Lernen (eBook)
528 Seiten
Spektrum Akademischer Verlag
978-3-8274-1396-3 (ISBN)
Lernen findet im Kopf statt. Was der Magen für die Verdauung, die Beine für die Bewegung oder die Augen für das Sehen sind, das ist das Gehirn für das Lernen. Daher sind die Ergebnisse der Gehirnforschung für das Lernen so wichtig wie die Astrophysik für die Raumfahrt.
Manfred Spitzer, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, Professor für Medizin, Diplompsychologe und promovierter Philosoph hat - angeregt durch seine Erfahrungen im Baden-Württembergischen Bildungsrat und als Experte bei einer Anhörung zur PISA-Studie im Bundesrat - dieses Buch für einen breiten Leserkreis von Menschen geschrieben, die mit Lernen und Lernenden zu tun haben: Eltern, Lehrer, Schüler, Bildungspolitiker und alle, der seine Lernmaschine im Kopf verstehen und einsetzen möchte.
Spitzers Buch ist ein Plädoyer gegen Vorurteile: "Schüler sind nicht dumm, Lehrer sind nicht faul und unsere Schulen sind nicht kaputt. Aber irgendetwas stimmt nicht." Träumen wir nicht alle immer noch vom Nürnberger Trichter, der uns Lernen ohne Mühe verheißt, uns alles eintrichtert, was wir hören?
Aber was wäre, wenn unser Gehirn tatsächlich alles so aufnehmen würde wie der Nürnberger Trichter, wenn auch aller Unsinn, den wir hören, gelernt würde? Was wäre, wenn wir Fremdsprachen im hohen Alter so leicht lernen würden, wie wir als Kinder die Muttersprache lernen? Und warum ist es gar nicht zu bewerkstelligen, Lernen aus dem Leben zu verbannen? Und wenn Lernen unvermeidliche ist, gibt es dann so etwas wie eine Gebrauchsanleitung zur Lernmaschine in unserem Kopf? Spitzer's Buch kann als Ansatz dazu gelesen werden.
Inhalt 5
Vorwort 13
1 Einleitung 17
Der Nürnberger Trichter 17
Internet als Supermarkt 19
Aktivität 20
Mit Inhalten hantieren 20
Lust und Frust 25
Angst 27
Spuren 28
Das Gehirn 29
Ein halbes Gehirn 31
Der Plan 31
2 Ereignisse 37
Der Hippokampus 38
Ortszellen zur Navigation 40
Neuronale Repräsentationen 43
Neuronenwachstum für Orte und Vokabeln 46
Neuigkeitsdetektor 50
Geschichten 51
Lernen ohne Hippokampus 51
Fazit 52
Methodisches Postskript: Funktionelles Neuroimaging 53
3 Neuronen 57
Impulse und Synapsen 57
Repräsentation durch Synapsenstärken 60
Anatomie in Zahlen 67
Input und Output 69
Fazit 70
Postskript für Fortgeschrittene: Neuronale Vektorrechnung 71
4 Wissen und Können 75
Viel können und wenig wissen 75
Synapsenstärken können viel 78
Synapsen lernen, aber langsam 80
Langsames Können-Lernen 81
Sprachentwicklung: Regeln an Beispielen lernen 84
Vergangenheitsbewältigung 89
Tomaten im Kopf 91
Regelhafte Welt 92
Fazit 93
5 Neuronale Repräsentationen 95
Mehr als innere Bilder 95
Repräsentation in Neuronenpopulationen 97
Neuronale Aspekte und Perspektiven 98
Von Kanten zu Regeln 101
Neuronen für Kategorien 102
Neuronen für Regeln 106
Neuroplastizität: Sich ändernde Repräsentationen 110
Fazit 112
6 Plastische Karten 115
Karten 116
Prinzip der Karten 118
Entstehung der Karten 120
Plastische Karten 121
Plastisches Sprachverstehen 123
Wird es eng im Kopf? 124
Vom Tasten zum Sprechen 126
Weitreichende kortikale Plastizität 130
Kognitive kortikale Karten bei Postbeamten 131
Zusammenspiel der Karten 134
Fazit 135
7 Schlaf und Traum 137
Konsolidierung und Schlafstadien 137
Lernen im Schlaf 139
Zebrafinken lernen schlafend singen 141
Lernen im Traum? 142
Tagesreste im Traum 145
Schlafhygiene für Leben und Lernen 148
Fazit 149
Postskript: Delphine, Vögel und die Frage Warum 149
8 Aufmerksamkeit 157
Vigilanz 158
Selektive Aufmerksamkeit 159
Aktivität für das Lernen 162
Ort- versus Objektzentriertheit 167
Darauf achten oder nicht 169
Fazit 171
9 Emotionen 173
Aufregung: Dabei sein 174
Angst essen Seele auf 177
Dem Gehirn beim emotionalen Lernen zuschauen 181
Stress 183
Akuter und chronischer Stress 185
Fazit 187
Postskript: Wo „Stress“ herkommt 188
10 Motivation 191
Besser als gedacht 192
Dopamin 193
Kokain 195
Belohnung 196
Neuigkeit und Bewertung 197
Belohnung und Plastizität 199
Schokolade, Musik, Blickkontakt 200
Motivation erzeugen? 208
Motivation in der Schule 209
Fazit: Dopamin, Neuigkeit und Belohnung 211
Psychiatrisches Postskript Wahn: Wenn die Bewertung überkocht 212
11 Lernen vor und nach der Geburt 217
Lernen im Mutterleib 217
Angeboren und/oder gelernt 221
