Weit entfernt von dem Ort, an dem ich sein müsste (eBook)
384 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01231-8 (ISBN)
Bahman Nirumand, geboren 1936 in Teheran, studierte in Deutschland und promovierte über Brecht. In die Heimat zurückgekehrt, musste er 1965 vor dem Schah-Regime fliehen, Ende der 70er Jahre ein zweites Mal vor der Diktatur der Mullahs. Er hat eine wichtige Rolle beim Aufbau der demokratischen Opposition erst gegen den Schah und dann gegen Chomaini gespielt. Nirumand lebt als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer in Berlin.
Bahman Nirumand, geboren 1936 in Teheran, studierte in Deutschland und promovierte über Brecht. In die Heimat zurückgekehrt, musste er 1965 vor dem Schah-Regime fliehen, Ende der 70er Jahre ein zweites Mal vor der Diktatur der Mullahs. Er hat eine wichtige Rolle beim Aufbau der demokratischen Opposition erst gegen den Schah und dann gegen Chomaini gespielt. Nirumand lebt als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer in Berlin.
Kinderzeiten – und der Mahlstrom der Politik
Die persische Despotie – Eine Quasi-Kolonie – Der Diktator zu Hause – Ein Nichts, das man wegpusten kann – Todesurteil für den Vater – Die junge Mutter: Verheiratet mit 13 – Unbeschwerte Kindheit – Mohammad Mossadegh: Irans vergebliche Hoffnung – Eine erste politische Aktion
Als ich das Land verließ, befand sich Iran in einer der turbulentesten Phasen seiner Geschichte. Eine Bewegung unter der Führung von Mohammad Mossadegh hatte sich die Nationalisierung der Ölindustrie zum Ziel gesetzt, doch im Grunde ging es um weit mehr als dies. Es ging um die Befreiung von der britischen Vorherrschaft und den Aufbau einer unabhängigen demokratischen Gesellschaft. Denn der Iran meiner Kindheit war eine Despotie und der so mächtige Schah ein König von Großbritanniens Gnaden.
Was Mossadegh und seine Anhänger anstrebten, hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der konstitutionellen Revolution seinen Anfang genommen. Jener erste Versuch, mit der asiatischen Despotie und ihren feudalistischen Machtstrukturen zu brechen und den Sprung vom Dunkel des Mittelalters in die aufgeklärte, moderne, industrialisierte Welt zu vollziehen, war jedoch gescheitert. Denn der gesellschaftliche Träger der Volkserhebung, die iranische Mittelschicht, war noch zu schwach und deren Gegner, die konservative Geistlichkeit und der Hof mitsamt der ihm hörigen Grundbesitzer, zu stark gewesen. Hinzu kam die Abhängigkeit vom Ausland, namentlich von Großbritannien und Russland. Beide Mächte wetteiferten schon seit der Jahrhundertwende um Einfluss, indem sie die schwachen und infantilen iranischen Monarchen jener Zeit mit Staatsanleihen und Krediten versorgten, damit diese in ihren Palästen hinter hohen Mauern ein reiches, sorgenloses Leben führen konnten. So waren das Land und seine nationalen Rechte Stück für Stück verschachert worden. Bereits im 19. Jahrhundert hatte Iran auf seine kaukasischen Provinzen (Georgien, Armenien und andere) zugunsten Russlands verzichtet, ebenso wie auf seine Rechte auf das Kaspische Meer. (Der Kommentar des Königs zu diesem Vertrag: «Wir sind ja keine Enten, dass wir das Wasser des Kaspischen Meeres nötig hätten!»)
