Baroco (eBook)
440 Seiten
Verlag Kremayr & Scheriau
978-3-218-01451-9 (ISBN)
Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren, studierte an der dortigen Universität für Musik und darstellende Kunst und arbeitet seit 1988 als freischaffender Musiker. Für seine seit 1989 in Zeitschriften und Anthologien publizierten Erzählungen, Essays und andere Texte erhielt er mehrere Preise und Stipendien. 2012 erschien sein Romandebüt 'Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten' (DVA), 2019 folgte sein zweiter Roman 'Mein Name ist Judith' (Penguin Verlag).
Martin Horváth wurde 1967 in Wien geboren, studierte an der dortigen Universität für Musik und darstellende Kunst und arbeitet seit 1988 als freischaffender Musiker. Für seine seit 1989 in Zeitschriften und Anthologien publizierten Erzählungen, Essays und andere Texte erhielt er mehrere Preise und Stipendien. 2012 erschien sein Romandebüt "Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten" (DVA), 2019 folgte sein zweiter Roman "Mein Name ist Judith" (Penguin Verlag).
4.01
War ich sehr peinlich, will Bruder Jakob von Schwester Laura wissen, als sie sich auf seinem Lieblingsaussichtsplatz oberhalb von San Lorenzo niederlassen. Sie sind vom Kloster heraufgestiegen, Jakob ist dabei schneller als sonst außer Atem geraten, Laura hat es mit einem vielsagenden Grinsen quittiert. Das Grinsen kann sie auch jetzt nicht unterdrücken. Sie nickt. Und muss lachen, als sie seine schuldbewusste Miene sieht.
Der Metzger hat sich bereits für den Abend davor entschuldigt. Und tut es nun erneut. Entschuldigung angenommen, sagt sie und drückt seine Hand. Aber nur, wenn du mir eines verrätst, fügt sie, plötzlich ernst geworden, hinzu. Jakob blickt sie erwartungsvoll an. Warum hast du gestern gemeint, du würdest mich unglücklich machen? Jakob gibt sich überrascht. Hab ich das? Sie nickt. Ja, hast du. Jakob versucht ihrem Blick und, besser noch, der Frage auszuweichen, doch beides lässt Frau Bialetti nicht zu. Es ist da dieser inquisitive Ausdruck in ihren graugrünen Augen, der einen plötzlichen Wortschwall bei ihm auslöst: Es war wegen der Tränen auf deinen Wangen, vor zwei Wochen, mitten in der Nacht, nachdem wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben. Ich dachte, du wärst … du hättest es vielleicht bereut. Und dann … dann wirkst du oft traurig. Und ich verstehe nicht, warum. Und das macht mich traurig.
Lauras Blick ist während des obigen Gestammels nicht von Jakobs Gesicht gewichen. Aber er hat sich verändert. Vielleicht ist es bloß das milde Streulicht der untergehenden Sonne an diesem längsten Tag des Jahres, das sich in ihrem Gesicht spiegelt. Vielleicht ist es der Kräuterduft, den der Wind, zusammen mit dem Läuten der Kirchenglocken, über die Ebene heraufträgt. Vielleicht ist dieser Blick aber tatsächlich durch Jakobs Worte weicher geworden. Sie fasst ihn an beiden Händen. Also erstens hab ich es ganz & gar nicht bereut, sagt sie leise. Und zweitens, fragt Jakob, nachdem Laura nicht weiterspricht. Sie steht plötzlich auf und zieht ihn mit sich hoch. Dann schaut sie ihm wieder in die Augen: Gib mir bitte noch ein bisschen Zeit, sagt sie leise. Sie öffnet erneut den Mund und scheint etwas hinzufügen zu wollen, doch statt Worten kommt da nur Sauer- & Stick- & Kohlenstoff heraus. Und sie belässt es dabei.
Sie: hat nicht gesagt, wofür sie Zeit braucht. Jakob: hat nicht gefragt. Und mir: sind die Lippen versiegelt. Als sie an diesem Abend einschlafen, sind im Westen die letzten Reste des Tages noch nicht vom Himmel getilgt. Halt mich fest, sagt Laura, nachdem beide schon einmal kurz in den Schlaf hinübergeglitten sind. Und er hält sie fest. Und lässt sie nicht mehr los, bis sie sieben Tage später von den ersten Sonnenstrahlen im Osten geweckt werden.
