Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften -  Agrippa von Nettesheim

Ungewißheit und Eitelkeit aller Künste und Wissenschaften (eBook)

- auch wie selbige dem menschlichen Geschlecht mehr schädlich als nutzlich sind (De incertitudine et vanitate scientarum et artium et de excellentia verbi dei)
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2012 | 1. Auflage
323 Seiten
Henricus - Edition Deutsche Klassik (Verlag)
978-3-8478-1123-7 (ISBN)
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Agrippa von Nettesheim: Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften und die Verteidigungsschrift. Herausgegeben von Fritz Mauthner, Bd. 1 und 2, München: Georg Müller, 1913 (Bibliothek der Philosophen, Bd. 5 und 8). Erstdruck: Antwerpen 1530. Erste deutsche Übersetzung von einem Anonymus: Ulm 1534. Der Text folgt Fritz Mauthners Bearbeitung einer ebenfalls anonymen Übersetzung, die 1713 in Köln erschien.

Vorrede

Mein, sage mir, lieber Leser, scheinet dir dieses mein Vorhaben nicht eine kühne und rechtschaffene, freche, ja weit über Herculis Kräfte sich erstreckende Tat zu sein, indem ich mir jetzo vornehme, wider den grossen und allgemeinen Riesen-Krieg aller Künste und Wissenschaften die Waffen zu ergreifen, und diese starken und mächtigen Jäger aller Gelehrsamkeit rauszufordern? Ich kann mir wohl einbilden, dass der stolze Haufe aller Doktoren, die grosse Gelehrsamkeit aller Lizentiaten, die Autorität und das gravitätische Ansehen aller Magister, die unterfangende Einbildung aller Baccalaurien und der grausame Eifer aller Schulfüchse, wie auch der Aufstand aller Künstler und Handwerksleute auf mich unerhört schänden und lästern werden. Denn, wenn ich diese anjetzo antaste, so wird es ebensoviel und noch mehr sein, als wenn ich mich unterstünde, den grausamen Nemeischen Löwen mit der Keule totzuschlagen, die Lernäische Schlange mit Feuer zu töten, das grosse Erymanthische Schwein zu fällen, den Hirsch, der in dem Mänalischen Walde güldene Hörner trägt, zu fangen, die Stymphalidischen Vögel in der Luft zu schiessen, den Antäum mit den Ellenbogen zu erdrücken, Grundsäulen in der offenbaren See aufzurichten, den dreiköpfigen Geryonem zu überwinden, starke Ochsen zu bezwingen, über den Acheloum im Duell Meister zu werden, des Diomedis Pferde zu entführen, den Höllenhund Cerberum bei der Kette herumzuführen, die güldenen Hesperidischen Äpfel wegzunehmen, und was dergleichen Sachen mehr sind, welche von dem Hercule mit grosser Arbeit und nicht geringer Gefahr sind verrichtet worden: fürwahr nicht weniger Arbeit werde ich hier brauchen und grösserer Gefahr befinde ich mich unterworfen zu sein, wenn ich diese akademischen Riesen, und diese grossen Schulenungeheuer zu überwinden mich anjetzo unterfange.

Denn es deucht mich schon, und ich sehe allbereit für Augen den blutigen und gefährlichen Krieg, in welchen ich mich anjetzo einlasse, indem ich mit einem mächtigen und schrecklichen Heer vielwissender Leute umgeben bin, ei, mit was für Rüstungen werden sie mir entgegenkommen, wie werden sie auf mich lästern und schmähen? Da werden erstlich die superklugen Grammatici herfürtreten und mir Widerpart halten, auch mit ihren Etymologien meinen ehrlichen Namen vergessen; da werden die frechen Poeten mich für ein Lästermaul oder Ägyptischen Bock halten, und mich in ihren Versen durchziehen; die fabelhaftigen Historienschreiber werden mich über Pausaniam und Herostratum entheiligen und ausschreien; die grosssprecherischen Rhetores oder Redner werden mit zornigen Augen, schrecklichem Gesichte, markschreierischer Stimme und üblen Gebärden mich einer Verletzung der Majestät beschuldigen; die wundersame Memoriographi oder Gedächtnisschreiber werden mir mein Gehirne mit einer überzogenen Larve suchen stumpf zu machen; die zänkischen Dialectici oder Vernunftkünstler werden unzählige syllogistische Pfeile auf mich schiessen.