Kritische Perioden 222
Frühes Tuning für Laute 225
Prototypen für Gesichter 227
Verwirklichung von Möglichkeiten 232
Stille Verbindungen 233
Computer im Kinderzimmer? 239
Fazit 241
12 Kindheit 245
Verbindungen reifen 245
Areale gehen on-line 249
Robuste Kinder und Spracherwerb 251
Gebärdensprache 253
Evolution: Fit sein versus fit werden 255
Fazit: Was Hänschen nicht lernt ... 256
13 Lesen 259
Erkenntnis 260
Verdrahtung 261
Diagnose von Mikroverdrahtungsstörungen 263
Therapie und Neuroplastizität 266
Fazit 267
14 Bildung: Mathematik, Natur- und Geisteswissenschaft 269
Mathematik 269
Einsteins Gehirn 271
Mathematik 273
Mathematik: Module 273
Strahl, Sinn und Modul 274
Genau rechnen versus grob schätzen 276
Mathematikunterricht 283
Naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Bildung 288
Fazit 290
15 Schnelle Jugend, weises Alter 293
Endliche Existenz und angepasste Langsamkeit 293
Statistik: Zur Genauigkeit von Mittelwerten 295
Langsam zur Weisheit 296
Schnelle Physik und langsamer Frieden 297
Je mehr, desto besser 299
Männer: Erfahrung versus Kraft 300
Elefantenfrauen und Fruchtbarkeit 302
Warum werden wir alt? 304
Fazit: Der Sinn des Alters 306
16 Kooperation 309
Evolutionsmechanismen für Kooperativität 310
Vom Waren- zum Gedankenaustausch 312
Gefangen im Spiel 313
Dilemma im Scanner 316
Die Realität: Viele Spieler und viele Spiele 317
Ärger und Strafe 319
Der gute Ruf 325
Rahmenbedingungen für soziales Lernen 329
Wolf oder Schaf? 330
Fazit: Die Wurzeln der Kooperation 333
17 Bewertungen 337
Depression und Manie 337
Kohl, Äpfel und Bananen 338
Das Trolley-Problem 339
Moral im Scanner 344
Zur Funktion von Bewertungsrepräsentationen 346
Der gute Geschmack 349
Katzen, Whiskas und die Moral 351
Fazit 353
18 Werte 355
Werte im Gehirn 356
Krankheiten und die Erkenntnis von Modulen 357
Der Fall Phineas Gage 358
Bewertung und Wert wie Haus und Substantiv 360
Kardex und Kodex 362
Prinzipien: Linguistik und Ethik 365
Entwicklung: Werte als Spätentwickler 367
Erfahrene Varianz spannt Räume auf 370
Erziehung: Was sollen wir tun? 372
Fazit 374
19 Gewalt im Fernsehen lernen 377
25.000 Stunden Fernsehen 378
Macht Fernsehen gewalttätig? 379
Wirkungen nach zwei Jahrzehnten 380
Lernen am Modell: Gewalt im Labor 382
Feldstudien 383
Fernsehen macht Gewalt 384
Rauslassen oder reinlassen? 385
Desensibilisierung 386
Kinder vor dem Fernsehapparat 387
Auch Mädchen, auch ohne Veranlagung 389
Fazit: Gewalt als Umweltverschmutzung 392
Postskript: Computerspiele – Learning by doing 395
20 PISA 403
Hundertachtzigtausend SchülerInnen 403
Lesen, Rechnen, Naturwissenschaft 405
Ergebnisse: Mittelwerte und Streuungen 406
Finnische Schulen aus finnischer Sicht 408
Deutsche Schulen aus tasmanischer Sicht 409
PISA-E 411
Fazit 412
Postskript: Die OECD entdeckt das Gehirn 413
21 Schule 415
Was wirklich geschieht 416
Frontalunterricht, Varianz, Jim und ein Wort mit O 418
Deutsch im Kindergarten 421
Englisch in der Grundschule 424
Lernen: Für das Leben, nicht für Klassenarbeiten! 426
Disziplin 427
Die Person des Lehrers 427
Ausbildung der Lehrer 430
Vernetzung ... 432
... und Ereignisse ... 432
... statt Vermittlung 433
Lob und Tadel, Angst und Stress 434
Computer in der Schule 434
Fazit 437
22 Religionsunterricht 439
Religion und Staat 440
Das Schulfach im Grundgesetz 441
Der Islam und die neuen Bundesländer 443
Neuroplastizität, Frontalhirn und nüchterne Realität 445
Aufklärung 447
Philosophie, Ethik, Religionskunde 448
Ethik in der 7. Klasse? 450
Problemfeld Weihnachtslieder 451
Fazit: Vom Frontalhirn zur Grundgesetzänderung 453
Postskript: Meditation über Gras, die Wurzel aus zwei, Gott und die Welt 456
23 Lebensinhalte 463
Pokémon oder Naturschutz 464
Lebensbedingungen 466
Welche Inhalte? 468
Strukturen ... 469
... Geschichten ... 469
... Metaphern ... 470
... und Mythen 471
Natur ... 471
... und Kultur 472
Fremdbestimmung ... 473
... und Selbstbestimmung 473
Postskript: Pisa 474
24 Epilog: Terra II 477
Literatur 503
Index 521
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7 Schlaf und Traum (S.121)
Erinnern wir uns an die Experimente mit Ratten, die sich in einem Kasten zurechtfinden mussten, aus Kapitel 2. Ein Jahr, nachdem diese Experimente publiziert waren, kam aus der gleichen Forschergruppe eine weitere wichtige Arbeit.
