»Die Kälte darf nicht siegen!« (eBook)

Was Menschlichkeit gegen Gewalt bewirken kann

(Autor)

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2010 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-550-92014-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Die Kälte darf nicht siegen!« -  Gisela Mayer
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Der 11. März 2009 war der schwärzeste Tag im Leben von Gisela Mayer: Es war der Tag, an dem ihre Tochter von einem jugendlichen Amokläufer in den Tod gerissen wurde. Wie konnte es zu diesem entsetzlichen Verbrechen kommen? Was läuft in unserer Gesellschaft schief? Gisela Mayer ist engagierte Mutter und Ethiklehrerin. Seit langem schon kämpft sie gegen die Gleichgültigkeit und Kälte, die sich in unserer Gesellschaft immer stärker verbreiten. Sie fragt, warum viele Kinder und Jugendliche keinen Respekt mehr vor anderen Menschen haben; sie lehnt Killerspiele und Gewaltvideos ab, weil sie uns immer mehr abstumpfen lassen; und sie zeigt, was sich ändern muss, damit es kein zweites Winnenden mehr geben kann. Ein mutiges Buch, das durch seine Klarheit und Haltung überzeugt.

Gisela Mayer, Jahrgang 1957, unterrichtet Ethik an verschiedenen Schulen. Gemeinsam mit anderen Opfer-Angehörigen gründete sie das ?Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden?, deren Sprecherin sie ist. Gisela Mayer lebt in Weissach im Tal, in der Nähe von Stuttgart.

Gisela Mayer, Jahrgang 1957, unterrichtet Ethik an verschiedenen Schulen. Gemeinsam mit anderen Opfer-Angehörigen gründete sie das ?Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden?, deren Sprecherin sie ist. Gisela Mayer lebt in Weissach im Tal, in der Nähe von Stuttgart.

Trauer kann man nicht sehen, nicht hören, kann sie nur fühlen. Sie ist ein Nebel ohne Umrisse. Man möchte diesen Nebel packen und fortschieben, aber die Hand fasst ins Leere.

PETER KAMPKA

Prolog


Der schwärzeste Tag meines Lebens begann strahlend schön. Ein Tag wie gemalt, leuchtend blauer Himmel, wolkenloser Sonnenschein. Als ich in die langgezogene Linkskurve unserer schmalen Anliegerstraße einbog und unser Haus vor mir sah, am Berghang über grünen Wiesen und neben einem kleinen Wäldchen, konnte ich die Schönheit dieses Tages fast körperlich spüren. Und doch erfasste mich in diesem Augenblick aus dem Nichts heraus ein Gefühl von Angst und Bedrohung. Wie eine dunkle Wolke zog es von der Dorfseite her über den Brühlweg und legte sich bleiern über mich. Ich hatte keine Ahnung, warum, aber ich hatte plötzlich die Gewissheit, dass von irgendwoher etwas Böses auf uns zukam. Der Gedanke war einfach da und ließ mich nicht mehr los. Dabei war alles so wie immer. Ich kam gerade von einem Arzttermin nach Hause, dann wollte ich noch einmal los, um einige Einkäufe für das Mittagessen zu erledigen. Alles war gut in unserem Leben, wir waren glücklich. Wir, das war unsere Familie. Mein Mann, unsere beiden Töchter Nina und ihre jüngere Schwester Ibi, unser Hund Pico, Samurai, der Kater, und Shiwa, die kleine Katze. Ein ganz normales, ein zutiefst zufriedenes Leben. Und trotzdem war da plötzlich diese Gewissheit, dass sich daran etwas ändern würde. Heute weiß ich, dass meine Vorahnung weit hinter dem zurückblieb, was wirklich an jenem Mittwochvormittag geschehen sollte. Wie böse, wie unaussprechlich, wie entsetzlich das sein würde, was unser Leben in Trümmer schlagen sollte.

»Die Albertville-Realschule, das ist doch Ninas Schule, oder?« Martin, Ninas Freund, riss mich aus meinen Gedanken. Er hatte mich vor dem Lebensmittelgeschäft angesprochen, bei dem ich inzwischen angekommen war.