Die hin und wieder sich kehrenden Sophisten oder Weltweisheitskünstler werden mich mit Wort-Stricken zu binden und mir ein Gebiss ins Maul zu legen suchen; der ungeschliffene Lulliste, oder der von allen Dingen was herzuschwatzen weiss, wird mit groben, ungehobelten Reden mir den Kopf wüste machen; die Mathematici oder diejenigen, so von der Grösse einer Sache Wissenschaft geben, werden mich im Himmel und auf Erden in die Acht erklären; die verwirrten Rechenmeister werden mit ihren wucherischen Konzepten mich zur Rechnung zwingen; der hartnäckige Spieler wird mir den Strick an den Hals wünschen; der unverschämte Pythagorista oder Weissager des Pythagorischen Loses wird mir unglückliche Zahlen vorlegen.

Der künstliche Geomanticus oder Weissager aus der Erden wird mir alles Böse weissagen und allen Dampf antun; bei den vieltonigen Musicis werde ich in allen Schenken die gemeine Fabel sein; sie werden mir mit ihren knarrenden Pfeifen, Posaunen und Waldhörnern mehr als sie auf den Verlöbnissen und Hochzeiten zu tun pflegen, den Kopf vollpfeifen. Die stolzen und prächtigen Weiber werden mich wohl nicht zum Tanze bitten, und die jungen Mägdlein mir schwerlich ein Mäulchen geben; die verwaschenen Mägde werden ein Gespötte aus mir machen, der springende Gaukler und lasterhafte Komödiant wird mich in ein Nach- und Possenspiel mit hineinbringen.

Der hunderthändige Fechter wird mich linkisch und rechtisch anfallen; der verwirrte Geometra oder Feldmesser wird mich mit seinem Triangel und viereckigen Zirkeln, gleich als mit dem Gordischen Knoten in Verwirrung bringen und gefangen nehmen; der vorgebliche Bildschnitzer und Maler wird mich garstiger als einen Affen und hässlicher, als der Thersites gewesen, schnitzen und abmalen; der herumschweifende Weltbeschreiber wird mich über die Sauromatas und das glazialische Meer relegieren; der kunstreiche Baumeister mit seinen trefflichen Maschinen und Werkzeugen mir heimlich den Fuss unterschlagen und mich vieler Irrtümer bezichtigen.

Der teuflische Bergmann wird mich in die Goldgruben hinunterstossen, dass ich weder Sonn' noch Mond werde zu sehen bekommen; die wahrsagerischen Astrologi oder Sterngucker werden mir den Galgen an den Hals prognostizieren und mit ihrer rumdrehenden Sphära den Weg zum Himmel verwahren; die drohenden Wahrsager werden mir alles Böse prophezeien; der unerträgliche Physiognomus, oder, der von der äusserlichen Statur des Leibes judizieret, wird mich hin und wieder austragen, und der närrische Metoposcopus, oder der es einem am Gesichte ansehen kann, wird mich für einen gehirnlosen Esel ästimieren; der wahrsagerische Chiromantes oder der aus der Hand judizieret, wird mir nicht viel Gutes wahrsagen; der zuvorsagende Aruspex oder, der aus dem Vogelgeschrei seine Taten beweist, wird mir einen traurigen Anfang in meinen Sachen prognostizieren; der wundersame Spekulator oder Spiegelkünstler wird mir des Jupiters Blitz und Flammen zuschicken; der finstere Oniropola oder Gespenstvertreiber wird mich mit Nachtgespenstern erschrecken.

Der wütende Vates oder Wahrsager wird mich mit einem zweideutigen Orakel betrügen; der zauberische Magus wird mich entweder wie den Apulejum, oder wie den Lucianum in einen Esel, jedoch nicht wie jener, der von Golde gewesen, suchen zu verwandeln; der schwarze Goetius oder Teufelsbanner wird mich mit lauter Nachtgeistern verfolgen.