Als nicht minder folgenreich erwiesen sich die Konzessionen, die den Briten gemacht worden waren. 1903 hatte der englische Unternehmer William Knox D’Arcy mit dem damaligen Schah einen Vertrag geschlossen und sich für 60 Jahre das ausschließliche Recht gesichert, auf dem gesamten iranischen Territorium, mit Ausnahme der unter russischem Einfluss stehenden fünf nördlichen Provinzen, nach Erdöl zu suchen, Fundstellen auszubauen und das Öl zu exportieren. Dafür sollte Iran 16 Prozent der jährlichen Profite erhalten. Zusätzlich hatte der Schah einen einmaligen Barbetrag von 20 000 Pfund auf die Hand bekommen. Damit war der Grundstein zur Wandlung Irans in eine Quasi-Kolonie gelegt. Die beiden Mächte, Russland und Großbritannien, hatten das Land schließlich 1907, im Vertrag von Petersburg, sogar förmlich unter sich aufgeteilt und damit ihrer Rivalität vorläufig ein Ende gesetzt. Von da an gab es ein russisches Interessengebiet im Norden, ein britisches im Süden und dazwischen eine Art neutrale Pufferzone, in der sich die Könige als Herrscher gerieren durften.
Doch das Volk, das sich in seiner zweieinhalbtausendjährigen Geschichte immer wieder gegen Fremdherrschaft zur Wehr gesetzt hatte, leistete auch jetzt Widerstand. In allen Teilen des Landes kam es zu Unruhen. Vor allem jene Kräfte, die schon bei der Revolution von 1906 aktiv gewesen waren und die Idee von Freiheit und Demokratie nicht aufgeben wollten, begannen sich neu zu organisieren. Das Land drohte ins Chaos zu sinken. Die Außenmächte sahen ihre Interessen gefährdet. Da aber in Russland inzwischen die Revolution ausgebrochen war, hatten die Russen Wichtigeres zu tun, als sich um Iran zu kümmern. So schlug die Stunde der Briten. Sie befestigten ihre Position und bereiteten, um die Lage zu stabilisieren, einem Diktator den Weg an die Macht.
Das Los fiel auf Reza Khan Savad Kouhi. Reza Khan, dessen Vater kurz nach seiner Geburt gestorben war, war schon mit vierzehn Jahren in eine unter russischem Kommando stehende iranische Kosakenbrigade eingetreten. Dort hatte er aufgrund seines niedrigen Alters zunächst als Aushilfe in der Kantine arbeiten müssen, doch sein Ehrgeiz und sein organisatorisches Talent ließen ihn rasch Karriere machen. Binnen weniger Jahre erklomm er die Stufen der militärischen Hierarchie, bis er als Oberkommandierender der Brigaden die Spitze erreichte. Und woanders ging es noch höher hinaus: 1921 wurde er Kriegsminister, zwei Jahre später Premierminister, und 1925 schließlich, nachdem er den Sturz des letzten Königs der Kadscharen erfolgreich betrieben hatte, setzte er sich selbst die Krone aufs Haupt.
Zu dieser Zeit befand sich Iran im Übergang von einem absolutistischen Feudalsystem zu einem modernen Nationalstaat. Es gab kein allgemeines Rechtswesen, kein Gesundheitswesen, kein Finanzwesen, keine Hochschulen. Die Infrastruktur war miserabel, Straßen hatten offiziell keine Namen, die Häuser keine Nummern, die Menschen waren nicht gemeldet. Das Land wurde von lokalen Herrschern regiert, die in loser Verbindung zum Hof standen.
Ähnlich wie Mustafa Kemal Atatürk, der zwei Jahre zuvor in der Türkei die Macht übernommen hatte, leitete Reza Khan, der inzwischen den Nachnamen Pahlawi trug, die Modernisierung des Landes ein. Das Wort «Palawi» bezeichnet die mittelpersische Sprache und sollte ihm die Aura altpersischer Dynastien verleihen. Mit Hilfe eines zügig aufgebauten Polizeistaates gelang es ihm, die gesamte Macht in seiner Hand zu konzentrieren. Ein Nationalismus, verbunden mit einem verbissenen Streben nach Fortschritt um jeden Preis, verleiteten den innerhalb weniger Jahre vom einfachen Rekruten zum König aufgestiegenen Analphabeten zum Aufbau einer gut organisierten Gewaltherrschaft, wie sie bis dahin in der iranischen Geschichte unbekannt gewesen war.
