Quellen, Ströme, Eisberge (eBook)

Beobachtungen an Metaphern
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2012 | 1., Erstausgabe
303 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-79580-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Quellen, Ströme, Eisberge - Hans Blumenberg
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Um der übermächtigen Wirklichkeit zu entkommen, erfinden Menschen Bilder und Mythen, metaphysische und kulturelle Systeme, denn sie bieten Orientierung, auch wenn sich ihre »Wahrheit« kaum beweisen läßt. Von dieser Überlegung geleitet, interessierte sich der Philosoph Hans Blumenberg lebenslang für bestimmte Metaphern, die als »regulative Ideen« dem Denken einen Rahmen geben, ohne es ganz festzulegen. Metaphern, so war seine Überzeugung, bilden den Untergrund der Ideengeschichte. Seit 1978 schwebte ihm ein eigenes Buch zu den drei »Wassermetaphern« Quellen, Ströme und Eisberge vor, denen er zentrale Bedeutung zumaß. Er sammelte umfangreiche Materialien und Belege in seinen Zettelkästen, und in seinem Nachlaß fand sich ein nahezu druckfertig ausgearbeiteter Text, der hier zum ersten Mal veröffentlicht wird. Anhand zahlreicher Beispiele - von den Vorsokratikern bis hin zu Werbetexten der Gegenwart - zeigt er anschaulich: Wasser ist, auch als Metapher, buchstäblich lebensnotwendig.

<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>

Cover 
1 
Titel 
3 
Impressum 
4 
Quellen, Ströme, Eisberge 5
Quellen 7
[Paralipomena] 78
An der Quelle der Farbenlehre 84
Ströme 101
Ein Spruch des Heraklit 103
Der Bewußtseinsstrom 163
[Paralipomena] 169
Des Forschers Schwimmen mit dem Strom 174
Phänomenologie. Grenzen der Bewußtseinsstrommetapher am Willensakt? 186
Husserl. Grundmetaphern der »Selbstanzeige«: Wolke / Boden / Quellen / Strom 189
Phänomenologie. Palágyi. Innerhalb der fließenden Zeit keine fließenden Intervalle für (punktuelle) geistige Akte 191
Phänomenologie. Palágyi. Intermittenz: Bewußtsein als Strom macht Zeit unmöglich und wäre die »Erscheinung an sich«!!! 192
Eisberge 203
Das Unsichtbare der reinen Theorie 241
Hans Jonas 243
Hans Jonas II 244
Hannah Arendt 249
[Paralipomena] 253
Der Eisberg des Fatalismus 253
Die Frage nach dem Erfinder 256
Der Eisberg im Hintergrund (Der Japanerberg) 258
Roswin Finkenzeller 260
Ulrich von Bülow/Dorit Krusche 271
1. Metapher und Metaphysik 271
2. Der Synkretismus der Zettelkästen 279
Zur Edition 286
1. Textgrundlagen 286
Quellen 286
Ströme 288
Eisberge 289
2. Editionsprinzipien 291
Quellenverzeichnis 293
Inhalt 305

[Paralipomena]


Der klassische Philologe stoße auf Quellen, wo keine sind, lautet eine sicher nicht nur frivole Berufsweltnachrede. Die bibelkritische Theologie sollte dazu die Karikatur liefen.

Sogar bei klassischen Philologen der ersten Garnitur ist der Ausdruck ›Quelle‹ so terminologisiert, so seines metaphorischen Hintergrundes entäußert, daß er in geläufigen Verbindungen wie den bändereichen Quellen (Jacob Bernays) unverzögert hervortreten kann.

