Papierküsse

Briefe eines jüdischen Vaters aus der Haft 1942/43

(Autor)

Dorothea Zwirner (Herausgeber)

Buch | Hardcover
144 Seiten
2012 | 1. Aufl. 2012
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-94699-4 (ISBN)
19,00 inkl. MwSt
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Ein Vermächtnis in Briefen, aus dem die väterliche Liebe in allen Schattierungen ihrer hilflosen Verantwortung spricht: Siebzig Jahre, nachdem Pali Meller die Briefe an seine 11- und 7-jährigen Kinder Paul und Barbara geschrieben hat, übergeben die Enkel diese bewegenden Zeugnisse der Öffentlichkeit.


»Bald habe ich Geburtstag und werde keinen Gutenmorgenkuss von Euch haben. Aber geschenkt wird nichts! Heb ihn mir gut auf - eines Tages komme ich und hole mir alle versäumten Küsse... Bis dahin bleibt es bei Papierküssen - und davon schickt Dir diesmal 365 Stück Dein Dich liebender Papa.«

»Ich bin weit weg und dahin, wo ich jetzt bin, führt kein Weg für kleine Kinder. Aber denke daran, wie es anderen Kindern geht: die meisten Väter sind im Krieg, sind oft schon Jahre weg, und können nicht mal so oft schreiben wie ich.«

Ein bewegendes Dokument der Menschlichkeit in Zeiten des Hasses
Bisher kaum erforscht: Juden in deutschen Haftanstalten in der NS-Zeit

Pali Meller , geb. 18.6.1902 in Sopron/Ödenburg (Ungarn), gestorben am 31.3.1943 im Zuchthaus Brandenburg-Görden, studierte Architektur in Wien, Stuttgart, Karlsruhe und Rom. Er arbeitete zunächst in Rotterdam als Assistent des Architekten J. J. P. Oud, dann im Büro von Otto Bartning in Berlin.

Meine Lieben!
Ihr habt jetzt lange nichts von mir gehört und wart sicher schon in Sorge. Aber dazu habt Ihr keinen Grund, denn es geht mir gut, und ich denke viel an Euch; auch träume ich oft von Spaziergängen und lustigen Sachen, die wir zusammen unternehmen, und so lässt sich die Trennung schon ganz schön überbrücken.

Ich habe von Barbaras großem Erfolg gehört, und Ihr könnt Euch denken, wie gerne ich dabei gewesen wäre. Aber ich kann ruhig behaupten, dass ich dabei war, so stark habe ich mir jede Bewegung vorgestellt. Wie im Film.

Nun Alte! Ich gratuliere Dir. Ich nehme an, dass Pila zu Ehren dieser Premiere ein Gedicht geschrieben hat, und es wäre schön, wenn Ihr mir dies schicken wolltet. Ich habe die Zeitungen so ziemlich verfolgt, aber ich fand keine Kritik über »Betas Solisten«. Wenn Ihr eine habt, so schickt sie mir ein. Auch von Rainers Doktorat habe ich gehört.1 Meine Glückwünsche für das Wunder! Er muss jetzt nur achtgeben, damit er nicht größenwahnsinnig wird. Ich freue mich jedenfalls mit ihm. Furchtbar finde ich Peters Tod!2 Furchtbar auch das Schicksal der Frau, die Frau noch war. Viele trifft jetzt dies Los, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Wie schnell sagt man im Leben auf Geschehnisse, die selbstverschuldet oder schicksalhaft sind (darf man diese Trennung überhaupt machen?), dass sie »furchtbar« sind! Furchtbar ist nur der Tod wegen seiner Endgültigkeit, Unwiderruflichkeit! Alles was vergänglich ist (im Sinne der Zeit), ist tragbar. Ob schwer, ob leicht hängt von der Stärke der Seele ab! Es gibt sicher Menschen, die nicht zu brechen sind.

Es kann sein, dass ich noch lange von Euch fortbleibe. Aber ich werde Euch schreiben, und ich werde auch von Euch hören. Ihr 3 müsst aber wie Pech und Schwefel zusammenhalten, und ihr müsst Franzi blind gehorchen. Auf ihr ruht jetzt alles, sie ist jetzt der Kapitän.

Wenn Ihr Poelzigs3 schreibt oder Ella4, so grüßt herzlich von mir und überbringt mein Beileid an Prof. Bartning. Euch 3 umarmt in großer Liebe Papa Meine Lieben! Wie habe ich mich mit Eurem Brief gefreut! Franzi wollte wohl Tinte sparen und schrieb nicht, dafür war aber Barras Tintenbrief die große Sensation. Für Deinen Brief, Pila, muss ich extra danken! Auch will ich auf ihn näher eingehen, auch auf Deine Gedichte. So ein tagebuchartiger Brief ist für mich die einzige Form, in der ich etwas mitzuerleben fähig bin, und Du weißt, dass ich nur Geschichten liebte, die so begannen: »also, wir sind aufgestanden ... etc.«

Diese Form beherrschst Du meisterhaft, und ich hoffe, dass ich recht bald den zweiten Teil bekomme. Auch über Barras Auftreten, da ich keinen Bericht bis jetzt darüber habe. Im Brief wie im Gedicht klingt eine gewisse Wehmut, die zu beherrschen Dir nicht ganz gelingt. Ich weiß, Du hast es nie leicht gehabt und empfindest die jetzige Trennung von mir schmerzlich. Dazu ist kein Grund, denn geistig sind wir bei einander, und ein anderes Beieinandersein gibt es nicht, wenn man den Dingen auf den letzten Grund geht. Also Kopf hoch, was auch geschieht, es lebe das Familienlied. So bin ich selbst zum Reimen gekommen, was mich gut zu Deinen Gedichten überleitet: Also! Dein Gedicht ist sehr schön, die Stimmung echt, ja sogar so echt, dass ein Freund von mir (über den ich noch schreiben werde) beim Lesen des Gedichtes sagte: »Eine Stimmung wie in Zingst«. Nur spielst Du etwas viel mit Worten, treibst Wortakrobatik, hast zu viele Farben auf der Palette, bist zu reich und verlierst viel an Klarheit. Das Gedicht II (Alltag) gut im Schwung, inhaltlich etwas müde und enttäuscht für Deine 11 Jahre, geht so weit, Worte zu erfinden!! Was ist »Grunden«?? Es reimt sich zwar auf verschwunden, aber das ist auch alles. Das Wort am Ende des Gedichts gibt ihm Inhalt! Wenn ein Satz l00 Worte hat, davon sind 99 sinnvoll und das

Erscheint lt. Verlag 20.2.2012
Zusatzinfo mit 28 Abbildungen und zwei Karten
Sprache deutsch
Maße 127 x 201 mm
Gewicht 248 g
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Literatur Briefe / Tagebücher
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Brandenburg-Görden (Zuchthaus) • Brief • Judenverfolgung • Judenverfolgung (Nationalsozialismus); Briefe • Kinder • Konzentrationslager • Konzentrationslager; Briefe • Vater • Weltkrieg II/Deutschland • Zeitzeugen
ISBN-10 3-608-94699-3 / 3608946993
ISBN-13 978-3-608-94699-4 / 9783608946994
Zustand Neuware
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