Das menschliche Minimum

Globale Gerechtigkeit aus afrikanischer Sicht: Henry Odera Oruka

(Autor)

Buch | Softcover
381 Seiten
2011
Campus (Verlag)
978-3-593-39395-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das menschliche Minimum - Anke Graneß
39,90 inkl. MwSt
Globale Gerechtigkeit ist in der heutigen Philosophie ein zentrales Thema. Allerdings werden in der bisherigen Diskussion nicht westliche Ansätze kaum berücksichtigt. Anke Graneß zeigt am Beispiel des kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka, wie wichtig eine interkulturelle Öffnung des Diskurses ist. Für Odera Oruka steht die Sicherung eines menschlichen Minimums an erster Stelle - vor jeglichen Freiheitsrechten, dem Recht auf Eigentum oder der nationalen Souveränität. Er vertritt damit eine Theorie, die gerade in den "philosophischen Randgebieten", also in Afrika, Lateinamerika und den arabischen Ländern, angesichts der dortigen Armut von großer Bedeutung ist. Die Autorin öffnet in diesem Buch den Gerechtigkeitsdiskurs für eine Perspektive, die der Sicherung körperlicher Bedürfnisse Priorität einräumt und damit zentrale Fragen der Debatte neu stellt.
Globale Gerechtigkeit ist in der heutigen Philosophie ein zentrales Thema. Allerdings werden in der bisherigen Diskussion nicht westliche Ansätze kaum berücksichtigt. Anke Graneß zeigt am Beispiel des kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka, wie wichtig eine interkulturelle Öffnung des Diskurses ist. Für Odera Oruka steht die Sicherung eines menschlichen Minimums an erster Stelle – vor jeglichen Freiheitsrechten, dem Recht auf Eigentum oder der nationalen Souveränität. Er vertritt damit eine Theorie, die gerade in den »philosophischen Randgebieten«, also in Afrika, Lateinamerika und den arabischen Ländern, angesichts der dortigen Armut von großer Bedeutung ist. Die Autorin öffnet in diesem Buch den Gerechtigkeitsdiskurs für eine Perspektive, die der Sicherung körperlicher Bedürfnisse Priorität einräumt und damit zentrale Fragen der Debatte neu stellt.

Anke Graneß ist Chefredakteurin der Zeitschrift Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren und lehrt an der Universität Wien.

Inhalt
Einleitung9

1.Überlegungen zur interkulturellen Philosophie18
1.1.Vorbemerkungen 18
1.2.Kultur und Philosophie - Versuch einer Begriffsbestimmung22
1.2.1.Kultur 22
1.2.2.Philosophie 33
1.3.Was ist interkulturelle Philosophie? 39

2.Hauptströmungen und Diskussionen der Philosophie in Afrika47
2.1.Einleitung 47
2.2.Die Négritude 50
2.3.Ethnophilosophie 57
2.4.Kritik an der Ethnophilosophie 61
2.5.Das Projekt der Weisheitsphilosophie 67
2.6.Philosophie in Afrika am Beginn eines neuen Jahrtausends 68

3.Die Philosophie Odera Orukas71
3.1.Biographische Notiz 71
3.2.Schwerpunkte seiner Philosophie 72
3.3.Weisheitsphilosophie 75
3.4.Der Philosophiebegriff Odera Orukas 95

4.Odera Orukas Ethik 98
4.1.Globale Gerechtigkeit 100
4.2.Der Begriff der Person 117
4.3.Versuch einer näheren Bestimmung des "menschlichen Minimums" 126
4.4."Parental Earth Ethics" 136

5.Was ist Gerechtigkeit?145
5.1.Der Begriff der Gerechtigkeit in der Geschichte der europäischen Philosophie 145
5.2.John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit 151
5.3.Die Frage der Priorität von Grundfreiheiten oder Existenzminimum157
5.3.1.Odera Oruka und John Rawls 157
5.3.2.Die Ethik der Befreiung von Enrique Dussel 173
5.3.3.Amartya Sen und die Wohlfahrtsökonomie 190

6.Kritik am Konzept der Verteilungsgerechtigkeit 199
6.1.Otfried Höffe: Tausch statt Verteilung 200
6.2.Karl Marx: Was ist "gerechte" Verteilung? 214
6.3.Nachtrag: Odera Oruka und Karl Marx 249

7.Ein Prinzip der Gerechtigkeit jenseits von Verteilung?256
7.1.Philosophische Ansätze (Steinvorth, Kersting, Pogge) 256
7.2.Das bedingungslose Grundeinkommen 287
7.3.Zusammenfassung325

8.Ist "Entwicklungshilfe" moralisch zu rechtfertigen? 329
8.1.Entwicklungshilfe oder -zusammenarbeit? 333
8.2.Philosophische Positionen zur Entwicklungshilfe 337