Der kirchenräuberische Theurgus, oder der göttliche Reinigungsbefleissiger wird mir den Kopf in die Kloake hineinstecken; der abgemessene Kabbalista oder jüdische Ausleger der Wörter durch gewisse Zahlen, oder durch Versetzung der Buchstaben wird mir meinen Abgang wünschen; der altväterische Prästigiator oder Verblender wird mir den beschnittenen Acephalum vor die Augen malen. Und, mein, wie werden doch die zänkischen Philosophen mit ihren wider sich selbst streitenden Meinungen in mich wüten und toben; die landstreichenden Pythagorici werden mich zwischen dem Hund und Krokodil gehen heissen.

Die schändlichen und bissigsten Cynici, oder Philosophi, deren Obermeister der Antisthenes gewesen, werden mich gar in ein Fass einschliessen wollen; die pestilenzischen Academici werden mir eine böse Frau an den Hals wünschen; die verschwelgerischen Epikureer werden mich mit ihrem Verschwelgen zu Tode saufen; die grundlosen Peripatetici werden mir nach der Seele stehen und mich aus dem Paradies zu verstossen suchen; die ernsthaftigen Stoiker werden mir alle menschlichen Affekte benehmen und mich in einen Stein verwandeln; die vergeblich redenden Metaphysici oder die Sitten-Tugendlehrer werden mir mit ihrem demogorgonischen (?) Chaos, der doch niemals gewesen ist und auch nicht werden wird, meinen Sinn ganz verkehrt zu machen suchen.

Der politische Legislator oder Gesetzgeber wird mir alle Ämter versagen; der wollüstige Fürst wird mich vom Hofe wegschaffen, und die Grossen da selbst werden mich von ihrem Tische verjagen; das verhärtete Volk wird mich auf den Gassen mit lauter Scheltworten plagen, und der grausame erschreckliche Tyrann wird mich zu wilden Tieren einschliessen; die zusammengerotteten Regenten werden mich ins Exilium verjagen; der ungestüme gemeine Mann, der wie eine Bestia mit vielen Köpfen ist, wird mich ungehört ins Verderben jagen; die Republik oder das gemeine Wesen wird mich einer Verräterei beschuldigen.

Die geizigen Pfaffen werden mir den Altar und Beichtstuhl verbieten; die verfluchten Heuchler, nämlich die Kutten- und Mönchskappenträger, werden mich von ihrem Predigtstuhl und Kanzel runterwerfen; die allmächtigen Päpste werden mir meine Sünde zum Fegfeuer behalten; die geilen Hurer werden mir die Franzosen an den Hals wünschen; der räuberische Hurenwirt und die versoffene Kupplerin werden mir meinen Beutel suchen zu fegen; die voller Schwären rumstreichenden Bettler werden das Armenhaus vor mir verschliessen; die da mit Indulgentien handeln und die Sünde um Geld vergeben, werden mir den heiligen Brand wünschen; der ungetreue Haushalter wird mich in der Garküche verarrestieren. Der gotteslästerliche Schiffmann wird mich in Scyllam und Charybdin hineinführen; der leichtfertige und gewissenlose Kaufmann wird mich mit seinem Wuchern selbst verpfänden.

Der diebische Schösser wird mir nach meinem bisschen Brot trachten; die harten Ackersleute werden mir den Garten und das Feld verbieten; die müssigen Hirten werden mir, dass ich dem Wolf möchte in seine Klauen kommen, wünschen; der wasserschwärmerische Fischer wird mir eine heimliche Angel unterlegen; der schreiige Jäger wird den Stossvogel und Hunde über mich schicken; der streitbare Soldat wird mich plündern und berauben und mir eine Kugel schenken; die purpurfarbigen Edelleute werden mich ganz degradieren wollen; die schön uniformierten Heraldi...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2012
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-8478-1123-1 / 3847811231
ISBN-13 978-3-8478-1123-7 / 9783847811237
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