»Ja, warum?«

»Hast du nichts gehört? Da soll es einen Amoklauf gegeben haben, der Täter ist auf der Flucht!«

Ich hatte nichts gehört, gar nichts. Ein Amoklauf – das war so weit weg, eine beinahe surreale Vorstellung, die sich nicht mit diesem herrlichen Tag verbinden ließ. Mein erster Gedanke war: Na ja, da wird wohl ein Schüler schreiend und tobend durchs Schulhaus gerannt sein und alles zertrümmert haben, was ihm in den Weg kam. Schaukästen, Stühle, Fenster. Niemals hätte ich an Mord gedacht. Mord, das war eine andere Welt, das war nicht unsere.

Ich war nicht wirklich beunruhigt, aber ich wollte sichergehen, dass es meiner Tochter gutging. Nan, so nannte ich meine geliebte Nina, war Referendarin an der Albertville-Realschule in Winnenden und unterrichtete dort Religion, Deutsch und Kunst. Wir hatten vereinbart, uns während der Unterrichtszeit nicht zu stören, nur in dringenden Fällen. War dies so ein Fall? Während ich noch nach meinem Handy suchte, klangen Martins Worte dumpf in meinen Ohren. Der Amokläufer habe geschossen, es gebe vermutlich Verletzte. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und tippte eine kurze SMS: »Alles o. k.?« Mehr nicht. Nan hatte nicht ein einziges Mal nicht auf eine SMS von mir geantwortet. Nicht in all den Jahren. Diesmal kam keine Antwort.

Ich redete mir ein, vielleicht hat sie es nicht gehört, vielleicht hat sie ihre Tasche im Lehrerzimmer gelassen, vielleicht hat sie ihr Handy zu Hause vergessen, vielleicht … Ich schrieb eine zweite SMS: »Kannst du dich kurz melden? Sag mir nur, ob alles o. k. ist.« Mein Handy blieb stumm.

Jetzt wurde ich wirklich unruhig, ich wollte wissen, was los war. Ich fuhr nach Hause, viel schneller als erlaubt, und griff zum Telefon. Mein Mann erzählte mir, er habe gerade im Rundfunk eine Meldung über den Amoklauf gehört, Genaueres wisse er aber auch nicht. Ich versuchte, unseren Nachbarn zu erreichen, einen Polizisten. Das Telefon klingelte ins Leere. Ich rief alle mir bekannten Dienststellen im Umkreis an, niemand konnte oder wollte mir eine Auskunft geben. Erst vom Regierungspräsidium bekam ich die erlösende Nachricht: Es habe tatsächlich eine Schießerei gegeben, es seien Schüler verletzt, aber keine Lehrer.

Ich war entsetzt – und erleichtert. Nan war nichts passiert! Mit dieser Gewissheit beruhigte ich auch meinen Mann, sagte ihm, er könne ruhig in der Arbeit bleiben, ich führe jetzt nach Winnenden und würde mich später wieder melden. Dann brach ich auf zur 15 Kilometer entfernten Albertville-Realschule.

Auf dem Weg – es war inzwischen Mittag geworden – holte ich Ibi von der Schule ab. Sie war, wie alle Schüler der umliegenden Schulen, über den Amoklauf informiert worden und wusste auch, dass es sich um die Schule ihrer Schwester handelte. »Nichts wie hin, wir müssen Nan helfen«, meinte sie, während wir im Radio den spärlichen Informationen lauschten. Ich hatte keine Ahnung, ob und wie wir überhaupt in die abgeriegelte Stadt hineinkommen und zur Schule vordringen konnten. Schon auf dem Weg nach Winnenden herrschte Chaos. Wir standen im Stau, wurden umgeleitet und mussten uns an zahllosen Polizeisperren erklären. Nach einer Ewigkeit wurden wir endlich zu einer Halle vorgelassen, die der Schule genau gegenüberlag. Hier war das Informationszentrum eingerichtet worden, der Mittelpunkt des Chaos. Die Schule war umstellt von Fahrzeugen aller Art, keineswegs nur Polizei und Rotes Kreuz waren vor Ort. Zahllose Kleinbusse mit den Logos aller bekannten Fernseh- und Rundfunkanstalten belagerten die Parkplätze. Nahezu jeder der wild durcheinanderlaufenden Menschen hatte entweder ein Mikrofon in der Hand oder eines vor dem Mund. Alle redeten, alle hatten offenbar etwas zu sagen oder zu erklären.

