Sommer 39 (eBook)

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2010 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10391-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sommer 39 -  Werner Biermann
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Es war ein besonders warmer Sommer in jenem Jahr, die Menschen in ganz Europa wollten für eine Weile die Sorgen des Alltags und die Querelen der großen Politik vergessen. Doch in Wahrheit war es der Tanz auf dem Vulkan: Genau wie 1914 sollte wenige Wochen später ein Krieg von bislang unbekannter Wucht und Grausamkeit ausbrechen. Werner Biermann beschreibt auf atemberaubende Weise diese ebenso dramatische wie folgenreiche Phase der europäischen Geschichte: den Sommer 1939. Dabei erzählt er nicht nur von den Großereignissen, etwa vom Einmarsch deutscher Truppen in Prag oder dem Hitler-Stalin-Pakt. Er entwirft auch ein lebendiges Panorama dieser Monate - als der junge John F. Kennedy nach Europa reist, um für seine Doktorarbeit zu recherchieren; als der Pilot Fritz Wendel mit 755,1 km/h einen neuen Tempoweltrekord aufstellt; als Lale Andersen den Schlager «Lili Marleen» aufnimmt und auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache fünftausend Bilder «entarteter Kunst» verbrannt werden. Biermann verwebt auf kunstvolle Weise große Politik und persönliche Schicksale - eine glänzend geschriebene historische Reportage und das faszinierende Bild einer kurzen Epoche, die in der Katastrophe endete.

Werner Biermann (1945-2016) war Autor und Filmemacher und realisierte etwa fünfzig lange Dokumentarfilme, darunter «Am Abgrund. Anatomie der Kubakrise» (2002) und «Der Erste Weltkrieg - Alptraum Verdun» (2004). Für seine Arbeiten wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. «Strauß. Aufstieg und Fall einer Familie» (2006, Neuausgabe 2015) und «Der Traum meines ganzen Lebens. Humboldts amerikanische Reise» (2008).

Werner Biermann (1945–2016) war Autor und Filmemacher und realisierte etwa fünfzig lange Dokumentarfilme, darunter «Am Abgrund. Anatomie der Kubakrise» (2002) und «Der Erste Weltkrieg – Alptraum Verdun» (2004). Für seine Arbeiten wurde er mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, u.a. «Strauß. Aufstieg und Fall einer Familie» (2006, Neuausgabe 2015) und «Der Traum meines ganzen Lebens. Humboldts amerikanische Reise» (2008).

Freitag, 10. März 1939

Niemand ist eine Insel


No man is an island, entire of itself;

every man is a piece of the continent,

a part of the main 

(JOHN DONNE)

 

In Moskau, das von tagelangem Schneetreiben heimgesucht wird, eröffnet der Generalsekretär der Kommunistischen Partei den XVIII. Parteitag. Josef W. Stalin erklärt, seit einiger Zeit habe ein Krieg um die Neuaufteilung der Welt begonnen. Die Aggressorstaaten seien Japan, Italien und das Deutsche Reich, ihre Gegner die USA, Frankreich und Großbritannien. Diese Staaten wichen allerdings vor der Bedrohung zurück. Sie versuchten, durch die Opferung Chinas, Spaniens, Äthiopiens, Österreichs und des Sudetenlandes die Aggressoren zu besänftigen. Das, so Stalin, «wird zu einem ernsthaften Fiasko führen».

 

Viel weiter im Osten, in Sibirien, arbeitet der Sträfling Fjodor Danilowitsch Toroptschenko mit seiner Holzfäller-Kolonne wie jeden Tag im Wald. Die Männer des Agul-Lagers ziehen die am Vortag geschlagenen und entlaubten Stämme durch den tiefen Schnee. Sie stöhnen dabei, und beim Ausatmen entsteht jedes Mal eine kleine frostige Fahne vor dem Mund. Jenseits des Agul geht schon die blasse Sonne unter, während in New York der Tag noch nicht einmal begonnen hat. Der Agul ist ein Nebenfluss des Kungus, der weiter nördlich in den Kan fließt; es sind Namen, die in New York oder Europa keiner kennt. In Moskau flüstert man sie mit ängstlichem Unterton. Fjodor wird übrigens einer der ganz wenigen Menschen sein, für die sich durch den Krieg nichts ändern wird, gar nichts. Er wird bis 1947 im GULAG inhaftiert sein und Zwangsarbeit leisten.