Der Beleg, den ich vorführen möchte, ist ein Stück Übersetzung in einem monographischen Text, der offenbar durch das einmalige Vorkommen des Wortes ›Quelle‹ in der Quelle geradezu inspiriert worden ist. In einer der klassischen Abhandlungen der deutschen klassischen Philologie ihres klassischen Jahrhunderts, der »Über die Chronik des Sulpicius Severus« von Jacob Bernays, wird der Anfang dieses Werkes aus der Zeitgenossenschaft Augustins, aber aus dem aquitanischen Norden des Römischen Reiches, in der Übertragung des Philologen geboten. Die »Chronik« ist als verkürzte Darstellung der biblischen Geschichte, unter Aussparung des Neuen Testaments, den Lesern angekündigt, die aus zeitlichen oder sprachlich-stilistischen Gründen nicht zur Bibel selbst greifen können oder wollen. Ihnen wird eine compendiosa lectio verheißen, aber auch dringend angeraten, es dabei nicht bewenden zu lassen, die Quellen, aus denen sie abgeleitet worden, unbeachtet zu lassen. Im Urtext steht von Quellen nichts, wohl aber taucht als zum Bildfeld gehörige Metapher die der ›Ableitung‹ auf: praetermissis his unde derivata sunt. Dann sogleich wieder der Übersetzer: Man möge vielmehr mit den Quellen sich vertraut machen, und dann das dort Gelesene hier von Neuem sich vergegenwärtigen. Wieder steht nichts von ›Quellen‹ im Text, die Derivation wirkt induzierend nach: nisi cum illa quis familiariter noverit, hic recognoscat quae ibi legerit. Erst wenn die Funktionen umgekehrt sind – also: das ›Lesebuch‹ des Sulpicius nur noch dem Wiedererkennen dessen dient, was im heiligen Original (sacra volumina) nach Hinführung durch die »Chronik« vernommen worden ist –, erst dann wird vom Schöpfen ›aus den Quellen selbst‹ gesprochen, in denen die Geheimnisse der göttlichen Dinge vollständig enthalten sind: Etenim universa divinarum rerum mysteria non nisi ex ipsis fontibus hauriri queunt. Daß Zeitknappheit, Erschrecken vor dem Übermaß des Angebotenen und vor der Fischersprache (salutem … a piscatoribus praedicatam) am Anfang stehen und mit der Rhetorik der »Chronik« überwunden werden müssen – das Paradox eines durch die angemessene Kunstsprache erst zu behebenden Ärgernisses der Gottessprache –, ist die Situation, die zu beschreiben dem Philologen mit der Metapher der ›Quelle‹ am ehesten gelingen will. Er teilt die Situation jener widerwilligen Glaubensanwärter im Aquitanien des heiligen Martin, der vermeintlichen Quelle nicht zu trauen – nur daß er nicht an der Zeitknappheit der Zeitgenossen des Severus teilhat und weniger an die ›Vollständigkeit‹ der göttlichen Geheimnisse als an die bloße Zuverlässigkeit jener Übersetzungen denkt, in denen sie auch im Original nur erreichbar sind, während der Jude Jacob Bernays seinen heiligen Text wirklich mitliest.

(Jacob Bernays, Ueber die Chronik des Sulpicius Severus, ein Beitrag zur Geschichte der classischen und biblischen Studien. Berlin 1861. In: Gesammelte Abhandlungen, ed. H. Usener, Berlin 1885 (Ndr. Hildesheim 1971), II 151-155)

Nun ist es klar, daß zwar der Leser des Philologen den authentischen Text erst im letzten Satz der Metapher zur Quelle gelangen läßt – und durchaus in der Tendenz der emphatischen Steigerung –, der Übersetzer aber den ganzen Kontext schon überblickt und sich zur Vorwegnahme des abschließenden Elements hatte verführen lassen. Diese Induktion beherrscht noch die folgenden Erläuterungen. Der Autor der »Chronik« mußte befürchten, daß die auf solche ›Mittel‹ wie seines angewiesene Art von Lesern, nachdem sie in den Besitz eines Compendiums gekommen, die bändereichen Quellen gar nicht erst zur Hand nehmen würden, also einer die Quellen verdrängenden Benutzung des Auszugs vorzubeugen sei, von dem er vielmehr wünscht, daß der Leser ihn nur neben den Quellen zur Wiederholung (recognoscere) gebrauche. Trotz der Rücksicht auf die knappe Zeit rechne Sulpicius mit dem Erfolg seiner Verweisung auf die ausführlicheren Quellen, obwohl an Beispielen leider darzutun sei, daß die Beziehungen zwischen dem Auszuge und der Quelle keineswegs innige sind. Man sieht leicht, daß in keinem dieser Belege noch etwas von der Metapher mitgehört, die vielmehr gröblich überhört wird, nicht einmal das im Urtext die Imagination weckende Stichwort unde derivata noch einmal aufgenommen ist, obwohl das ganz nahelag. Man geht kaum fehl in der Vermutung, daß der Theoretiker dieses Stücks Bildungsgeschichte, das ganz wesentlich aus Rhetorik besteht, selbst gerade deswegen nur in der Übersetzung die Metapher akzeptiert und sogar amplifiziert, sie aber in der Erörterung brüsk zurückweist – durch terminologisierte Unwörtlichkeit.

Die Metapher der Quelle ist auch zumeist Ausschluß von anderen Mustern, zumal analytischen und konstruktiven, sedimentativen und okklusiven. Es wird etwas zum Ausströmen freigelassen, was verdeckt und behindert, verschlossen und verstopft gewesen sein soll und nicht durch bloße Eigenkraft sich Bahn zu brechen vermochte durch Schichten von Gegenerfahrungen. Ob die Metapher schon damit ihre Affinität zu einer Sprache femininer Selbstdarstellung hat, mag dahingestellt sein; jedenfalls gibt es dafür Belege bei einer der ausgelassensten Schreiberinnen dieser Art von Gegenerfahrung, in den Tagebüchern von Anais Nin.