Gewalt und Fortschritt gingen Hand in Hand. Reza Schah ließ Straßen, Bahnhöfe und Flughäfen bauen, und es gelang ihm tatsächlich, dem allgemeinen Chaos und der Unsicherheit ein Ende zu setzen. Er ordnete das Führen eines Nachnamens an und machte den Personalausweis zur Pflicht, er ließ ein neues Gesetzbuch nach französischem Vorbild schreiben, führte die allgemeine Schulpflicht ein, gründete die erste Universität des Landes und organisierte den Verwaltungsapparat neu, vor allem die Armee, die Polizei und den Geheimdienst. Jeder, der sich seinem Diktat widersetzte, wurde ins Gefängnis geworfen oder gleich getötet.
Die Modernisierung schloss für den Schah, ähnlich wie für Atatürk in der Türkei, auch einen Feldzug gegen die Religion, gegen die islamischen Riten und Bräuche ein. So verbot er den Frauen, Schleier zu tragen, und nahm den Männern ihre Nationaltracht. Auch die Geistlichen mussten sich fürchten, mit Turban und Umhang in der Öffentlichkeit aufzutreten. Er reduzierte die religiösen Feiertage und übertrug viele juristische und administrative Aufgaben, die bis dahin von Klerikern wahrgenommen worden waren, auf den Staat.
Der damalige Justizminister Sadrolaschraf, der selbst ein Geistlicher war und die Kleidung der Mullahs trug, beschrieb in seinen Memoiren, wie Reza Schah die europäische Kleiderordnung durchsetzte. «Nach der Rückkehr von einer Reise in die Türkei äußerte sich der Schah sehr lobend über die Fortschritte, die dieses Land bei der Abschaffung islamischer Kleidung erzielt hatte. Eines Tages im Monat Mai 1935 berief er das Kabinett ein und sagte bei der Sitzung: ‹Wir müssen sowohl in unserem Aussehen als auch in unseren Sitten und Gebräuchen westlich werden. Der erste Schritt dazu ist die Abschaffung der Nationaltracht und das Tragen von europäischen Hüten. Bei der morgigen Sitzung des Parlaments werden Sie alle europäische Anzüge und Hüte tragen. Wenn Sie den Raum betreten, müssen Sie, wie die Europäer es zu tun pflegen, Ihre Hüte abnehmen. Wir müssen natürlich auch bald damit beginnen, den Frauen den Schleier zu verbieten. Das wird für die Bevölkerung schwer sein. Daher müssen wir selbst den Anfang machen. Zu diesem Zweck werden wir einmal in der Woche ein Fest veranstalten, bei dem Sie und Ihre Staatssekretäre gemeinsam mit Ihren Frauen in europäischer Kleidung erscheinen werden.› Dem Kultusminister erteilte er den Befehl, an sämtlichen Mädchenschulen allen Lehrerinnen und Schülerinnen, die Schleier tragen, den Eintritt zu verwehren. Wer sich dem widersetze, solle sofort entlassen werden. An allen Ministerien und staatlichen Ämtern sollen nur Frauen angestellt werden, die bereit seien, europäische Kleidung zu tragen.»
Es dauerte nicht lange, da riss man den Frauen auf den Straßen die Schleier vom Kopf. Viele Frauen fühlten sich ohne Schleier wie nackt und zogen es daher vor, ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen. In der späteren Verordnung, die das Tragen europäischer Kleidung für jeden Mann und jede Frau zur Pflicht machte, wurde nur noch den Großayatollahs ein Zugeständnis gemacht. Sie durften ihr geistliches Gewand auch weiterhin tragen. Doch die Polizisten auf den Straßen richteten sich selten danach. Unter dem Gelächter von Passanten wurde den Mullahs der Turban vom Kopf gerissen und der Bart abrasiert. Diese ungeheure Erniedrigung erzeugte bei der iranischen Geistlichkeit und frommen Gläubigen tiefe Hass- und Rachegefühle – die sich ein...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2011 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Auslandsopposition • Deutschland • Iran • Kulturschock • Revolution • Rudi Dutschke • Schah • Studentenbewegung • Ulrike Meinhof • Widerstand |
ISBN-10 | 3-644-01231-8 / 3644012318 |
ISBN-13 | 978-3-644-01231-8 / 9783644012318 |
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