Das Experiment war im Grund ganz einfach: Man ließ die Ratten nach dem Erlernen des neuen Raums ein Nickerchen halten und leitete weiter Signale von Neuronen des Hippokampus ab. Hierbei zeigte sich, dass während des Schlafs genau diejenigen Neuronen, die unmittelbar zuvor neue Repräsentationen ausgebildet (sprich: gelernt) hatten, nochmals aktiviert wurden. Wozu sollte dies gut sein?
Konsolidierung und Schlafstadien
Vielleicht hat der eine oder andere Leser bei sich selbst schon beobachtet, dass man tagsüber eine Sache lernen möchte, sie aber trotz größter Anstrengung einfach nicht richtig fertig bringt. Enttäuscht vom Ergebnis der eigenen Bemühungen wendet man sich ab, um dann erstaunt festzustellen, dass am nächsten Tag alles „wie geschmiert" klappt.
Ganz offensichtlich spielen sich nach dem Lernen noch weitere Verarbeitungsschritte des Gelernten ab, die zu einer Verbesserung der Lernleistung führen. Man bezeichnet diese seit gut einhundert Jahren bekannte Nachverarbeitung und Verfestigung von Inhalten im Gedächtnis als Konsolidierung (vgl. Lechner et al. 1999). Seit mehr als zehn Jahren bringt man diesen Vorgang mit dem Schlaf in Verbindung, da Schlafentzug nach dem Lernen das Behalten beeinträchtigt (vgl. Gais et al. 2000, Maquet 2000, Stickgold 1998, Stickgold et al. 2000a, b).
Schlaf ist jedoch nicht gleich Schlaf. Seit mehr als 50 Jahren ist bekannt, dass es unterschiedliche Phasen während des Schlafs gibt, die auch als Schlafstadien bezeichnet werden. Der schlafende Mensch selbst bemerkt im Grunde nichts davon, sondern ist abends müde, schläft mehr oder weniger ungestört und wacht morgens ausgeschlafen wieder auf.
Leitet man jedoch Hirnströme ab und misst die Augenbewegungen sowie die Muskelanspannung, findet man ganz unterschiedliche Zustände im Verlauf einer äußerlich betrachtet ganz einheitlichen durchschlafenen Nacht (vgl. Abb. 7.1). Einen dieser Zustände bezeichnet man als Tiefschlaf, wobei verschiedene Tiefen dieses Schlafs unterschieden werden. Die elektrische Aktivität des Gehirns in diesem Zustand ist ganz anders als im Wachzustand, und man schläft (daher der Name) recht tief, d.h. ist nur schwer zu wecken.
Wenn man abends einschläft, so verändert sich die Hirnstromkurve zunächst immer mehr in Richtung Tiefschlaf. Nach einiger Zeit jedoch geschieht etwas Eigenartiges: Der Schlaf wird wieder leichter (also weniger tief) und man könnte meinen, der Schläfer wacht gleich wieder auf.
Tatsächlich kommt nun eine Schlafphase, während der die Hirnstromkurve genauso aussieht, als sei man wach. Gleichzeitig jedoch ist man am allerschwersten weckbar (man schläft also sehr fest) und die Anspannung der Muskeln ist noch geringer als im Tiefschlaf: Man ist völlig schlaff.
Nur die Augenmuskeln machen wilde Zuckungen und verursachen rasche Augenbewegungen. Dieser Schlaf ist so eigenartig, dass man ihn früher als paradoxen Schlaf bezeichnet hat. Das Gehirn ist elektrisch wach, lässt aber nichts hinein (höchste Weckschwelle) und nichts hinaus (geringste Muskelspannung).
Der heute für dieses Schlafstadium allgemein verwendete Name ist von den schnellen Augenbewegungen (Rapid Eye Movements) abgeleitet: Man bezeichnet diesen Schlaf als REM-Schlaf.
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2002 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
ISBN-10 | 3-8274-1396-6 / 3827413966 |
ISBN-13 | 978-3-8274-1396-3 / 9783827413963 |
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