4.02
Auch der Rest meiner Brüder & Schwestern im Herrn und in der Dame verfällt in einen wohlverdienten, sieben Tage & sieben Nächte dauernden Schlaf: vom Tag der Sommersonnenwende, der ja auch der internationale Tag des Schlafes ist, bis zum Siebenschläfertag. Benannt ist Letzterer allerdings nicht nach den niedlichen Nagetieren, die in der Gegend trotz ihres Schutzstatus gejagt und als besondere Delikatesse serviert werden, sondern nach den sieben Schläfern von Ephesus: sieben junge Männer aus den vornehmsten Familien von Ephesus, die bei einem Besuch des Kaisers Decius im Jahre 251 in Konflikt mit diesem gerieten, weil sie partout ihrem christlichen Glauben nicht abschwören wollten. Auf der Flucht versteckten sie sich in einer Höhle, wurden jedoch entdeckt und bei lebendigem Leibe eingemauert. Was aber insofern kein wirkliches Problem darstellte, als sie zum eigenen Schutz in den Schlaf der Gerechten verfielen: für 170 Jahre, sagen die einen, während die anderen ihnen sogar mehr als 370 Jahre Schlaf gönnen. In jedem Fall schliefen sie lange genug, um bei ihrem Erwachen ein christliches Ephesus vorzufinden und ihrerseits zusammen mit der Höhle zum vielbestaunten Wunder zu werden, über dem Kaiser Theodosius später eine Kirche errichten ließ.
Maximilianus, Malchus, Martinianus, Dionysius, Constantinus, Johannes, Serapion: Das waren, so berichtet uns Gregor von Tours, die Namen der sieben jungen Männer. Ihre Anfangsbuchstaben ergeben die wenig aussagekräftige Buchstabenkombination MMMDCIS. Oder aber, wenn S nach antiker Tradition für septuaginta oder 70 steht, die Zahl 3669. Eine schöne Zahl, die sich für Baroco noch von ganz besonderer Bedeutung erweisen sollte.
4.03
Halten wir fest, was Jakob der soeben Erwachte an diesem bedeutenden Tag weiß oder nicht weiß: Er weiß noch immer nicht, woher Lauras Traurigkeit rührt. Er weiß, dass er sie liebt. Er glaubt zu wissen, dass sie ihn liebt. Er weiß spätestens seit der Aktion Bellerophon, was wir mit forcierter Aufklärung meinen, und dass Letztere mit den bestehenden Gesetzen nicht immer zu vereinbaren ist. Er weiß mittlerweile auch, dass Hacker, die sich in diesem Graubereich bewegen, als Grey Hats bezeichnet werden. Dass wir uns, dem klösterlichen Umfeld entsprechend, daher gerne als Grey Friars sehen – so hießen, wie er natürlich ebenfalls weiß, früher die in graue Kutten gekleideten englischen Franziskaner –, unser Kapitel demzufolge als Grey Chapter.
Was Jakob noch nicht weiß: dass es daneben auch noch Black Hats gibt. Als solche werden jene Hacker bezeichnet, die auf der dunklen Seite der Macht operieren. Die vier jungen Männer, die im an die Bibliothek angrenzenden Skriptorium ihrer Arbeit nachgehen, heißen daher bei uns Black Friars. Wann immer es darum geht, Bankkonten zu knacken wie bei der Aktion 5000 oder der Aktion Bellerophon, kommen sie und ihre langen Finger zum Einsatz.
Jakob weiß nicht, dass diese vier, deren wahre Namen übrigens kein Sterblicher kennt, bei den Amazonen längst Sand ins Getriebe gestreut haben: Sie haben als Zwischenhändler zahlreiche Konten eingerichtet und dem Konzern im Laufe von drei Jahren durch falsche Verrechnung beinahe vier Millionen Euro entzogen. Bei Baroco firmieren diese & ähnliche Aktionen, durch die jährlich etwa 25 Millionen Euro lukriert werden, als OPC oder Operation Petty Cash.
Was mit diesem Geld geschieht und warum das Programm Petty Cash – also Portokasse – heißt, braucht Jakob noch nicht zu wissen.