9.Was leistet Odera Orukas Gerechtigkeitsbegriff? Eine Zusammenfassung 352

10.Literatur 366

"Ein fundiert recherchiertes und klar strukturiertes Werk, das aufgrund seiner Problematik sowie der Tatsache, dass es einer philosophischen Stimme aus der kapitalistischen Peripherie Gehör verschafft, sehr zu empfehlen ist.", Widerspruch. Münchener Zeitschrift für Philosophie, 01.06.2011

Armut ist ein existentielles Phänomen, das uns auf den Straßen Wiens und Berlins ebenso begegnet wie in Lagos, Kairo, Mexiko-City, Rio de Janeiro oder New York. Es ist, so scheint es, ein weltumspannendes Phänomen, ja man möchte fast sagen ein allgemein menschliches, das in seiner schärfsten Form in den Entwicklungsländern zu finden ist. Aber auch in den reichen Industrienationen ist es präsent. Nicht umsonst hat die Europäische Union das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ernannt. Die Europäische Union ist eine der reichsten Gegenden der Welt. Nichtsdestotrotz haben 17 Prozent der Europäer nicht genügend Mittel, um sich ihre grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen. Insofern sprechen internationale Organisationen zu Recht von einem Weltarmuts- und Welthungerproblem. Laut FAO litten im Jahr 2009 über eine Milliarde Menschen an Unterernährung und Hunger. Dabei ist Armut kein rein wirtschaftliches Problem, mit dem sich ausschließlich Ökonomen und Soziologen beschäftigen müssen. Armut geht für die betroffenen Individuen an die Existenz: im extremsten Fall führt sie an die Grenze zwischen Sein und Nichtsein - immer jedoch deutet sie auf die Frage nach der Bestimmung dessen, was den Menschen als Menschen ausmacht. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses existentielle Phänomen in der Philosophie bisher kaum behandelt wird oder zumindest ein Randdasein fristet. Armut ist dabei nicht nur ein individuelles, existenzielles Problem für den Betroffenen. Es handelt sich vielmehr um ein gesellschaftliches Problem, denn Armut stellt die Möglichkeit des Zusammenhalts menschlicher Gemeinschaften auf die Probe. Armut führt zur Frage nach den Voraussetzungen menschlicher Gemeinschaft und nach den Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns. Darf der Verhungernde stehlen (oder gegen andere moralische Regeln der Gemeinschaft verstoßen), um sein Leben zu retten? Ist der Verhungernde überhaupt noch Mitglied einer ethischen Gemeinschaft und für sein Handeln verantwortlich? Ist der Verhungernde, der mit dem schieren Überleben kämpft, überhaupt noch ein moralisch Handelnder? Armut zielt mit diesen Fragen offensichtlich in das Herz philosophisch-ethischer Problemstellungen: Was ist die Voraussetzung ethischen Handelns? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Erfreulicherweise sind auf dem Gebiet der Armutsforschung auch in philosophischer Hinsicht in den letzten Jahren wichtige Beiträge geleistet worden, zum Beispiel von Amartya Sen und Martha Nussbaum, Thomas Pogge oder Enrique Dussel. Allerdings hat ein afrikanischer Philosoph die Bedeutung philosophi-scher Reflexion auf das Armutsproblem bereits 1981 zu einem Hauptthema seiner Arbeiten gemacht: Henry Odera Oruka. Als Philosoph aus Kenia, und damit in einer in jeder Hinsicht marginalisierten Position (als Philosoph - Philosophie gilt vielen ja als "Orchideenfach" - und als Afrikaner), sind seine Arbeiten zu dieser Thematik bis heute weitgehend unreflektiert geblieben - und zwar ganz zu unrecht, wie dieses Buch zeigen wird. Odera Oruka (1944-1995), der im deutschsprachigen Raum noch so gut wie unbekannt ist, ist bis heute einer der einflussreichsten und am meisten rezipierten Philosophen Afrikas. Seine philosophischen Arbeiten stechen durch zwei Merkmale besonders hervor: Sie sind zum einen geprägt durch eine erfrischende Radikalität und zum anderen durch eine besondere Nähe zur Lebensrealität der Menschen. Fragen, die ihn zu philosophischer Auseinandersetzung angespornt haben, waren stets diejenigen, die aufs engste mit praktischen Fragen seiner Landsleute und deren Lebensbedingungen verknüpft waren: Fragen nach Freiheit und Unabhängigkeit in einer postkolonialen Welt, nach Werten und Leitlinien in eben dieser Welt, Fragen nach Demokratie und Menschenrechten in den afrikanischen Ländern, Fragen nach der moralischen Legitimität von Entwicklungshilfe, Fragen nach dem Schutz der Umwelt und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Immer wieder mündete seine Beschäftigung mit diesen Problemen auch in die Frage nach der Relevanz der Philosophie für unsere