Als wir die Halle betraten, bot sich uns dasselbe Bild, nur ohne Mikrofone und Autos. Hier waren die Hilfskräfte versammelt. Sanitäter, Helfer, Seelsorger, Tee- und Kaffeekocher – und Auskunftspersonen vom Roten Kreuz. An einen dieser Herren wandten wir uns: »Wo kann ich meine Tochter Nina Mayer finden? Sie ist Lehrerin an der Schule.«

Den Moment, der nun folgte, werde ich niemals vergessen. Ich hatte nicht gefragt, wie es meiner Tochter gehe oder ob sie unverletzt sei. Ich hatte ja schließlich die beruhigende Auskunft des Regierungspräsidiums. Ich hatte einzig und allein wissen wollen, wo sie zu finden sei. Doch der freundliche Herr meinte nur: »Einen Augenblick, ich muss erst nachsehen«, dann verschwand er in den hinteren Teil der Halle. Nach etwa zehn Minuten kehrte er in Begleitung eines zweiten Herrn zurück. Besorgte Mienen. Man teilte uns mit, es »sehe wohl schlecht aus, aber man wisse es nicht genau, man müsse alles noch einmal überprüfen«. Wir sollten ein wenig Geduld haben.

Geduld hatten wir – und plötzlich Angst. Was sollte das alles bedeuten? Warum konnten wir nicht zu ihr, es war doch nichts passiert!

Die Zeit verging, oder besser, sie verging nicht. Unendlich lang dehnten sich die Sekunden und Minuten. In Wirklichkeit warteten wir wohl etwa eine halbe Stunde. Ibi sprach den Gedanken aus, der langsam in mir hochkroch. »Da stimmt was nicht. Nan ist etwas passiert.« Je länger es dauerte, umso sicherer wurden wir. Sie musste verletzt sein. An Tod dachten wir nicht. Zu lebendig war Nan, zu nah war sie uns. Erst vor ein paar Stunden, am gestrigen Abend, hatten wir uns verabschiedet mit einer Umarmung, einem Kuss, wie immer. Wir hatten gemeinsam Ibis Geburtstag gefeiert, genau eine Woche vor Nans eigenem, ihrem 25. Nan hatte vorgeschlagen, dass wir uns am 17. März abends zum Anstoßen treffen könnten, die richtige Feier würden wir nachholen. Sie steckte mitten in den Prüfungen, musste noch jede Menge vorbereiten, aber Ostern, das war unser großes Ziel, da würden wir alles nachholen und richtig feiern. Gemütlich unser Osterfrühstück genießen, Eier suchen, so wie es bei uns Tradition ist, immer schon. Wie hätte ich ahnen sollen, dass Nan ihren 25. Geburtstag niemals erleben würde? Wie hätte ich ahnen sollen, dass dies der Tag ihrer Beerdigung sein würde, und dass ich ihr die Blumen, die sie immer bekam, nicht in die Hand geben, sondern auf ihren Sarg streuen würde?

Und doch – etwas war anders gewesen an diesem Abend, beim Abschied. Nan war sehr erschöpft und sagte: »Ich mag eigentlich morgen nicht in die Schule, ich bin so müde, ich will endlich mal ausschlafen.« Ibi, das Pflichtbewusstsein in Person, bestärkte sie in diesem Gedanken. Niemals zuvor hatte sie das getan. »Dann bleib doch daheim. Einmal blaumachen, das kannst du dir doch leisten. Du kannst ja nach der Prüfung wieder pünktlich und regelmäßig gehen. Die werden dir das schon verzeihen.« Sie wiederholte diesen Vorschlag sogar noch einmal, eindringlicher. Bis heute weiß sie selbst nicht, weshalb sie das getan hat, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit. Und bis heute macht sie sich Vorwürfe, dass sie sich nicht durchgesetzt hat. Auch wenn wir alle wussten, dass Nan ihren Beruf viel zu ernst nahm und in keinem Fall zu Hause geblieben wäre – es bleibt das Gefühl, dass wir sie hätten halten müssen.

Als der...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2010
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Familie / Erziehung
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amoklauf • Attentat • Bowling for Colombine • Sachbuch • Schulmassaker • Winnenden
ISBN-10 3-550-92014-8 / 3550920148
ISBN-13 978-3-550-92014-1 / 9783550920141
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