Die Liste dessen, was wir über Jakob wissen oder nicht, wäre sehr viel länger und würde den Rahmen sprengen. Hier also nur das Wichtigste: Wir wissen, dass er an Migräne und Höhenangst leidet. Wir wissen, dass er und Laura sich anschicken, ein Paar zu werden. Wir wissen, dass er uns und unser Projekt bis jetzt nicht verraten hat. Was wir nicht wissen: ob er es nicht eines Tages doch tun wird. Vielleicht: weiß er es ja selber noch nicht. Weil er so wie ich ein Suchender ist.
4.04
Nach den zwei großen Aktionen im Mai und Juni kehren mit dem Sommer wieder ruhigere Zeiten ein. Was aber den besessenen Holländer nicht daran hindert, von Zeit zu Zeit mit seiner Mannschaft in See zu stechen, um diesem oder jenem Bösewicht gewissermaßen im Vorbeifahren eins oder auch zwei auszuwischen. Doch lassen wir die, die es nicht lassen können. Bleiben wir, während sie die virtuellen Weltmeere durchpflügen, auf dem Trockenen.
Im wahrsten Sinne des Wortes: Denn mit Trockenheit hat man in der Umgebung von San Lorenzo seit Jahrhunderten zu kämpfen. Der Ort selbst ist privilegiert, vor allem seit die Stiftung die drei bestehenden Brunnenanlagen erneuert hat. In Capriglia und anderen Orten ist man hingegen in den Sommermonaten oft auf die Versorgung durch Tankwagen angewiesen.
Die Sommer können hier, auch wenn die Lage auf mehr als 800 Metern über dem Meeresspiegel ein wenig Milderung bietet, tatsächlich ohn Erbarmen sein. Manche der großteils aus nördlicheren Gefilden stammenden Bewohner leiden, andere Genossen genießen es. Wieder andere nehmen den Unterschied zu den Wintermonaten kaum wahr, weil sie nur äußerst selten die angenehme Kühle der Klosterräume verlassen. Doch wenn der Wind aus dem Süden kommt und sich die heiße Luft aus dem Afrikanischen mit der Feuchtigkeit des Meeres anreichert: Dann leiden sie alle. Sogar der alte Nuccio, der einen großen Teil seiner Zeit damit verbringt, die Gegend zu durchwandern, ist dann tagelang nicht zu sehen. An diesen Tagen ist es am besten, es ihm gleichzutun: sich in einem abgedunkelten Raum einzuschließen und Bewegung auf das absolute Minimum zu beschränken. Der Scirocco, das ist allgemein bekannt, bläst einem nämlich den Saharasand direkt in die Gehirnwindungen, und dann reibt und knirscht es wochenlang im Kopf. Auch die Wirtin Graziella warnt Jakob eindringlich: Geh nicht hinaus, der Wind macht dich verrückt! Was uns zeigt, dass sie ihn, obwohl er nun im Kloster arbeitet, nicht zu den ragazzi pazzi zählt, ihn also noch nicht gänzlich aufgegeben hat.
An den Tagen, an denen normale Sommertemperaturen herrschen, zieht es die meisten Klosterbewohner in die Natur hinaus. Manche machen sich allein oder zu zweit auf den Weg, oft aber bilden sich Grüppchen & Gruppen für einen Ausflug in die nähere oder weitere Umgebung. Oft sind es der Täufer und seine Frau Seismo, die dabei die Ziele ausfindig machen, und fünf oder vielleicht auch zehn Mitschwestern & -brüder folgen ihren Spuren.
Da gibt es eine hübsche, ruhige Meeresbucht unweit von San Lorenzo Marittima. Es gibt hoch gelegene Bergdörfer, die tolle An- & Aussichten bieten. Wir haben ein paar schattige Wälder und kühle Schluchten zu bieten, die des...
Erscheint lt. Verlag | 5.3.2025 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Dorf • Finanzelite • Hacker • Hacking • Humor • Italien • KI • Kloster • Künstliche Intelligenz • Spannung • Thinktank |
ISBN-10 | 3-218-01451-4 / 3218014514 |
ISBN-13 | 978-3-218-01451-9 / 9783218014519 |
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