp Zessin und Matteo Albanese 262
Terroristen vor Gericht: Terrorismusprozesse als kommunikative Fortsetzung des Kampfes um Recht und Gerechtigkeit – Beatrice de Graaf 282
VI. Religiös motivierter Terrorismusseit den 1980er Jahren 300
Religiös motivierter Terrorismus in der europäischen Diaspora: Transnationale Netzwerke, lokale Kleingruppen, Medienkommunikation – Klaus Weinhauer 302
Autorinnen und Autoren 318

3. Konstellationen der Befriedung terroristischer Gewalt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Forschungsperspektiven

Am Ende dieser Einleitung sollen auf der Basis des hier verfolgten Ansatzes einige Forschungsperspektiven aufgezeigt werden. Ausgehend von den präsentierten historischen Formen des Terrorismus können verschiedene Konstellationen umrissen werden, unter denen es möglich war, terroristische Gewalt zu befrieden, ohne jedoch Patentrezepte für eine solche Befriedung zu liefern. Insgesamt aber steht die Forschung zur Deeskalation und zur Befriedung terroristischer Gewalt noch am Anfang.

Seit den späten 1980er Jahren hat das Ende der Ost-West-Blockkonfrontation durch den Zerfall der sozialistischen Staaten auch für terroristische Gewalt sowie für den staatlich-gesellschaftlichen Umgang damit neue Rahmenbedingungen geschaffen. Zum einen wirkte dieses Deeskalationspotenzial jedoch nicht von sich aus, sondern musste in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Zum anderen dürfen diese politischen Veränderungen nicht den Blick auf drei miteinander verbundene tiefer liegende und früher einsetzende Wandlungsprozesse verstellen: auf den Wandel von Staatlichkeit und deren Wahrnehmung (1), auf den Aufstieg der Mediengesellschaft und auf die damit verbundenen, höchst ambivalenten Auswirkungen auf die gesellschaftliche Kommunikation (2) sowie auf die gestiegene Bedeutung von Opfern in der medial vermittelten Kommunikation über politische Gewalt (3). Zumindest in den ersten vier der hier untersuchten Phasen terroristischer Anschläge bildeten die Nationalstaaten - trotz internationaler Vernetzungen - die ersten 'Ansprechpartner' der medial kommunizierten terroristischen Anschläge. Es stellt sich die Frage, ob staatlichen Akteuren und Medien nicht auch eine besondere Verantwortung bei der Befriedung terroristischer Gewalt zukam. Anders ausgedrückt: Waren deeskalative Maßnahmen von staatlicher Seite zwingend notwendig, um terroristische Gewalt zu befrieden? Denn in keinem der hier untersuchten Fälle gelang diese Pazifizierung vorrangig durch staatliche Repression. Wie zudem der Vergleich der französischen Gauche prolétarienne sowie der Action directe, aber auch das Beispiel der Roten Brigaden nahelegen, ist es - quasi als Vorstufe einer Befriedung terroristischer Gewalt - unabdingbar, dass die Medien sich bemühen, die Kommunikation zwischen staatlich-gesellschaftlichen und den militanten Akteuren aufrechtzuerhalten, auch deshalb, um so dem noch stärkeren Rückzug in hermetische und hochkohesive Kleingruppen entgegenzuwirken. Allerdings muss diese Kommunikationsbereitschaft auf allen Seiten - auch bei den Terroristen - vorhanden sein. Ist dies, wie bei der RAF, der AD sowie den späten Roten Brigaden, nicht (mehr) gegeben, kann ein Befriedungsprozess kaum in Gang kommen. In all diesen Fällen ist es wichtig (siehe Irland), geeignete Vermittler zu haben, um die Konfliktparteien ohne Gesichtsverlust zusammenbringen zu können. Zudem wäre es lohnenswert, einer weiteren Erkenntnis genauer nachzugehen, die hier nur angerissen werden konnte. Denn wie es scheint, war eine Pazifizierung terroristischer Gewalt nur möglich, wenn staatliche, medial-gesellschaftliche und terroristische Akteure (einschließlich der mit ihnen verbundenen Milieus, Gemeinschaften und Gruppen) zusammenarbeiteten. Initiativen einzelner Akteure waren zwar hilfreich, konnten aber für sich genommen keinen dauerhaften Frieden schaffen. Somit sollten auch die Milieus, aus denen die Terroristen hervorgegangen sind oder auf die sie sich mit ihren Taten bezogen, in die Kommunikationsprozesse einbezogen werden. Dabei geht es weniger um Eingriffe von oben als um die Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Ressourcen und deren kommunikative Einbindung in die Befriedungsinitiativen. Strafprozesse, in denen sich staatliche Akteure und die angeklagten Terroristen unzweideutig und uneingeschränkt auf demokratische Straf- und Verfahrensrechte als Kommunikationsgrundlage beziehen, bildeten wichtige Rahmenbedingungen für die Befriedung terroristischer Gewalt.