Sie hat die Metaphern von Quelle und Strom zum kritischen Prinzip ihrer Sensibilität gemacht: Ich sehe das Schreiben als etwas Natürliches, Spontanes an, wie einen Strom. Wenn ich nur ein Rinnsal sehe, Zögern, Schwierigkeiten, Vorausdenken, Vorbereitungen und viel Gerede, dann weiß ich, daß die Quelle schwach ist. (Juni 1946; IV 213) Die schmerzhafte Erfahrung der Psychoanalyse – in früheren Jahren des Tagebuchs angedeutet – hat zum Resultat, daß zwar die Öffnung der Tiefe bejaht, die analytische Bearbeitung des dabei freigesetzten Materials aber abgelehnt wird; es wird an dem Blick und den Techniken des Analytikers vorbeigeleitet und in seinem Rohzustand belassen, als Quellenzustand ästhetisiert: Musik, Tanz, Dichtung und Malerei sind Kanäle für Emotionen. Durch sie dringt die Erfahrung in unsere Adern ein. Ideen können das nicht. Darauf beruht die Vertrauenswürdigkeit der Erfahrungen, ihr Kontrast zu den Verfahrensweisen der modernen Literatur: keine Zerlegung, keine ›Technik‹, keine ›Form‹. Alles ist Zulassung des ›Ausbruchs‹. Nicht einmal der ›Fluß‹ des inneren Monologs findet Gnade, schon gar nicht Henry James, den der despotische Vater geliebt hatte.

Aber die Weihe der Quelle wird, aus der Kontraposition heraus, überzogen; und das ist metaphorologisch ergiebig. Die Metaphern der vulkanischen Eruption und die der neptunischen Quelle kommen sich bis zur Interferenz in die Quere. Nicht nur im Phänomen des ›Ausbruchs‹, der dort zur Erstarrung, hier zum Fließen führt – auch was die Gewaltsamkeit und Bedrohlichkeit der Kräfte dort und hier angeht. Doch muß die ›Quelle‹ die Sanktion der Herkunft aus der äußersten Tiefe, ja aus der ›Mitte‹ bekommen – und das kann neptunisch nicht aufgehen. Selbst heiße Quellen sind noch Vorgänge der Rinde und der Oberfläche, nicht der Tiefe: Um meine eigene Form zu entwickeln, muß ich zuerst sehr tief in diese natürliche Quelle des Erschaffens hinabsteigen. Und die Quellen des Erschaffens liegen wie die geologischen sehr tief im Mittelpunkt des Seins, wie sie im Mittelpunkt der Erde liegen. Nein, so weit kommt man mit der Metapher der Quelle nicht.

Narcissus erkennt sich nicht, wenn er sich in der Quelle erblickt. Er weiß von sich nichts, und er weiß nicht, wie er feststellen könnte, daß er sich selbst vor sich hat. Deshalb fallen bei ihm Selbsterkenntnis und Tödlichkeit ihres Gelingens zusammen. Philosophisch ist das eine Mythe von Folgen des Mangels der Selbsterkenntnis. Theologisch heißt das: Man muß an die Quelle gehen, um sich selbst zu erkennen. Es ist die Übersetzung des humanistischen Quellenpostulats ins Theologische.

Luther erwähnt den Narcissus nicht, wenn er in These XVII der »Disputatio de homine« von 1536 auf ihn anspielt – und das heißt gut mittelalterlich auch immer: den paganen Quellenknaben zum Typus nicht der Verfehlung, sondern des Glaubens macht. Denn der Mensch kann durch die philosophisch altempfohlene Selbsterkenntnis nichts über seine Seele erfahren; er darf nicht in sich hinein sehen, er muß über sich hinweg sehen. Denn es besteht keine Hoffnung, daß der Mensch in dieser überragenden Sache an sich selbst erkennen könnte, was er sei, wenn er nicht sich in seiner Quelle selbst, die Gott ist, in Augenschein nimmt. (WW WA 39/1, 175)

Das liest sich, als hätte nicht im ersten Buch der Bibel gestanden, Gott habe den Menschen nach seinem Bild geschaffen – das...

Erscheint lt. Verlag 20.5.2012
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Bibliothek Suhrkamp 1469 • BS 1469 • BS1469 • Ehrenpromotion an der Universität Gießen 1982 • Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg 1974 • Metapher • Philosophie • Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1980 • Wasser
ISBN-10 3-518-79580-5 / 3518795805
ISBN-13 978-3-518-79580-4 / 9783518795804
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