In Warschau geht der Pianist Władysław Szpilman mit hochgeschlagenem Kragen die Marszalkowska-Straße entlang. Er trägt dicke Fausthandschuhe, um seine Finger nicht zu kalt werden zu lassen; in einer halben Stunde wird er im Studio des Warschauer Senders am Flügel sitzen und Chopin spielen. Der junge Pianist komponiert aber auch selbst, nicht nur anspruchsvolle symphonische Musik, sondern ebenso Stücke der ganz leichten Muse. In Polen kennen alle jungen Leute seine Schlager, die von der Sehnsucht und der Liebe handeln, von der Sehnsucht nach der Liebe. In weniger als sechs Monaten, am 1. September 1939, wird ein deutsches Artilleriegeschoss in den polnischen Sender einschlagen und das Chopin-Spiel von Władysław Szpilman jäh unterbrechen.

 

Auch in Mitteleuropa ist es seit dem Morgen plötzlich wieder sehr kalt geworden; mit Schnee und Eis ist der Winter zurückgekommen. In Prag sitzt Max Brod, Redakteur des «Prager Tagblatts», an seinem Schreibtisch in der Redaktion und schaut die neuesten Manuskripte durch. Es sind überwiegend Artikel von deutschsprachigen Autoren, die aus dem Reich oder der Ostmark, wie das annektierte Österreich jetzt heißt, emigriert sind und sich in Prag durchzuschlagen versuchen. Das «Prager Tagblatt» ist eines der letzten deutschsprachigen Blätter auf der Welt, in denen man noch freie Informationen und Meinungen lesen kann. Brod hilft vielen Schriftstellern zu überleben; er nimmt zumeist viel mehr Artikel an, als er veröffentlichen kann, und er bezahlt dann auch die nicht publizierten. Den ganzen Tag sind Leute in die Redaktion gekommen, alle diskutieren heftig, es gibt Truppenbewegungen, die Stadt ist in Aufregung. Max Brod spürt die Tragweite der Ereignisse. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass er schon in fünf Tagen sein Prager Leben gänzlich aufgeben muss, dass er alles zurücklassen und nach Palästina flüchten wird 

 

Prag ist tatsächlich in Aufruhr. An diesem Morgen hat der Staatspräsident der Tschechoslowakei, Emil Hácha, den eigenartigen Befehl gegeben, Pressburg und einige andere slowakische Städte militärisch zu besetzen – durch tschechische Truppen. Den Ministerpräsidenten des slowakischen Teilstaates der Č.S.R., Jozef Tiso, erklärt Hácha für abgesetzt. Der Staatspräsident will auf diese Weise die drohende Ablösung der Slowakei verhindern.

 

Um die Mittagszeit an diesem Tag bittet Adolf Hitler in der Neuen Reichskanzlei an der Voßstraße in Berlin seine Sekretärin, Minister Joseph Goebbels anzurufen; er soll schleunigst zu einer Besprechung kommen. Die Sekretärin hat den Eindruck, der Führer sei plötzlich ungeheuer aufgeregt und tatendurstig. Der tschechischslowakische Krach ist für Hitler offenbar außerordentlich inspirierend.

 

Im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin wird in diesen Augenblicken die Mittagssuppe ausgeteilt; die Häftlinge haben sich in langen Schlangen vor den Kesseln aufgestellt. Der neunzehnjährige Bernhard Wicki wartet geduldig in der Reihe. Er denkt an die aufregende Zeit vor seiner Verhaftung und sieht wieder seinen Lehrer, den Schauspieler Gustaf Gründgens, vor sich, wie er den Schülern eine bestimmte Bewegung demonstriert. Unwillkürlich ahmt Bernhard Wicki die Geste nach.

 

Im Vatikan laufen die letzten Vorbereitungen für eines der größten Feste der katholischen Kirche, die Amtseinführung eines neuen Papstes, am kommenden Sonntag, übermorgen. Vor einer Woche wurde Eugenio Pacelli zum neuen Papst gewählt; als Pius XII. wird er das Oberhaupt der Katholiken in aller Welt. Unter den Tausenden von Gästen und Zehntausenden Pilgern ist auch, als Vertreter des US-Präsidenten Roosevelt, der Katholik Joseph P. Kennedy, er ist amerikanischer Botschafter in London. Kennedy ist mit einigen seiner Kinder hier, darunter dem einundzwanzigjährigen John Fitzgerald, den sie Jack nennen, dessen Schwester Eunice und dem jüngsten Kennedy-Sohn, Edward (Teddy). Teddy wird morgen in einer privaten Messe aus der Hand des Papstes seine erste Kommunion empfangen, und an Joseph, Jack und Eunice wird der Heilige Vater das Sakrament austeilen. Für Joe Kennedy, den Multimillionär aus Boston, ist es einer der Höhepunkte in seinem lebenslangen Kampf um die endgültige gesellschaftliche Anerkennung.