Seit etwa den 1980er Jahren erlebte der europäische Terrorismus seinen Niedergang. Dieser war - wie eingangs erwähnt - nicht nur ausgelöst vom Ende der Ost-West-Gegensatzes und des Kalten Krieges. Vielmehr wandelten sich die Praxis und Wahrnehmung staatlicher Macht. Zum einen hat das Ende der Blockkonfrontation staatliche Schutzfunktionen sowohl gegenüber dem Terrorismus als auch gegenüber äußeren und inneren Bedrohungen aus dem jeweils anderen System obsolet werden lassen. Zum anderen, und dies ist bislang zu wenig beachtet worden, hatte der Staat bereits zuvor begonnen, seine Herrschaftspraxis auszudifferenzieren. Er verlor dadurch viel von seinem Feindbildcharakter und wurde zugleich als weniger allmächtig oder gar dämonisch wahrgenommen. Auch dieses Zusammenwirken bliebe noch genauer zu untersuchen.

Die gewachsene Bedeutung gesellschaftlicher Opferdiskurse bildet einen eminent wichtigen Indikator für diesen Erosionsprozess staatlicher Macht, der hier ebenfalls nur angerissen werden konnte. Im profanen Sinne gelten als Opfer diejenigen, die zufällig von Unglücksfällen betroffen werden. Im religiös-mythologischen Sinn werden Tote dann zu Opfern gemacht, wenn diese Menschen für etwas gestorben, also nicht einfach passiv aus dem Leben geschieden sind. Der Tod wird so von einem zufälligen Ereignis, das passiv erlitten wurde, in einen intentionalen Akt (das Aufopfern) verwandelt. Durch diese Sinn stiftende Funktion des Todes kann ein Ereignis, das eine imaginierte Gemeinschaft schwächen sollte, so umdefiniert werden, dass es dieses Kollektiv stärkt.

In Deutschland wurden die von Terroristen Getöteten quasi sofort zu Opfern im religiösen Sinn; getötete Politiker, Wirtschaftsführer und Polizisten hatten ihr Leben für etwas gegeben (für den Staat, für die Ordnung usw.). Dies wurde in Trauerfeiern öffentlich dokumentiert. Seit den 1990er Jahren reklamierten jedoch auch gesellschaftliche Akteure (Angehörige, Witwen, erinnerungspolitisch ausgerichtete Gruppierungen) für ihre Toten im Kampf zwischen Terrorismus und Staat das sinnstiftende Recht auf den Opferstatus. Wie einige Beiträge des Bandes zeigen, wurde dieses gewachsene Selbstbewusstsein zunächst auf kommunaler Ebene artikuliert. Während in Nordirland vor allem den Opfern staatlicher Gewalt Anerkennung und ihren Angehörigen stärker Gehör verschafft werden sollte, wurden im Baskenland speziell die Angehörigen und Hinterbliebenen der durch die ETA Ermordeten aktiv. In beiden Fällen wurde der staatlichen Seite das alleinige Recht abgesprochen, Opfer definieren zu können. Zudem unterstreicht diese neue Intensität der Opferdebatten aber auch, dass der jeweilige bewaffnete Konflikt über die engen Grenzen eines lokalen Settings hinaus kommuniziert werden sollte; er wurde auch dadurch zu einem Problem der gesamten Gesellschaft. Auch in der Bundesrepublik wurden besonders in den 1990er Jahren intensive medial kommunizierte Debatten geführt, in denen der Blick auf die Konfrontation zwischen Staat und Terrorismus um private Opferperspektiven erweitert wurde. Die Publikation 'Ihr habt unseren Bruder ermordet' stand am Anfang dieser Perspektiverweiterung. Wenn es um die Analyse der Konstellationen zur Befriedung politischer Gewalt geht, muss die Medienberichterstattung weit differenzierter beurteilt werden, auch hier besteht noch viel Forschungsbedarf. Wie wir oben betont haben, sind Medien jedoch nicht nur bloße Sprachrohre der Terroristen. Vielmehr generiert die Medienberichterstattung einen Begründungszwang, dem sich besonders die Terroristen, aber auch die anderen am Kommunikationsprozess beteiligten Akteure stellen müssen. Diese Ambivalenz von Medialität verdeutlichen besonders gut sowohl der französische als auch der russische Terrorismus des späten 19. Jahrhunderts. Hier wurde über die terroristischen Anschläge zwar intensiv berichtet. Diese Botschaften konnten jedoch nur kurzzeitig das medial-gesellschaftliche Interesse wecken. Es erlahmte, weil entweder klar wurde, dass kaum substantielle Botschaften jenseits von Gewalt und Zerstörung kommuniziert werden konnten (Frankreich) oder weil die Anschläge inflationär häufig waren und somit kaum noch Aufmerksamkeit erzeugten (Russland). Diese Argumentation wird auch durch die Entwicklung des linken sozialrevolutionären Terrorismus und seiner Organisationen in Italien und Frankreich der 1970er Jahre unterstrichen, die auch deshalb kaum mehr Resonanz fanden, weil ihre Botschaften inzwischen kaum jemanden überzeugten.