heutige Welt. Für ihn kann Philosophie ihre Relevanz und Legitimität nur aus der Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Gegenwart beziehen, zu deren Beantwortung sie ihren Beitrag leisten muss. Bekannt wurde Odera Oruka vor allem durch sein Projekt der Weisheitsphilosophie (sage philosophy). Weisheitsphilosophie versteht sich als ein Gegenentwurf zur sogenannten Ethnophilosophie, einem Trend in der modernen Philosophie Afrikas, der afrikanische Philosophie vorrangig als im ›kommunalen Denken‹ verankert auffasst und deshalb auch Begriffe wie ›Bantu-Philosophie‹ geprägt hat. Die Ethnophilosophie entstand im Bemühen afrikanischer Intellektueller nach den Jahrhunderten der Kolonisation und der damit verbundenen Abwertung eigener Traditionen, eine originäre afrikanische Philosophie zu rekonstruieren. Odera Oruka hält diesen Ansatz für falsch - wenn auch die Zielrichtung (die Rekonstruktion indigenen Erbes) für richtig. Als Ursachen für viele Probleme der Gegenwart in Afrika werden das Abbrechen von kulturellen Traditionen, von Wertvorstellungen, Weltanschauungen und von Bildungstraditionen durch den Kolonialismus angesehen, sowie die Versuche, ausländische Institutionen (zum Beispiel im politischen oder ökonomischen Bereich, oder auch Bildungssysteme, Verwaltungs- und Regierungssysteme) in den Ländern Afrikas zu implementieren. Eine Rekonstruktion indigenen Wissens wird als Möglichkeit betrachtet, heutigen Generationen in Afrika Orientierungshilfen in einer komplexer werdenden Welt zu geben. Aber im Gegensatz zu den Vertretern der Ethnophilosophie versteht Odera Oruka Philosophie als eine kritisch-reflexive Denkbewegung, die gekennzeichnet ist durch logische Konsistenz. Zudem betont er, dass Philosophie immer eine Denkleistung von Individuen ist. Er lehnt es explizit ab, Denktraditionen eines ganzen Volkes als Philosophie zu bezeichnen. Aus diesem Grund hat Odera Oruka Interviews mit Männer und Frauen aus Kenias Dorfgemeinschaften, die innerhalb ihrer Gemeinschaften als weise (sages) gelten, geführt und aufgezeichnet und dann auf ihre philosophische Relevanz hin untersucht. Im Gegensatz zu den Vertretern der Ethnophilosophie veröffentlichte Odera Oruka diese Interviews unter namentlicher Nennung der jeweiligen Interviewpartner und -partnerinnen und machte es somit möglich, Auffassungen und Ideen individuellen Denkern zuzuordnen und nicht als Auffassungen einer ganzen Dorfgemeinschaft oder gar eines ganzen Volkes auszugeben. Damit wird eine klare Abgrenzung individuellen Denkens zu Mythen, zu Sprichwörtern oder Volksweisheiten möglich. Dieser Ansatz wurde breit diskutiert und hat heute unter anderem Eingang in das Historische Wörterbuch der Philosophie unter dem Stichwort Weisheit gefunden. Das zweite, untrennbar mit dem ersten verbundene Ziel seiner Arbeiten war, wie er es nennt, "die Rekonstruktion der weisheitlichen Dimension der Philosophie", die Odera Oruka in der Philosophie der Gegenwart als verloren gegangen betrachtet. Aber was ist nun diese "weisheitliche Dimension"? Odera Oruka versteht darunter das ethische Engagement des Philosophen, die Anwendung seines Wissens zum Wohlergehen der Gemeinschaft. Gerade die akademische Philosophie, in der die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie häufig im Mittelpunkt des Interesses steht, lässt ein anwendungsorientiertes Herangehen meist schmerzlich vermissen. Für Odera Oruka ist Philosophie jedoch keine Wissenschaft im Elfenbeinturm, die das Privileg hat, sich nur mit sich selbst zu beschäftigen, sondern hat konkrete gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen. Mit Hilfe der Philosophie gelte es sozioökonomische Benachteiligung, rassistische Mythologien und täuschenden Schein zu bekämpfen. So ist es kein Wunder, dass das zweite große Betätigungsfeld Odera Orukas die Beschäftigung mit ethischen Fragen war. Seine Überlegungen zu einer globalen Gerechtigkeit stehen im Zentrum dieses Buches und dienen als Ausgangspunkt für eine kritische Diskussion der gegenwärtigen Debatte um globale Gerechtigkeit.

Erscheint lt. Verlag 7.3.2011
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 510 g
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Schlagworte Afrika • Afrikanische Philosophie • Gerechtigkeit • Henry Odera Oruka • Interkulturelle Philosophie • John Rawls • Kenia • Odera Oruka, Henry • Verteilungsgerechtigkeit
ISBN-10 3-593-39395-6 / 3593393956
ISBN-13 978-3-593-39395-7 / 9783593393957
Zustand Neuware
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