 

In Siegburg sitzt ein zwanzigjähriges Mädchen im Wohnzimmer und hört Radio. Ilse Fröhlich schreibt dabei einen Brief an ihren Freund Rudi, den sie leidenschaftlich liebt, der aber viel zu weit weg ist, in Greifswald, wo er als Soldat dient. Im Radio singt Zarah Leander mit rauchiger Stimme «Kann denn Liebe Sünde sein?». Ja, vielleicht. Jedenfalls ist das, was Ilse mit Rudi macht und wonach sie sich sehnt, verboten und kann mit Zuchthaus bestraft werden.

 

Im Palais Rothschild in Wien brütet der Sachbearbeiter für die jüdische Auswanderung, SS-Hauptsturmführer Adolf Eichmann, über seinen Statistiken. Eichmann wird von seinen Vorgesetzten als äußerst tüchtig geschätzt: Seit er vor einem Jahr, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, seinen Posten in Wien antrat, sind mindestens 120 000 österreichische Juden ausgewandert. Auswanderung ist die amtliche Bezeichnung für die Vertreibung der Juden. Mit dem Krieg wird das Auswandern so gut wie unmöglich werden, und Eichmanns Sachgebiet wird sich gänzlich verändern.

 

In Berlin-Kreuzberg ist der arbeitslose Ingenieur André Hoevel unterwegs zu einem Freund, genauer gesagt zu einem alten Genossen, der ihm vielleicht eine Stelle beschaffen kann. Es wird schwer sein, weil Hoevel keine ordentlichen Papiere besitzt. Erst vor kurzem ist er aus dem KZ entlassen worden, wo er jahrelang wegen «Agitation für die verbotene Kommunistische Partei» eingesperrt war. Auch seine Frau Anneliese ist seit zwanzig Monaten in «Schutzhaft» im KZ, nachdem sie zuvor bereits drei Jahre Zuchthaus abgebüßt hat. Die Hoevels sind leidenschaftliche und leidensbereite Kommunisten, die fest an den Sieg der Revolution glauben. Sie sind überzeugt davon, dass diese Epoche entscheidend ist für den Kampf der antagonistischen Ideologien, Faschismus und Bolschewismus.

 

In Leipzig hält im Gesundheitsamt der Amtsarzt Dr. Horst Schumann eine kleine Ansprache für seine Mitarbeiter. In der kommenden Woche werden wieder einige junge Frauen und Männer auf Schumanns Anordnung hin sterilisiert werden. Meistens wehren sich die Patienten, und dann muss man ein bisschen Gewalt anwenden. Das ist manchmal unangenehm. Schumann, der nicht nur ein brillanter Mediziner, sondern auch ein guter Chef ist, möchte gern, dass die Mitarbeiter wissen, um was für eine wichtige Aufgabe es sich bei diesen kleinen Eingriffen handelt. Letztlich geht es darum, das deutsche Volk durch Volksgesundheit und Rassereinheit für den unvermeidlichen Kampf der Völker gegeneinander fit zu machen.

 

Im Londoner Vorort Hampstead starrt ein alter glaubensloser Jude aus dem Fenster in den Garten. Vormittags schien einen Moment die Sonne, jetzt treibt wieder der Nieselregen vorbei. Sigmund Freud macht sich keine Illusionen über seine Krebskrankheit. Viermal ist er schon operiert worden, es hat nicht dauerhaft geholfen. Manchmal empfängt er noch Patienten, die sich auf die aus Wien gerettete Couch legen und ihm von sich erzählen. In diesen Tagen denkt Freud wieder viel über den Aggressions- und Destruktionstrieb nach. Einmal, vor ein paar Jahren, hat der pazifistische Psychoanalytiker Freud den pazifistischen Physiker Albert Einstein gefragt: Wie lange müssen wir noch warten, bis auch die anderen Pazifisten werden?

 

Auf seinem Landsitz Chartwell im englischen Kent hat sich der abgehalfterte Politiker Winston Churchill zum Malen in sein Atelier zurückgezogen. Der Vierundsechzigjährige hat eine große politische Karriere hinter sich, aber jetzt will niemand mehr auf ihn...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2010
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Schlagworte Fernsehserie • Schicksale • Vorkriegszeit • Welt am Abgrund
ISBN-10 3-644-10391-7 / 3644103917
ISBN-13 978-3-644-10391-7 / 9783644103917
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