In den 1990er Jahren zeigt sich auch eine wichtige Veränderung im Verhältnis zwischen Medien und Staat. Nun geriet augenscheinlich auch der staatliche Umgang mit Terrorismus unter höheren Begründungsdruck. Bei allen Unterschieden zwischen der Bundesrepublik und Nordirland galt dies augenscheinlich besonders dann, wenn Terrorismus überwiegend durch staatliche Repression bekämpft worden war. Eine solche Politik schien nun den gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen nicht mehr zu genügen. Somit müssen sich nicht nur Terroristen, sondern auch Staaten dem medial erzeugten Begründungsdruck stellen, wollten sie nicht, dass ihre Ziele allein mit Zerstörung (Terroristen) bzw. repressiver Gewalt (Staat) assoziiert werden.

Zudem war der Niedergang des gezielt gegen einzelne Nationalstaaten gerichteten Terrorismus mit Veränderungen in der Rezeption medialer Kommunikation verbunden. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vorhandene Faszination für Nachrichten über politische Gewalt im urbanen Setting, wie sie für Frankreich analysiert wurde, war auch deshalb so groß, das soll hier als Arbeitshypothese formuliert werden, weil sich die Städte in diesen Jahren grundlegend veränderten. Solche Wandlungen wurden vor allem ausgelöst durch die Doppelprozesse der Urbanisierung und Industrialisierung sowie durch damit einhergehende Quartiers(um)bil-dungen, Wanderungs- und Migrationsbewegungen. Ende des 20. Jahr-hunderts wurde es hingegen sehr schwer, durch politisch motivierte Gewalt gezielt auch tatsächlich politische Botschaften medial zu übermitteln. Wie erste Sondierungen nahelegen, zeigten sich diese Schwierigkeiten zum einen daran, dass die Baader-Meinhof-Gruppe zum Objekt einer entpolitisierenden Popkultur: zu Prada-Meinhof wurde. Zum anderen war es mit Blick auf die Londoner Selbstmordanschläge vom Juli 2005 durch die dichte Präsenz unzähliger live aufgenommener privater digitaler Medienmaterialien (Fotos, Videos) kaum mehr möglich, in diesem opferbezogenen Kommunikationsstrom eine zentrale, sei es politische, Botschaft an spezifische Adressaten zu übermitteln.

Wie am Beispiel des religiös motivierten Terrorismus des 21. Jahrhunderts angedeutet wurde, könnten zukünftige sozial- und kulturgeschichtliche Studien zur Analyse des Terrorismus im Spannungsfeld von Staat, Medienkommunikation und Opferdiskursen aber auch dazu beitragen, die Gewaltpotenziale der Konsumgesellschaft zu entschlüsseln. Gilt doch diese Gesellschaft in Überblicksdarstellungen zur Geschichte Europas im 20. Jahrhundert neben dem Kalten Krieg als wichtiger Garant für das Ausbleiben zwischenstaatlicher Konflikte. Im 21. Jahrhundert konnten Terroristen zwar - wie oben erwähnt - kaum noch spezifische politische Messages an spezielle Adressaten medial kommunizieren. Jedoch bargen die Normen und Werte der zeitgenössischen Gesellschaft der Konsumenten (Zygmunt Bauman) genug Gewaltpotenzial, um eine als defizitär empfundene Teilhabe an ihren Versprechungen mittels terroristischer Gewalt zu kompensieren. Einerseits wurden die Symbole und Botschaften der von Terroristen praktizierten politischen Gewalt nun zwar von den (Nachrichten)Konsumenten in Bausteine ihrer individuellen Identitätspolitiken verwandelt: Terror wurde auch chic. Eine solche Entpolitisierung konnte dazu beitragen, alte dichotomische Denkmuster (them versus us) aufzulösen und so befriedend wirken. Andererseits verdeutlichen solche konsumbasierten Aneignungsprozesse aber auch den Zwang nach Originalität, der Gewaltanwendung als Handlungsoption nicht explizit ausschloss.

Erscheint lt. Verlag 8.10.2012
Co-Autor Matteo Albanese, Joost Augusteijn, Gisela Diewald-Kerkmann, Robert Gerwarth, Beatrice de Graaf, Lutz Häfner, Alexandra Locher, Jacco Pekelder, Jörg Requate, Stefanie Schüler-Springorum, Peter Waldmann, Klaus Weinhauer, Philipp Zessin
Zusatzinfo 4 sw Abb.
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Allgemeines / Lexika
Schlagworte Deeskalation • Europa • Gewalt • Kommunikation • Medien • Politikgeschichte • Staat • Terrorismus
ISBN-10 3-593-41879-7 / 3593418797
ISBN-13 978-3-593-41879-7 / 9783593418797
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